Liebe Freunde des OSM,

nicht überrascht sein… in der folgenden Rezension wird allmählich immer deut­licher, dass meine Harry Potter-Anfangsbegeisterung sich deutlich abgekühlt hatte, und das sollte noch stärker werden. Wenn man den vorliegenden Roman zudem mit der Verfilmung kontrastiert, in der quasi all die Punkte, die ich unten als positiv und vorteilhaft hervorgehoben habe, konsequent gestrichen wurden (etwa die politischen Themen), dann überrascht es wahrscheinlich auch nicht, dass ich den Film eher lau fand.

Kann man den fünften Potter-Band noch als Jugendbuch einstufen? Ich würde da wenigstens Abstriche machen und das Lesealter doch deutlich im Vergleich zu den vorherigen Bänden heraufsetzen. Das hat weniger mit vorkommenden Grausamkeiten zu tun als vielmehr mit deutlich stärker politisch gefärbten Statements der Autorin, mit denen Kids im Alter von 10 Jahren vermutlich we­nig anfangen können. Viele Seiten dieses Buches würden für sie wohl wenig Sinn ergeben und ihren Erfahrungshorizont deutlich überschreiten.

Das Fazit des Buches fiel denn auch 2006, als ich es ausgelesen hatte, durch­wachsen aus. Es liest sich immer noch ausgezeichnet, keine Frage, aber wenn man ein kritischer Leser ist, wie ich es damals gewesen ist, ist wohl eine gewisse Enttäuschung unvermeidlich.

Wie sich das genau darstellt? Schaut es euch an:

Harry Potter und der Orden des Phönix

(OT: Harry Potter and the Order of the Phoenix)

von Joanne K. Rowling

Carlsen-Verlag, 2003

1028 Seiten, TB

Übersetzt von Klaus Fritz

Der vierte Roman der Harry-Potter-Saga endete mit einem Donnerschlag. Das Trimagische Turnier, das zwischen den Schulen Beauxbaton, Durmstrang und Hogwarts ausgetragen wurde und dessen Siegespokal der Feuerkelch war, er­wies sich als magische Falle, manipuliert von niemand Geringerem als dem Dunklen Lord Voldemort. Der Hogwarts-Champion Cedric Diggory fand den Tod, Harry Potter geriet in Voldemorts Gefangenschaft und wurde Zeuge seiner Wie­derauferstehung. Dass er schließlich entkommen konnte, war mehr dem Zufall als einem klaren Plan zu verdanken.

Die magische Welt wusste also nun, dass der Dunkle Lord Voldemort wieder dort draußen war, dass er sich darauf vorbereitete, erneut an der Seite seiner ergebenen Todesser die Macht zu ergreifen. Und der Leser zitterte. Denn Harry ging nun wieder in die Ferien, d. h. zurück zur Familie Dursley in den Liguster­weg 4. Was aber würde Lord Voldemort tun? Aus verständlichen Gründen wur­de das fünfte Buch der Geschichte um den blitznarbigen Jungen Harry Potter mit großer Spannung erwartet. Und so geht es weiter:

Harry verbringt seine Sommerferien wie üblich bei seinen Pflegeeltern, den Dursleys, und immerzu fragt er sich, warum er in der magischen Zeitschrift, dem Tagespropheten, eben NICHTS von Lord Voldemorts Wiederkunft hört. Es steht einfach nichts darin. Und seine Freunde Hermine Granger und Ronald Weasley sind seltsam kurz angebunden und nichtssagend in ihren Briefen. Das erweckt außerordentlichen Frust in Harry, der ohnehin noch an Schuldkomple­xen wegen des Todes von Cedric Diggory leidet. Schließlich weiß er nur zu gut, dass er dessen Freundin Cho Chang in Hogwarts wieder wird in die Augen bli­cken müssen. Es ist doppelt schwer, weil Harry in ihrer Gegenwart zudem im­mer Herzrasen bekommt, ohne sich über seine Gefühle im Klaren zu sein.

