Rezensions-Blog 437: Ein Fall von Glück

Posted Januar 2nd, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

der Titel ist, wenn man das Thema des Buches erst mal begreift, zu Beginn durchaus ein Mysterium. Denn wie kann man, vor­sichtig gesprochen, einen Schlaganfall, der einen autonomen, stolzen und selbstbewussten Mann von einem Moment zum nächsten in ein mehr oder minder hilfloses, bedürftiges Wesen verwandelt, als Glücksfall bezeichnen?

Dem Hollywood-Schauspieler Kirk Douglas, der hier von seiner diesbezüglichen Erfahrung spricht, widerfährt aber exakt dies. Und ja, zu Beginn ist das alles für ihn verstörend, die ganze Welt scheint sich jählings komplett zu wandeln, auf eine durchweg bestürzende Weise … aber nach einer Weile erkennt er durch­aus Licht am Ende des Tunnels. Und er kämpft sich zurück in die Selbstbestimmtheit und gewinnt durch diesen Schicksalsschlag einen völlig neuen Blick auf das Leben.

Manchmal, hat man beim Lesen dieses Mut machenden Buches das Gefühl, ist es vielleicht tatsächlich so, dass man im Leben eine Vollbremsung benötigt, um den wahren Wert des Daseins wieder zu entdecken.

Dies hier ist also kein Jammerbuch eines durch das Schicksal Abgehängten, es ist ausdrücklich ein Mutbuch – und ein sehr le­senswertes dazu.

Lest unbedingt weiter:

Ein Fall von Glück

(OT: My Stroke of Luck)

von Kirk Douglas

Bastei 61539

Oktober 2003, 7.90 Euro

Aus dem Amerikanischen von Wolfdietrich Müller

ISBN 3-404-61539-5

Manchmal kommt das Glück ganz unverhofft, und gelegentlich sogar in Form von Katastrophen, die die Betroffenen an allem zweifeln lassen, an Gerechtigkeit, an Gott, schlicht an allem.

So ging es dem Urgestein Kirk Douglas, jenem Schauspieler, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg seine Karriere am Theater und später im Film begann. Im Jahre 1996 änderte sich sein Le­ben auf eine radikale Weise, die er sich früher nie hätte träu­men lassen, und das geschah so:

Ich fühlte mich recht gut nach meiner Rückenoperation, hatte Lust, mich zum Golfen zu verabreden, und träumte von einem langen Treibschlag am vierten Loch. Plötzlich hatte ich ein komi­sches Gefühl in der rechten Wange.

Es war, als hätte ein spitzer Gegenstand einen Strich von der Schläfe gezogen, auf meiner Wange einen Halbkreis beschrie­ben und dann innegehalten. Ich spürte keinen Schmerz, aber als ich es Rose, meiner Maniküre, zu schildern versuchte, konn­te ich nicht sprechen. Es kam nur Quatsch heraus. Was war mit mir los?“

Nun, was er hier beschreibt, ist seine ganz persönliche Erfah­rung mit einem Schlaganfall, zu seinem Glück nur einem sehr leichten – dennoch: seine Stimme ist nahezu verschwunden, er ist von einem Moment zum nächsten vom Star zu einem Krüp­pel degradiert, dessen Karriere sich buchstäblich in Luft auflöst.

Das Schlimme daran ist, dass er zwar noch vernünftig denken kann, aber unfähig ist, sich zu artikulieren. Und der eigentlich steinalte Schauspieler findet es ungerecht, dass es gerade ihn getroffen hat. Um seine eigenen Worte zu verwenden: „Schlag­anfälle sind etwas für ältere Leute, die undeutlich sprechen und sich mit Gehhilfen oder Rollstühlen fortbewegen. Ich war erst 80 – wie könnte ich zu einem Schlaganfall kommen? Heißt das, dass es morgen nichts wird mit dem Golfplatz …?“

In dem Moment, in dem er realisiert, was geschehen ist – und wie viel Glück er gehabt hat – , da schlägt eine unerbittliche Woge aus Selbstmitleid und Verzweiflung, ja, Depression über ihm zusammen. Bringt ihn, den „tough guy“ aus zahllosen Fil­men, dazu, sich stundenlang in sein Schlafzimmer zurückzuzie­hen und ohne Unterlass zu weinen. Dieses … dieses Dasein, sagt er sich, das er jetzt zu führen gezwungen ist … ist das noch lebenswert? Wäre es nicht besser, tot zu sein?

Er entsinnt sich seiner 1958 gestorbenen Mutter, deren letzte Worte an ihn gerichtet waren und die ihm Mut machen sollten: „Hab keine Angst, das geschieht mit uns allen.“ Er denkt an all die Vorfälle, bei denen er dem Tod von der Schippe gesprungen ist, begonnen im Alter von fünf Jahren, wo er beinahe in einem Wassergraben ertrinkt, bis zu einem Hubschrauberabsturz im Jahre 1991.

