Liebe Freunde des OSM,
mit diesem Roman kehrte der Altmeister Arthur C. Clarke in den Kosmos der Ramaner zurück. Man darf mit Fug und Recht annehmen, dass bis auf die schieren Grundideen die gesamte Ausführung in den Händen des Coautors Gentry Lee gelegen hat. Das ist ein ähnliches Phänomen, wie es heutzutage – und auch schon vor dessen Ableben – mit den Subserien des Bestsellerautors Clive Cussler der Fall ist. Das Rezept war also schon in den 90er Jahren durchaus wirkungsvoll, wenn auch noch nicht so verbreitet.
Sieht man einmal von der Frage der originären Autorenschaft ab und lässt sich einfach auf das Abenteuer der zweiten Kontaktgeschichte mit einem ramanischen Raumschiff ein, dann steht demjenigen, der diese Geschichten noch nicht kennt, eine absolut spannende, packende Geschichte bevor, die den doch relativ nüchternen, schlichten (wiewohl faszinierenden) Erstkontakt aus dem ersten Roman deutlich und sehr komplex ausbaut.
Jenseits der psychologisch geschickt gezeichneten komplizierten Protagonisten und der leider recht plausibel dargestellten weltpolitischen Großwetterlage erfahren die Leute, die in den 70er Jahren noch händeringend mehr über die geheimnisvolle zylindrische Kunstwelt Rama erfahren wollen, außerordentlich mehr über sie. Und der Cliff-hanger am Schluss zeigt überdeutlich, dass das noch sehr viel weitreichender ist, als man sich das zu Beginn vorstellt.
Wer glaubt, hier nur einer plumpen Wiederholung des Erstlings „Rendezvous with Rama“ beizuwohnen, sollte sich gut anschnallen – das hier ist etwas vollkommen anderes, im sehr positiven Sinn.
Auf ins Abenteuer:
Rendezvous mit Übermorgen
(OT: Rama II)
von Arthur C. Clarke und Gentry Lee
Heyne 8187
558 Seiten, TB
München 1991
Übersetzt von Roland Fleissner
ISBN 3-453-04590-4
Rund siebzig Jahre lang hat die Menschheit über dem Rätsel des außerirdischen Raumschiffs Rama gebrütet, das im Jahre 2130 das Sonnensystem durchquerte und in die Tiefen des Kosmos wieder verschwand, offenbar, ohne die Menschen, die es mit dem Raumschiff ENDEAVOUR besuchten, auch nur zu registrieren.
Es war klar, dass dieser eigentlich nicht direkt stattgefundene Erstkontakt die Menschheit und die kollektive Psyche erschütterte. Eine außerdem eingetretene katastrophale weltwirtschaftliche Rezession mit Aufständen sowie Putschen, die letztlich Millionen von Toten zur Folge hatten und in einem Erstarken fundamentalistischer Kräfte sowie messianischer Bewegungen gipfelten, haben die Menschheit weiter zum Negativen hin beeinflusst. Am Schluss kam es gar zu einem nuklearen Attentat auf den charismatischen christlichen Prediger Michael von Siena, die dazu führten, dass das terrestrische Kolonialreich völlig in sich zusammenbrach und insbesondere alle Anstrengungen bezüglich der Raumfahrt stagnierten.
Als Astronomen im Jahre 2197 feststellen, dass sich erneut etwas aus den Tiefen der Galaxis dem solaren System nähert, ist man deshalb auf diesen Kontakt nicht vorbereitet. Aber in aller Eile wird eine Expedition von zwei Raumschiffen organisiert, einem wissenschaftlichen und einem militärischen, die kurz nach Neujahr 2200 ein Rendezvous mit dem fremden Raumschiff herstellen sollen. Es erweist sich als baugleich mit Rama I. Auch dieses Schiff ist ein gewaltiger Zylinder mit 16 Kilometern Weite und 60 Kilometern Länge.
Der Kontakt findet planmäßig statt und wird von einer eigenen Berichterstatterin an Bord (Francesca Sabatini) umfassend dokumentiert. Das Innere des Rama-Raumschiffes scheint vollkommen baugleich zu sein mit dem ersten Rama-Schiff. Doch das ist nicht das eigentliche Problem.
Das Hauptproblem liegt vielmehr in der psychologischen Dimension der Besatzung der so genannten Newton-Mission.
Da ist der tief religiöse General Michael O’Toole, der von dem heiligen Michael von Siena fasziniert ist; da ist die Bordärztin und Biologin Nicole des Jardins, eine Halbafrikanerin, die allein erziehende Mutter einer fünfzehnjährigen Tochter und zudem einstige Olympionikin ist. Den Vater kennt niemand, aber Nicole hat gute Gründe dafür, ihn zu verheimlichen. Weiter findet man den genialen Rama-Forscher Takagishi, dessen höchstes Ziel es ist, einmal ein Rama-Raumschiff zu erforschen, trotz eines geringfügigen Herzfehlers, der ihn eigentlich aus der Aspirantenliste ausgesondert hätte – doch er hat die Liste manipuliert, um zum Ziel zu gelangen.
Außerdem findet sich an Bord der Mission Richard Wakefield, ein absolut genialer Mathematiker und Computerspezialist und Shakespeare-Narr, der furchtbare Komplexe hat, was Frauen angeht. Und dann wäre da noch David Brown, fachlich höchst kompetent, aber zwischenmenschlich ein arrogantes Ekel, der nur auf seine eigene Karriere aus zu sein scheint. Ähnliches trifft auf Francesca Sabatini zu, die vor nichts zurückschreckt, um ihren eigenen Vorteil zu haben, selbst nicht vor Einsatz des eigenen Körpers im Bett und Drogen, die sie den Crewmitgliedern verabreicht.
