Rezensions-Blog 119: Höllenflut

Posted Juli 5th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist bisweilen interessant, wie aktuell doch Romane mit vager politisch rele­vanter Ausrichtung sein können, selbst wenn sie schon rund 20 Jahre auf dem Buckel haben. Hier liegt wieder einer dieser Art vor. In dem Buch geht es – un­ter anderem – um Menschenschmuggel. Und das ist ja nun, seit die „Flücht­lingskrise“ in aller Munde ist und Tausende von armen Asylsuchenden elendig im Mittelmeer ertrinken, eine Branche, die einen traurigen Boom erlebt, man kann es nicht anders sagen. Die meisten politischen Amtsträger hingegen glän­zen durch Hilflosigkeit, Desinteresse oder ruppig-völkischen Nationalismus.

Es ist hinlänglich bekannt, dass nichts davon das Problem wirklich in den Griff bekommen kann – hier hilft nur beherztes Einschreiten an der Quelle der Schwierigkeiten selbst, und in dieser Hinsicht demonstriert der vorliegende Cli­ve Cussler-Roman das Prinzip auf gewohnt rabiate Weise, die nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen wird.

Doch es geht ja durchaus nicht nur hierum. Wir machen auch mal wieder Be­kanntschaft mit politischer Korruption in den Vereinigten Staaten, haben einmal mehr ein bemerkenswertes historisches Rätsel aufzuklären… und den Rest der Zeit schauen wir einfach Dirk Pitt und seinem Sidekick Albert Giordino dabei zu, wie sie wieder einem Schurken das Handwerk legen.

Wem genau, und wie kommt es dazu? Nun, seht selbst:

Höllenflut

(OT: Flood Tide)

von Clive Cussler

Blanvalet 35297

Aus dem Amerikanischen von Oswald Olms

608 Seiten, TB

ISBN 3-442-35297-5

Man schreibt das Jahr 1948, als der Machtkampf zwischen Mao-tse-tung und General Tschiang Kai-schek (es gibt diverse Schreibformen seines Namens, wie bei den meisten asiatischen Namen, diese wird im Buch verwendet) zugunsten der Kommunisten entschieden ist. Der General muss sich mit seinen verbliebe­nen Truppen nach Taiwan zurückziehen und ruft hier ein Nationalchina aus, das bis zur Gegenwart in unversöhnlichem Gegensatz zu dem kommunistischen Chi­na steht und diplomatisch von den USA unterstützt wird. Damit endet 1948 der Bürgerkrieg, und das sozialistische Experiment des Großen Vorsitzenden Mao beginnt… aber damit ist noch längst nicht alles verloren.

Kurz vor dem Machtverlust lässt Tschiang Kai-schek die Kulturschätze Chinas plündern und mit größter Heimlichkeit an Bord eines Schiffes bringen, der Prin­cess Dou Wan, die mit unbekanntem Ziel aufbricht. Die Funkgeräte sind un­brauchbar gemacht worden, damit niemand Verrat üben kann – doch das wird ihr zum Verhängnis, als das Schiff in einen verheerenden Sturm gerät und kurz vor ihrem Ziel in unbekannten Gewässern für immer in den Fluten der See ver­sinkt. Die Schätze Chinas scheinen für alle Zeiten verloren.

Blende in die Gegenwart des April 2000:

Der Direktor für Spezialprojekte der National Underwater and Marine Agency (NUMA), Dirk Pitt, ist gerade schwer angeschlagen aus einem vorherigen Abenteuer zurück in die Heimat gekommen, physisch fast am Ende und auch mental völlig ausgepowert.1 Er nimmt sich deshalb Urlaub und will ihn nur mit Angeln am Orion Lake, 90 Meilen vor Seattle, verbringen. Er hat nicht einmal seinem Chef, Admiral James Sandecker, Bescheid gegeben, wo man ihn finden kann. Er ist einfach seelisch schwer mitgenommen.

Doch der Orion Lake ist ein seltsames Gewässer. Abgesehen von der Hütte, die Pitt gemietet hat, ist der gesamte Rest des Sees in Privathand und schwer ge­sichert, obwohl es dafür keinen ersichtlichen Grund gibt. Eine ehemalige Fisch­fabrik hat der chinesische Reederei-Mogul Qin Shang zu einem bombastischen Urlaubssitz ausgebaut, der aber die meiste Zeit völlig ausgestorben daliegt. Als Pitt zudem entdeckt, dass man seine Hütte durchsucht und mit Mikrofonen und Kameras gespickt hat, erwacht sein Misstrauen, und er beschließt, dem seltsa­men Nachbarn in den Vorgarten zu spähen. Das tut er, indem er – ganz Meeres­forscher, der er ist – bei der NUMA kurzerhand einen kleinen Tauchroboter be­stellt und ihn auf den Seegrund nahe dem Anwesen schickt.

