Liebe Freunde des OSM,
vor vier Wochen musste ich euch bei einem ziemlich üblen Cliff-hanger im Stich lassen, denn der dritte Teil dieses Romanzyklus, den Gentry Lee nach den Vorgaben von SF-Altmeister Arthur C. Clarke vollendet hat, war eindeutig zu lang ausgefallen, um ihn in einem Stück fertigstellen zu können … jedenfalls sah das 1996 noch so aus. Heutzutage basteln ja Autoren aus noch viel weniger Worten teure Viel-Roman-Zyklen, die einstmals noch in solch ein Werk gepasst hätten.
Nun, es machte gleichwohl Sinn, den langen Schlussakkord des Rama-Zyklus auf einen separaten vierten Band zu verschieben, der mit einigem Abstand zum Vorgängerroman herauskam. Als ich das Buch 1998 dann endlich las, hatte ich sicherheitshalber noch einmal im Vorhinein den vorherigen dreibändigen Zyklus inhaliert, was auch gut so war.
So konnte ich also nahtlos anschließen und das Drama in dem Zylinder-Raumschiff RAMA III, die sich in der menschlichen Kolonie New Eden und dann am Bestimmungsort des Schiffes abspielte, besser würdigen.
Starten wir mal durch ins Abenteuer mit einem kleinen Rückblick auf das, was zuletzt in Band 3 passierte (Rezensions-Blog 515 vom 2. Juli 2025):
Nodus
(OT: Rama Revealed)
von Arthur C. Clarke und Gentry Lee
Heyne 9724
672 Seiten, TB
München 1996
Übersetzt von Roland Fleissner
ISBN 3-453-09247-3
Die menschliche Kolonie „New Eden“ im Innern des gigantischen Hohlzylinders, den man RAMA nennt, ist im Jahre 2245 von zweitausend Siedlern bevölkert worden, um den „Ramanern“ zu gehorchen, die eine „signifikante Bevölkerungsprobe“ untersuchen wollen. Doch schon nach wenigen Jahren des Fluges in Richtung Tau Ceti greift der verbrecherische Japaner Nakamura nach der Macht und schwingt sich zum Herrscher dort auf. Er schaltet die meisten Oppositionellen blutig aus oder wirft sie in Straflager und Gefängnisse. Letzteres widerfährt auch der Galionsfigur der Ramaner, Nicole des Jardins-Wakefield, die als erstes in den legendären NODUS nahe dem Sirius gelangte und an das Gute in den Ramanern glaubt und an der Schlechtigkeit und dem Duckmäusertum der Kolonisten verzweifelt. Nach 2 Jahren Haft wird sie in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung, in der sie Richter Nakamura brillant blamiert, schuldig gesprochen am Verrat an der Kolonie (den in Wahrheit Nakamura begangen hat!) und zum Tode verurteilt. So endete der dritte Band des Zyklus, „Die nächste Begegnung“.
Ihrem Mann Richard Wakefield war unterdessen die Flucht ins Nachbarhabitat zu einer Symbiontengemeinschaft gelungen, zu der auch die so genannten „Avianer“ gehörten (bekannt aus „Rendezvous mit Übermorgen“ und „Die nächste Begegnung“). Diese Symbiontengemeinschaft sah in Wakefield ihren letzten Retter und schickte ihn schließlich mit Embryonen und Gewebeproben per U-Boot durch die Zylindrische See, damit er in der Inselstadt „New York“ die Brut aufziehen konnte.
Dies alles geschieht während Nicoles Haftzeit, und während dieser Zeit begehen die Kolonisten unter Nakamuras Terrorherrschaft einen Genozid an den Symbionten. Kurz danach gelingt es Richard, seine Frau zu befreien und nach „New York“ zu holen, wo alles noch so ist, wie sie das von ihrem jahrelangen Aufenthalt hier kannten. Hier in „New York“ hatte Nicole ihre fünf Kinder geboren, von das älteste, Simone, im NODUS zurückgeblieben war.