Und dann passiert das einfach Unmögliche – mitten im Ligusterweg überfallen Dementoren, finstere magische Geschöpfe, die eigentlich das Zauberergefäng­nis von Askaban bewachen sollen und die selbst Harry in seinem dritten Schul­jahr nur mit großer Mühe abwehren konnte1, niemand Geringeren als Harrys Halbbruder Dudley Dursley. Und ihn selbst! Er kann gerade noch den Angriff ab­wehren – mit Magie natürlich, wie denn sonst? Und doch wird das Harrys Ver­hängnis.

Zaubern ist in der „Muggelwelt“ verboten, insbesondere für minderjährige Zau­berer wie ihn, und ehe Harry Potter begreift, was geschieht, flattert ihm eine Schulentlassung ins Haus, die dank Intervention durch den Schulleiter Albus Dumbledore in einen Termin für eine öffentliche Anhörung Harry Potters vor dem Zaubereiministerium abgeändert wird. Außerdem bemerkt Harry nun völlig verwirrt, dass ihn eine Gruppe von befreundeten Zauberern scharf überwacht und gewissermaßen in Watte packt. Das ergrimmt ihn nicht wenig, er fühlt sich nicht ganz ernst genommen.

Da nun der Ligusterweg für ihn nicht mehr sicher genug ist, bringen ihn die Zau­berer, unter denen etwa der Auror Mad-Eye Moody ist2, in eine neue Heimstät­te in London – an den Grimmauldplatz Nummer zwölf. Und hier trifft Harry nicht nur seine Freunde Hermine und Ron wieder, sondern auch den Rest der Zaubererfamilie Weasley sowie seinen Freund und Paten Sirius Black, der in der magischen Welt seit zweieinhalb Jahren wegen seines Ausbruchs aus dem Zau­berergefängnis Askaban gesucht wird. Er gilt allgemein als Mörder von zahlrei­chen Menschen sowie auch von Harry Potters Eltern, doch dieses von Volde­mort ins Leben gerufene Gerücht ist für Harry längst Vergangenheit.

Grimmauldplatz Nummer zwölf ist das Haus von Sirius´ Familie, ein furchtbar heruntergekommener Ort mit einem offensichtlich geistig gestörten Hauselfen namens Kreacher – und zugleich ist dies das Hauptquartier des geheimen „Or­den des Phönix“, den Albus Dumbledore wieder begründet hat. Harry und die „Kinder“ sind allerdings von den Treffen der erwachsenen Mitglieder ausge­schlossen, was natürlich für einigen Unwillen sorgt.

Harrys Zorn bekommt bald neue Nahrung: Hermine und Ron werden zu Ver­trauensschülern von Hogwarts ernannt, und das, obwohl er selbst meint, das stünde aufgrund seiner unbestreitbaren Verdienste eher ihm selbst zu. Dann bekommt er allmählich mit, dass im Tagespropheten eifrig an seinem Ruf gesägt wird – er gilt als gestört und geltungssüchtig, offensichtlich eine nachhaltige Spätwirkung der Kampagne der Reporterin Rita Kimmkorn, und Dumbledore wird als zunehmend senil hingestellt. Die Konsequenz ist für Harry katastrophal: niemand glaubt dort draußen daran, dass Voldemort zurückgekehrt ist, ja, schlimmer noch – alle diesbezüglichen Bemerkungen werden als Ausgeburten krankhaft überreizter Phantasie hingestellt. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Und das ist offizielle Ministeriumsmeinung.

Infolgedessen erweist sich auch Harrys Besuch im Zaubereiministerium beinahe als Katastrophe, und nur knapp entgeht er dem wirklichen Verweis von Hog­warts. Denn man wirft ihm schlicht vor, den Dementorenangriff einfach nur er­funden zu haben, um seine Zauberkräfte egoistisch einsetzen zu können…

Mit den denkbar schlechtesten Vorahnungen trifft Harry schließlich in der Zau­bererschule ein, und die Konfusionen gehen sofort weiter: die Kutschen nach Hogwarts werden von monströsen Kreaturen gezogen, halbskelettierten flie­genden Pferden, die nur Harry wahrzunehmen vermag – und eine etwas exzentrische Mitschülerin namens Luna Lovegood; der Wildhüter Hagrid ist spurlos verschwunden, und die neue Lehrerin für die Verteidigung gegen die dunklen Künste entpuppt sich als niemand Geringeres Professor Umbridge, eine absolut humorlose Frau mit Hass gegen Mischlinge, die Harry aus der Anhörung durch das Ministerium kennt. Das Ministerium hat sie auch eingesetzt, in Hog­warts für „geordnete Verhältnisse“ zu sorgen.