Auf das, was er entdeckt, ist er allerdings nicht vorbereitet: der Seegrund des Orion Lake ist bedeckt von menschlichen Leichen. Asiatische illegale Einwande­rer, gefesselt und beschwert und vom kalten Wasser des Sees perfekt konser­viert. Eindeutig Mordopfer, darunter Frauen und Kinder.

Wenig später kommt Pitt gerade noch zeitig, um eine weitere Mordaktion zu verhindern und eine Gruppe von Immigranten vor dem sicheren Tod zu retten. Unter ihnen befindet sich auch Julia Marie Lee, eine schöne Halbchinesin, die Undercover-Agentin der US-Einwanderungsbehörde ist. Damit beginnt etwas, was man einen persönlichen Rachefeldzug nennen kann. Pitt, den es ergrimmt, dass ein offensichtlicher Krimineller und Massenmörder, der freilich Multimillio­när ist und im offiziellen Auftrag der Volksrepublik China daran arbeitet, Ameri­ka mit Armeen von chinesischen Sklavenarbeitern zu überschwemmen, Behör­den unterwandert und bis zum Weißen Haus hinauf Politiker in großem Stil be­sticht und schmiert, so völlig unangreifbar zu sein scheint, nimmt sich vor, dem offensichtlichen Mistkerl das Handwerk zu legen.

Qin Shang seinerseits nimmt seinen Widersacher und die NUMA nicht ernst, auch wenn er einigermaßen erzürnt darüber ist, dass Pitt eine seiner schönen Yachten abgefackelt und ihm einige empfindliche Geschäftseinbußen beschert hat. Gleichwohl ist ihm das ziemlich egal – denn die Einwanderungsgeschichte ist eigentlich nicht die Hauptsache für ihn. Sein Hauptanliegen konzentriert sich auf einen pompösen, mit goldenen Pyramiden geschmückten Hafenterminal namens Sungari, den er mitten in das Delta des Mississippi gesetzt hat – aller­dings ohne jedwede Schienen- oder Straßenanbindung. Offensichtlich eine völ­lig nutzlose Milliardeninvestition, die überhaupt keinen Sinn ergibt.

Und wie passt dieser Mystic-Kanal hinein, ein von chinesischen Arbeitern zuwe­ge gebrachtes Kanalbauprojekt in unmittelbarer Nähe von Sungari, dreißig Kilo­meter lang? Angeblich hat Qin Shang den Aushub gebraucht, um die Funda­mente von Sungari zu legen, aber dafür hätte ein Kanal von drei Kilometern schon gereicht. Wozu noch 27 Kilometer weiter buddeln und das Ganze dann mit einer rostigen Kette für jedweden Verkehr zu sperren?

Die Einwanderungsbehörde, mit der Pitt bald zusammenarbeitet, ist überzeugt davon, dass der chinesische Tycoon auch Sungari als Umschlaghafen für illegale Immigranten nutzt. Aber ohne Verkehrswege? Was macht das für einen Sinn? Pitt fürchtet, dass auf dem Grund des Mystic-Kanals womöglich wie am Grund des Orion Lake Leichen zu finden sein könnten, aber eine Exkursion überzeugt ihn vom Gegenteil. Dennoch ist hier zweifellos etwas oberfaul, es ist nur nicht ersichtlich, was.

Und was ist mit dem einstigen Kreuzfahrtschiff UNITED STATES, das zur Ver­schrottung freigegeben wurde, aber von Qin Shang in Fernost generalüberholt wurde und sich nun auf den Weg nach Sungari macht? Ein Schmuggelschiff für Immigranten? Ein Transporter für Waffen oder Rauschgift? Nichts davon scheint zu stimmen.