Während langer Erkundungen in der Unterwelt von „New York“ stellen sie verblüfft und verängstigt fest, dass es in der Tat, wie von ihnen vermutet, im Südzylinder RAMAS eine dritte intelligente Spezies gibt, nämlich die so genannten Oktoarachniden, die sie schon kennen- und fürchten gelernt haben. Diesmal scheinen die „Oktos“ aber friedfertiger zu sein.
Nicole und Richard schaffen es schließlich, ihre Familie mit einigen Freunden nach „New York“ zu holen, nur ihre Tochter Katie bleibt dem Nakamura-Regime treu und wird nicht informiert. Sie ist inzwischen „aufgestiegen“ und zur Leiterin von Nakamuras Bordellbetrieben geworden. Außerdem ist sie unrettbar der Drogensucht verfallen.
Als die Häscher des Despoten sich anschicken, „New York“ zu durchsuchen, das sie mit neu gebauten Hubschraubern und Booten erreicht haben, flüchten Nicole und ihre Freunde in die Tiefen des „Okto“-Baues unter „New York“. Und hier werden sie von den Oktos regelrecht eingemauert, bis ihnen lediglich ein Fluchtweg nach unten übrig bleibt, wo sie wissen, dass am Ende eines Dornenschachtes eine Art Untergrundbahn verläuft, der sie sich anvertrauen müssen.
Diese Bahn bringt sie direkt nach Süden, unter der Zylindrischen See hindurch in das Reich der Oktos. Nach geraumer Zeit, in der sie von den Oktos geschützt und verpflegt werden, erkennen sie eine Reihe verblüffender Tatsachen: erstens einmal sind die Oktos nicht stumm, wie sie glaubten, sondern sie kommunizieren auf komplizierte Weise per Farbsignalen. Zweitens kennen sie die Menschen offenbar sehr genau. Drittens sind sie wahre Meister der Biotechnik und ausgesprochen friedfertig. Und letztens kann Nicoles und Richards jüngste Tochter Ellie sich faszinierend gut in der Farbensprache unterhalten.
Das letztere Geheimnis sorgt für etwas Gänsehaut, als es gelöst wird. Es erweist sich, dass die Oktos aus RAMA II, die damals Richard für mehrere Jahre inhaftierten (siehe „Die nächste Begegnung“), in einigen Experimenten auch sein Genom veränderten mit dem langfristigen Ziel, die Kommunikation zwischen Menschen und Oktos einfacher zu machen. Ellie ist also gewissermaßen ein Hybride, ein Ergebnis eines gentechnischen Experiments – was natürlich besonders für ihren jetzigen Mann, den Arzt Robert Turner, eine unglaubliche Belastung darstellt …
Und dann, nachdem die Familie und ihre Freunde in die „Smaragdstadt“ der Oktos umgesiedelt sind, beginnt Nakamura mit einer Hasskampagne gegen die „finsteren Oktoarachniden“ und trägt den Kampf in den Südzylinder RAMAS, bis offener Krieg ausbricht, der von den Oktos mit verheerenden biologischen Kampfmitteln geführt wird. Wieder einmal scheinen Xenophobie und Paranoia der Menschen über vernünftige Verständigung zweier intelligenter Arten zu triumphieren.
Bis schließlich die Ramaner selbst einschreiten …
Der Roman „Nodus“ ist, wenn man den bisherigen Zyklus kennt, wirklich das, was man als das absolute Highlight sehen muss. Der Gipfel ist indes NICHT, wie es vielleicht erscheinen mag, der Konflikt zwischen den Menschen und den Oktoarachniden oder das Eingreifen der Ramaner, sondern das, was DANACH kommt. Dieses „Danach“ ist immerhin 160 Seiten lang, und es geschieht da eine Menge.