Das alles wird dann zum Problem, als sich das Rama-Raumschiff gar nicht so verhält, wie man es von Rama I gewohnt war. Es vollführt Manöver, die nicht vorhersehbar sind (und tötet damit, wohl unabsichtlich, den Kommandanten der Mission). Die Lichter im Innern gehen verfrüht an, Bioten, als Kunstwesen der Ramaner, erscheinen in Gruppen statt vereinzelt. Als die Newton-Crew versucht, einen der Bioten aufzusammeln und einzufangen, wird ein Crewmitglied von einem Bioten in Stücke geschnitten und dies live zur Erde übertragen.
Das alles ist schon schlimm genug, doch dann verschwindet auch noch Dr. Takagishi. Nicole, die sich besonders für ihn verantwortlich fühlt, begibt sich nach „New York“, der Stadt im noch immer gefrorenen Zylindermeer Ramas, um ihn hier zu suchen. Dabei erleidet sie jedoch einen Unfall und gilt seither ebenfalls als verschollen.
Unterdessen gerät die öffentliche Meinung außer Kontrolle, weil bekannt wird, dass der neue Kurs von Rama II direkt auf die Erde zielt. Xenophobe Terraner fordern daraufhin vehement, dass Rama II mit den geheim an Bord der NEWTON mitgeführten Nuklearwaffen zerstört werden soll, und zwar ganz egal, ob die Verschollenen noch am Leben sind oder nicht …
Die letzten 200 Seiten des Romans handeln überwiegend vom Schicksal Nicoles in Rama II und von denjenigen, die ihr letztlich doch noch zu Hilfe kommen. Erschreckenderweise müssen sie feststellen, dass Rama II offenbar keinen Schutz gegen Nuklearwaffen besitzt. Und die Erde hat bereits einen ganzen Schwarm von Nuklearwaffen abgefeuert, um auf „Nummer Sicher“ zu gehen. Eine Flucht von Rama II ist offensichtlich ausgeschlossen, daher beginnt für die Eingeschlossenen nun ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit …
Als ich „Rama II“ das erste Mal 1991 las, war ich fassungslos. Fassungslos über den Einfallsreichtum des Autorenduos, fassungslos über die Borniertheit der Entscheidung, Rama II zu zerstören, und erst recht fassungslos, was das Ende des Romans anging, denn im Nachwort sagte Clarke, dass nach Rama II noch zwei weitere Romane folgen würden, nämlich „The Garden of Rama“ und „Rama Revealed“.
Unglaublich faszinierend war jedoch die Tatsache, dass die Mitarbeit von Gentry Lee den Charakteren des Roman außergewöhnliche Plastizität verlieh, besonders der sehr starken Persönlichkeit von Nicole des Jardins. Das allein macht den Roman schon sehr lesenswert. Und natürlich alles das, was über den ersten Band hinausgeht.
Sinngemäß wird von Nicole an einer Stelle gesagt, die alte Expedition von Commander Norton (siehe „Rendezvous mit 31/439“/„Rendezvous with Rama“)1 habe lediglich an der Oberfläche des ramanischen Geheimnisses gekratzt. Nach Lektüre des viel umfangreicheren Bandes Rama II muss ich hinzufügen: Auch der zweite Rama-Roman hat nur an der Oberfläche gekratzt, denn viele Geheimnisse bleiben einfach offen. Wer die Peranodonten sind, beispielsweise. Oder welche Rolle die Oktarachniden spielen, auf die sie treffen. Und natürlich, wer die Ramaner sind und warum sie Raumschiffe aussenden, die im 70-Jahre-Abstand die Erde erreichen.
Der dritte Band, „Die nächste Begegnung“, erschien im Juli 1992, also ein gutes Jahr nach dem Band Rama II. Das war noch zu verkraften. Doch der Abschlussband, „Nodus“, kam dann erst Ende 1995 heraus! Und da war mir der zeitliche Abstand definitiv zu groß, als dass ich ihn separat gelesen hätte. Also lese ich heute alle Bände noch einmal, dieses Mal mit ganz anderen Augen als vor vielen Jahren, und es ist wirklich ein beeindruckendes Erlebnis, zu sehen, wie sich die Geschichte allmählich gleich einer Blüte entfaltet und schließlich im noch verborgenen vierten Band ihren höchsten Stand erreicht. Da lasse ich mich mal überraschen.
Auf jeden Fall ist der Rama-Zyklus voll und ganz lesenswert. Selbst wenn die Titelbilder manchmal wirklich völlig abwegig sind und keinen Inhaltsbezug besitzen und die Titel selbst reine Verlegenheitslösungen zu sein scheinen (abgesehen vom Titel des Abschlussbandes, für den der Verlag wohl keine Alternative mehr fand). Ich vermutete immer, dass bis zur aktuellen Neuauflage des ersten Bandes des Zyklus die Margarinen-Industrie ihr Veto eingelegt hat („Rama“). Aber Rama scheint heutzutage auf die Buchbranche keinen Einfluss mehr auszuüben …
© 1998 / 2023 by Uwe Lammers
So, ihr könnt wieder durchatmen, Freunde (und bei Bedarf den Roman gleich antiquarisch bestellen, wenn er noch nicht in eurem Bücherregal steht – es lohnt sich auf alle Fälle, diese Lektüreerfahrung nachzuholen!). In der kommenden Woche wird es wieder ein wenig entspannter.
Wir begeben uns auf die hohe See und versuchen da mal, ein historisches Rätsel der Seefahrt zu lösen, das zu allerlei Schauermärchen Anlass geboten hat.
Wovon ich rede? Nun, schaut einfach in sieben Tagen wieder rein, dann erfahrt ihr Näheres.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.
1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 507 vom 7. Mai 2025.