Und später, als er sich mühsam berappelt und mit Hilfe einer Sprachtherapeutin beginnt, sich wieder ins Leben zurückzube­geben, entdeckt er auch die zahllosen tragischen Vorfälle in Kreis seiner Filmgefährten. Und er sieht beklommen, wie er­schreckend häufig Schlaganfälle und ihre Folgen sind: „Jede Mi­nute bekommt eine Person in den Vereinigten Staaten einen Schlaganfall. Das sind Jahr für Jahr mehr als 700.000 Menschen. Während Sie diese Seite lesen, bekommen zwei weitere Perso­nen einen Schlaganfall …“

Während seine Genesung quälend langsam Fortschritte macht, begreift Douglas ganz allmählich – es ist ein Prozess, der sich über mehrere Jahre hinzieht – , wie egoistisch er bisher durch sein Leben gehastet ist, wie wenig er auf die Bedürfnisse seiner Freunde eingegangen ist und wie leicht es für ihn war, Men­schen jahrzehntelang aus dem Blickfeld zu verlieren. Er entwickelt ein Gespür für das Leiden anderer, und er beschließt, etwas dagegen zu tun.

Zusammen mit seiner Frau Anne begründet er ein Heim für alz­heimerkranke Schauspieler. Er engagiert sich für Kinder, seine Frau hilft dabei, Spielplätze in Innenstädten sowie Schulhöfe zu sanieren. Und als Kirk Douglas erst einmal wieder imstande ist, halbwegs verständlich zu sprechen, macht er auf eigene Kosten zahlreiche Reisen, um Vorträge über das Thema Schlaganfall zu halten und dafür zu sorgen, dass diese Menschen in der Öffent­lichkeit mehr Gehör finden.

Schließlich geht er, nachdem er zahllose Briefe erhalten hat, dazu über, einen Leitfaden zu schreiben, mit dem er verhindern möchte, dass Schlaganfallpatienten in dumpfem Selbstmitleid und ihren Depressionen ersticken, wie es ihm selbst beinahe ge­gangen ist. Der Leitfaden, ein außerordentlich lesenswertes Do­kument der Humanität, befindet sich in diesem Buch.

Während Kirk Douglas (sein bürgerlicher Name ist Issur Danielo­vitch, er ist Sohn jüdisch-russischer Einwanderer und 1916 in New York geboren) seine Depressionen überwindet und von sei­nen Schlaganfall-Erfahrungen schreibt, fließt in dieses Buch auch vieles andere ein, das man eher in einer Biografie erwar­ten würde. Er erzählt von seinen Eltern, insbesondere von sei­ner Mutter, von seinen Erlebnissen beim Film, vom Schicksal vieler Freunde und Bekannter.

Und natürlich, ganz wichtig – Punkt 3 seines sechs Punkte um­fassenden Leitfadens – , er verliert nie seinen Sinn für Humor. Das ist an manchen Stellen so heftig ausgeprägt, dass man schallend lachen muss. Und das bei einem Buch, das eigentlich ein recht erschreckendes, trauriges Thema behandelt. Ich gebe nur eine Stelle wieder, die ich sehr prägnant fand. Douglas ist in Berlin zu Gast, um den Goldenen Bären in Empfang zu nehmen. Er schreibt: „Die Übergabe ging auf Englisch vonstatten. Ich machte jedoch Eindruck, als ich meine Dankesrede auf Deutsch hielt. Ich glaube, die deutsche Sprache klingt mit einem Schlag­anfall besser …“

Und schließlich, im Jahre 1999, schafft er es sogar, wieder einen Film („Diamonds“) zu drehen, diesmal über einen von einem Schlaganfall genesenden Boxer. Naheliegend, dass es keine bessere Besetzung geben konnte.

Insgesamt ist Kirk Douglas´ Buch – er bezeichnet den Schlagan­fall sogar im Buch und im Titel als Glücksfall für sich! – ein ein­drucksvolles Plädoyer für die Fähigkeit des Menschen, mit Schicksalsschlägen fertigzuwerden und zu lernen, dass auch ein Leben als solcherart „reduzierter“ Mensch lebenswert sein kann, ja, vielleicht sogar manchmal lebenswerter als zuvor, weil man nun die feineren Nuancen wahrzunehmen versteht, die dem Ge­sunden meist entgehen.

Ich wünsche diesem Buch viele Leser unter all jenen, die an ihrem Leben verzweifeln und nach Trost und Mut suchen. Dieses Buch gibt euch Kraft.

© 2005/2020 by Uwe Lammers

Und wie ich euch das letztens schon in einer Fußnote verspro­chen habe, beginnt in der kommenden Woche die Erstveröffent­lichung meiner Rezensionen zu einem wirklich goldigen Roman­tikzyklus, den ich in einem geradezu abenteuerlichen Tempo heißhungrig verschlungen habe. Ich könnte mir gut denken, dass euch das ähnlich geht, wenn ihr dafür einen Nerv besitzt.

Lasst euch mal überraschen, worum es genau geht.

Bis nächste Woche, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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