Streckenweise ist es so beklemmend, dass einem kalt wird, beispielsweise wenn man sich klarmacht, was genau das Staatswesen der faszinierenden Oktoarachniden eigentlich ist, oder wenn man sich später im NODUS bei Tau Ceti befindet und dort mit Problemen der biologischen Alterung und der Frage von Parallelität von menschengleichen Robotern/Bioten und menschlichen Originalen konfrontiert wird. Man wird überwältigt, wenn man das „Erkenntnismodul“ besucht und der Geschichte des „Adlers“ von den „Primärmonitoren“ lauscht. Und man wird wohl fast heulen, wenn man gewisse emotionale Komplexe der Geschichte tief verinnerlicht hat, weil man sensibel geworden ist und sich so sehr mit den Hauptpersonen angefreundet hat, dass man ohne sie kaum mehr leben mag.
Und diese schrecklich konsequente Nicole … eine bewundernswerte Persönlichkeit, grandios gezeichnet und mit soviel Liebe zum Detail, soviel Liebe auch zur inneren Wandlung gearbeitet (am Anfang von „Rendezvous mit Übermorgen“, also „Rama II“, ist sie rund 36 Jahre alt, am Ende von „Nodus“, d.h. „Rama Revealed“ ca. 90, genau kann man das wegen zweier Dilatationsflügen nicht sagen). Doch, man sollte sie kennen.
Besonders der letzte Band des vierteiligen RAMA-Zyklus (schade, dass er vorbei ist, seufz!) gibt einem nachdenklichen, grüblerischen und tiefsinnigen Leser soviel zu denken, so viele Denkanstöße, um in Philosophie, Kosmologie, Religion, „Sinn des Lebens“ und Gesellschaftstheorie weiterzudenken. So viele Anstöße zum Bereich Rassismus, Kriminalität, Gentechnik, Technikfolgenabschätzung, Psychologie usw., dass man wahrscheinlich tagelang nur über diesen Band diskutieren könnte, ohne auch nur an ein allgemein akzeptables Ende der Geschichte und der Gedankengänge zu kommen.
Wenn Clarke jemals ein wirklich grandioses Werk verfasst hat, gegen das selbst sein Odyssee-Zyklus, der wirklich gut ist, sich wie ein homöopathisches Mittel ausnimmt, dann ist es das hier. Vermutlich sollte man den schriftstellerischen Anteil von Gentry Lee dabei besonders hoch veranschlagen, da man ab Band 2 deutlich sieht, wie sehr die sozialen und gruppenpsychologischen Aspekte zunehmendes Gewicht gewonnen haben – diese gehen eindeutig nicht auf Arthur C. Clarke zurück, der hier lediglich die Grundstrukturen des Rama-Zyklus vorgegeben hat. Lee lernt man hier als sensiblen, psychologisch sehr versierten und auch dramaturgisch hervorragend geschulten Autor kennen und schätzen.
Ich bin der Meinung, dass jeder, der anspruchsvolle SF lesen möchte, der exzellente Charakterzeichnungen mag und so richtig mit den Personen mitleiden möchte, mit diesem Zyklus und insbesondere mit diesem Band bestens bedient ist. Es macht indes keinen Sinn, „Nodus“ losgelöst vom Rest des Ganzen zu lesen, weil alle Werke des Zyklus stark miteinander vernetzt sind und chronologisch aufeinander aufbauen.
Mein Lösungsvorschlag dafür ist ausgesprochen simpel: Einfach alle lesen! Es lohnt sich!
© 1998 / 2023 by Uwe Lammers
Ja, das ist wirklich ein echtes Schmankerl, das kann ich nicht anders nennen. Da habt ihr Phantastik-Fans was verpasst, wenn ihr diesen Zyklus nicht gelesen habt, denke ich.
In der kommenden Woche kommen wir zu einem bemerkenswerten Crossover der Literaturgeschichte. Sherlock Holmes trifft einen Hauptcharakter von Edgar Rice Burroughs. Wie sich das entwickelt und was ich davon gehalten habe, das erfahrt ihr in sieben Tagen an dieser Stelle.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.