Rezensions-Blog 424: India Place: Wilde Träume

Posted Oktober 4th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

manchmal ist es verblüffend, wie völlig irreführend sowohl eng­lische wie deutsche Betitelung von Romanen sind … und wie sehr die Geschichten dann doch dessen ungeachtet Spaß ma­chen, wenn man sich darauf einlässt. Das Leseabenteuer, das mich hier im vierten Band der Edinburgh Love Stories erwartete, konnte ich nur sehr bedingt vorher ahnen. Und ich muss zuge­ben, das machte einen nicht geringen Teil des Reizes aus.

Naturgemäß handelt es sich um einen romantischen Liebesro­man, der – wenn man Samantha Young schon besser kennt – quasi notwendig mit einem Happy End ausgeht. Aber der Weg dorthin ist wirklich interessant. Dabei bekommt man Dinge zu Gesicht, mit denen man nicht rechnet. Personen, die eigentlich schon vertraut waren, erscheinen in einem völlig verwandelten Licht, und Handlungsrätsel klären sich auf überraschende Weise auf.

Blendet einfach sowohl den deutschen wie den englischen Titel aus, so schön er auch gewählt sein mag. Genau genommen ist er eine Verlegenheitslösung, sowohl von Seiten der Autorin wie des deutschen Verlages. Wer sich davon mal freimacht, stößt auf einen faszinierend facettenreichen Roman, der sich zentral um solche Themen wie soziale Verantwortung dreht und Enga­gement für Randgruppen.

Neugierig geworden? Dann schaut mal weiter, was ich damals zu diesem Buch geschrieben habe:

India Place: Wilde Träume

(OT: Fall From India Place)

von Samantha Young

Ullstein 28692

384 Seiten, TB

Oktober 2014, 9.99 Euro

Aus dem Englischen von Sibylle Uplegger

ISBN 978-3-548-28692-1

Wem der Name Hannah Nichols – die weibliche Hauptperson dieses Romans – ebenso vertraut vorkommt wie Marco D’Ales­sandro, der gehört ganz offensichtlich zu den Stammlesern und Stammleserinnen dieses Romanzyklus, der unter der großen Überschrift „Edinburgh Love Stories“ läuft. Der Name ist Pro­gramm, denn nahezu alles spielt in und um Edinburgh, auch wenn die Biografien der Personen gern anderswo angefangen haben, etwa in den Vereinigten Staaten, wie das hier am Fall Marco dargestellt wird.

Hannah ist die pfiffige und neunmalkluge, ziemlich furchtlose kleine Schwester von Ellie Nichols, mit deren so gar nicht ro­mantisch veranlagter neuer Mitmieterin Jocelyn Butler (Joss) einst vor ein paar Jahren alles begann.1 Hannah war schon vor ein paar Romanen sehr in den etwas älteren Marco verschos­sen, einen höheren Mitschüler an derselben Schule, auf die auch sie ging. Und es gab, das bekam man als Leser auch mit, immer wieder gewisse Schwierigkeiten im Umgang mit Marco, die aber nie so richtig thematisiert wurden. Notwendig behielt man Hannah irgendwie als Teenager von 14, 15 Jahren im Kopf.

Nun, diese Vorstellung sollte man abschütteln. Samantha Young lässt in ihren Romanen ordentlich Zeit verstreichen. Hannah ist inzwischen 22 Jahre alt und bereitet sich an einer Schule darauf vor, ernsthaft die Lehrerinnenlaufbahn einzuschlagen. Marco D’Alessandro ist schon längst kein Thema mehr, aber auch sonst kein anderer Mann weit und breit. Sie gibt einfach jedem einen Korb, obwohl sie durchaus nicht unattraktiv geworden ist. Und ihren Geschwistern und engen Freunden gegenüber macht sie seit fünf Jahren auch konsequent „dicht“. Sie können zwar vermuten, dass mit Marco, ihrem großen Schwarm, damals schrecklich etwas schief gegangen ist, aber was genau, ist ein Geheimnis, das Hannah tief in ihrem Herzen vergraben hat.

Als sie alte Sachen von sich von daheim abholt und in ihre neue Bleibe transportiert, fallen ihr die alten Tagebücher von einst in die Hände und darin ein Schnappschuss, den sie von sich und Marco gemacht hat – woraufhin die verdrängte Vergangenheit zu unschönem und gefährlichem Eigenleben erwacht. Auf diese Weise, durch intensive und schön gestaltete Flashbacks, über­brückt die Autorin geschickt die ausgeblendete Handlungszeit und vertieft sich in die Biografien der beiden Hauptakteure.

Der beiden?

Ja, denn kurz darauf taucht Marco wieder leibhaftig in Edinburgh auf – und er meint, Hannah dringend erklären zu müssen, war­um er vor fünf Jahren so fluchtartig aus England verschwunden ist.

Hannah will nichts davon hören.

Er beginnt sie hartnäckig zu stalken und denkt nicht daran, sich einfach so abwimmeln zu lassen. Er taucht an ihrer Schule auf. Erscheint in ihrem Lesezirkel. Meldet sich in dem Fitnessclub an, in dem sie trainiert.