Als den Beteiligten aufgeht, was für ein perfides Spiel Qin Shang tatsächlich treibt, bleiben nur noch Stunden, um eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes zu verhindern…

Ich hatte den Roman schon im Jahre 2005 gelesen und damals keinen Anlass gesehen, ihn zu rezensieren. Diesmal verschlang – muss man wirklich so sagen – ich ihn, weil im Vorwort zu dem Roman „Der goldene Buddha“ (das ist der er­ste Band der so genannten „Oregon-Files“) erwähnt wurde, in diesem Buch werde erstmals das Schiff OREGON mit seinem Kapitän Juan Cabrillo erwähnt. So kann man das natürlich auch nennen… was Cabrillo und seine Crew zu­sammen mit Dirk Pitt in chinesischen Gewässern so tun, ließ mich beim Nachle­sen vollkommen verstehen, warum die Leser der Ansicht waren (wie übrigens auch der Autor Cussler), man solle Cabrillo und die OREGON nicht einfach nach einem Roman wieder in der Versenkung verschwinden lassen. Deshalb gibt es ja auch bis heute 11 Romane der so genannten „Oregon-Files“ (und es erscheinen ständig weitere).

Die Neulektüre brachte mich dann dazu, das Buch doch zu rezensieren. Es ist zwar für mich, weil ich eine vage Erinnerung an den Inhalt hatte, keine sehr große Überraschung mehr gewesen, der Storyline zu folgen, aber viele Sachen hatte ich tatsächlich ganz vergessen. Etwa die ganzen Details der OREGON-Mission, die Verfolgungsjagd durch Washington und fast alle Entdeckungen, die Pitt und sein schrulliger Kompagnon Al Giordino am Mystic-Kanal machten. Der Plot selbst ist vergleichsweise durchsichtig, wenn man sich mit der Materie ein wenig auskennt, klingt in der Umsetzung indes doch ein wenig nach Science Fic­tion (was den schönen Effekt hat, dass die Verantwortlichen im Roman Pitt einfach nicht glauben, und zwar, bis es fast zu spät ist). Unnötig zu erwähnen, dass das die Spannung recht ordentlich in die Höhe treibt. Und da man ja auch das Schicksal von Ms. Lee nicht vorhersehen kann, existiert ein weiterer kribbe­liger Spannungsfaden in der Geschichte.

Was den Schluss angeht, so kam es mir dann so vor, als ob sich Cussler hier gar zu sehr auf Qin Shang und seine Konfrontation mit Dirk Pitt konzentriert hat. Manche Dinge blieben einfach ungeklärt, bzw. wurden recht unbefriedigend ab­gehandelt. Gar zu gern hätte man doch erfahren, was mit dem Tauchroboter bei Sungari geschehen ist oder wer denn nun Qin Shangs „Maulwürfe“ in den hohen Hierarchieebenen in Washington und bei der Einwanderungsbehörde waren… da existieren klare Defizite im Roman. Aber ansonsten ist ein durchaus interessanter Roman herausgekommen, der sogar über einen Finsterling ver­fügt, der Format hat. Das kann man nicht von allen Dirk Pitt-Abenteuern sagen. Darum erhält der Roman auf jeden Fall das Siegel: Lesenswert (und nicht nur wegen des Peking-Menschen und wegen Fritz, aber wegen dem natürlich auch… und nein, das Rätsel kläre ich jetzt NICHT!).

© 2012 by Uwe Lammers

Nun, und zu den oben erwähnten Juan Cabrillo-Abenteuern der OREGON kom­men wir noch, allerdings wohl nicht mehr anno 2017, sondern eher 2018. Es gibt noch so viele faszinierende Romane vorzustellen, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Gerade habe ich wieder einen solchen am Wickel – Félix J. Pal­mas Buch „Die Landkarte des Himmels“, und zwei weitere möchte ich gern wie­der einmal lesen: Richard Adams´ „Maia“ und C. W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“. Wie schnell ich wohl dazu komme, und wann die entsprechen­den, absolut notwendigen Rezensionen hier erscheinen werden, vermag ich noch nicht zu sagen.

Drum lauert nicht zu früh auf Cusslers OREGON-Files, auch nicht auf die nächs­ten Fargo-Abenteuer oder Kurt Austin & Co. Es gibt atemberaubend viele Cuss­ler-Collaborationen, und es kommen ständig neue hinzu.

In der kommenden Woche mache ich einen Abstecher in eine völlig andere lite­rarische Ecke. Wem der Name Howard Phillips Lovecraft etwas sagt, der ist nächste Woche hier genau richtig.

Neugierig geworden? Gut so – schaut einfach rein!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Dieses Abenteuer wird im Roman „Schockwelle“, Blanvalet 35201, erzählt und liegt zu Be­ginn des vorliegenden Romans höchstens ein paar Wochen zurück. Vgl. dazu auch den Re­zensions-Blog 115 vom 7. Juni 2017.

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