Hannah schaltet immer noch auf stur. Sie ist nach wie vor töd­lich verletzt – aber Marco schleicht sich immer stärker in ihre Gedanken, und während der Leser sehr rasch ahnt, warum im Detail Hannah so verletzt ist (ohne die expliziten Details zu ken­nen), tappen alle anderen, aus den drei vorherigen Romanen der „Edinburgh Love Stories“ vertrauten Handlungspersonen weiterhin im Dunkeln. Und natürlich kommen sie zu verkehrten Schlüssen.

Außerdem gibt es Personen, die Hannah aus falschen Motiven heraus mit Informationen versorgen – oder abwechslungsweise Marco. Was notwendig zu noch mehr Frustration bei Hannah sorgt.

Sturheit ist ein schwieriger und sperriger Charakterzug, der den Mädchen in Edinburgh (ob einheimisch oder zugewandert) of­fenbar eigen ist. Und er blockiert die Aussprache nahezu un­möglich lange. Doch selbst als sie dann stattfindet und eine ge­wisse Normalisierung eintritt, kann nicht die Rede davon sein, dass nun eitel Sonnenschein ist. Schließlich verbergen beide Liebenden Geheimnisse voreinander (und selbst wenn heutzuta­ge gelegentlich behauptet wird, Geheimnisse seien gut für eine langfristige Beziehung, demonstriert Samantha Young dagegen, dass sie eher eine Art zerstörerischer Säure darstellen, imstan­de, eine Beziehung wirkungsvoll und restlos auszulöschen). Und zwei davon bringen dann fast alles zum Scheitern …

Natürlich, wir haben es mit Samantha Young zu tun. Es handelt sich um einen expliziten Liebesroman, und da ist es schlicht ein konstitutives Handlungselement, dass die Liebenden schluss­endlich zusammenkommen und ihre Differenzen beilegen. Was hier natürlich auch geschieht.

Schön und erweiternd im Abgleich zu den ersten drei Romanen fand ich, wie sich die Persönlichkeit von Hannah Nichols entwi­ckelte und wie glaubwürdig die junge Lehrerin geschildert wur­de, die von sich selbst schlussendlich sagte, sie sei jetzt defini­tiv nicht mehr diese furchtlose Person von einst. Auf diese Wei­se gelang es der Autorin, die gewachsene Gestalt von Hannah plausibel in einem ausgeweiteten Lebensstrom als autonomes Individuum zu platzieren. Und durch den komplizierten Back­ground Marcos vermochte sie dann auch, seinem Wesen Kontu­ren zu verleihen, die ihn als sympathische Gestalt im Geist des Lesers verankerten.

Natürlich ahnt man als Leser, wie erwähnt, schon vieles von der Natur der Schwierigkeiten, die Hannah mit Marco hat, und der viel zu verräterische Klappentext enthüllt nahezu alles. Sei’s drum … ich habe mehr als die Hälfte des Buches am dritten Tag verschlungen und konnte einfach nicht mehr auftauchen, weil es so einen wahnsinnigen Spaß machte, den Handlungsperso­nen zu folgen. Wobei ich auch sagen muss, gegen Ende waren es gar nicht mal Hannah und Marco, die die wirklich wilden Din­ge sagten … es waren die Kleinkinder, echt. Da musste ich an manchen Stellen wirklich heftig lachen, weil zutage kam, wie gut sich Samantha Young mit kleinen Kindern auskennt – und damit, dass sich diese beispielsweise immer die falschen Worte merken und sie in Situationen zur Anwendung bringen, die ihre Eltern total blamieren. Well, davon kann ich mit meinen Nichten und Neffen aus den vergangenen Jahren auch einige Lieder sin­gen.

Großes Emotionskino, das ist dieser Roman, wie ich fand. Und man kann sich an Hannah Nichols und ihre idealistische Sicht der Welt gewöhnen – wenngleich die seit der Krise mit Marco vor fünf Jahren doch arge Risse erhalten hat. Ihr Engagement für Problemkinder an der Schule oder auch in diesem Alphabeti­sierungskurs stellen tolle Passagen dar, die in diesen Bereichen der Geschichte entstehen und die das Bild einer sehr warmher­zigen, mitfühlenden und zuverlässigen Seele erbauen helfen. Ungeachtet der Transparenz der Geschichtenstruktur hat sie mir ausgezeichnet gefallen und mich bestens unterhalten.

Wer Samantha Young ohnehin schon aus den Vorromanen mag, dem brauche ich das nicht zu erzählen. Wer sie noch nicht kennt, hat hier eine neue Möglichkeit, sich in ihre Welt einzufüh­len. Und vergesst den englischen und den deutschen Titel – die Location India Place spielt genau ein einziges Mal eine Rolle.

Eindeutige Leseempfehlung für romantische Seelen.

© 2019 by Uwe Lammers

Doch, das lohnt sich sehr. Und in der kommenden Woche stelle ich euch ein kleines, intelligentes Büchlein einer Autorin vor, die ich im vergangenen Jahr zu meinem Brieffreundeskreis hinzufü­gen konnte. Das solltet ihr nicht versäumen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. dazu Samantha Young: Dublin Street – Gefährliche Sehnsucht. Siehe auch den Re­zensions-Blog 412 vom 12. Juli 2023.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>