Das hört sich harmlos an und die meisten Schüler hören ihrer Antrittsrede kaum zu (inklusive Harry), aber sehr bald beginnen die Schüler Umbridge zu fürchten und zu hassen, spätestens dann, als sie zur Großinquisitorin von Hog­warts ernannt wird und den ohnehin schon wegen der bevorstehenden Prüfun­gen sehr gestressten Schülern mit den zahlreichen Erlassen allmählich alle Freu­den und Freiheiten einschränkt. Das geht schließlich soweit, dass sie Harry Pot­ter auf Lebenszeit des Quidditch-Spieles verweist und höchst parteiisch dessen Intimfeind Draco Malfoy bevorzugt. Üble Ahnungen steigen in den Eingeweih­ten auf.

Das Schlimmste aber sind diese Träume, über die Harry mit niemandem reden kann… Träume, in denen er fühlt und sieht, was der Dunkle Lord sieht und fühlt. Es hat den Anschein, dass Harry mit jedem Tag, den er in Hogwarts ist und nichts tun kann, dem Aufstieg Lord Voldemorts in die Hände arbeitet…

Wie gesagt, lange wurde dieses Buch erwartet, und mit über tausend Seiten er­füllt es ja nun wirklich die kühnsten Erwartungen. Wohl selten jemals zuvor sah man so viele Kinderhände so bereitwillig nach einem derart „dicken Schinken“ greifen, höchst selten war es wohl auch der Fall, dass erwachsene Menschen wie ich von einem Buch so gepackt waren, dass sie es buchstäblich nicht mehr aus der Hand legen konnten (bei mir kam hilfreich hinzu, dass ich in den letzten Tagen unter akutem Magendrücken litt, was mir das Schlafen verleidete. Was also sollte ich tun, als die Nacht über das Buch durchzulesen? Führte dazu, dass es in vier Tagen gelesen wurde). Dafür gebührt Rowling Dank, zweifelsohne.

Der neugierige und erwartungsfrohe Leser findet sich in diesem Werk unter Freunden wieder und trifft neue, rätselhafte Personen, manchmal auch solche, die man überhaupt nicht schätzt (Professor Umbridge ist nur eine davon). Row­ling erweitert zudem das biografische Geflecht geschickt auf dem Umweg über die Familie Black und verschärft hiermit die Thematik um die „Reinrassigkeit“ von Zauberern (man denke nur an diesen beleidigenden Ausruf „Schlammblü­ter!“, der hier oft genug fällt), die die Serie von Anbeginn an – durch die Person der Hermine Granger mit ihrer „Muggelfamilie“ und Harry Potter selbst – be­gleitet, die sich aber in Band 4 der Serie dramatisiert hat. Indem sie so Sirius Black erheblich mehr Tiefe gibt und auch weitere Angehörige seiner Familie in die Geschichte einfügt, bereitet sie Entscheidungen vor, die der Handlung einen dramatischen Schub verleihen.

Hermine Granger, und das fand ich wirklich gut, erhält wesentlich mehr Profil durch die fortgesetzte B.ELFE.R-Kampagne und schließlich durch unglaublich süße Vermittlungsversuche, wenn sie sich darum bemüht, Harry und anderen Jungen das „Wesen der Mädchen“ zu erläutern. Ganz zu schweigen von der ge­radezu genialen Klitterer-Geschichte…

Zugleich führt Rowling die argumentative Schiene der politischen Inkompetenz und Korruption, die in Band 4 begonnen wurde, fort durch die genauere Dar­stellung des Zaubereiministeriums. Der direkten Konfrontation mit Lord Volde­mort und seinen Anhängern aber, die seit Ende des letzten Romans von den Le­sern fieberhaft erwartet wird, weicht sie fast durchgängig aus. Am Ende dieses Romans steht man als kritischer Leser deshalb ein wenig frustriert vor einer weithin unveränderten Lage, die auch die des vierten Bandes sein könnte. Das ist etwas unbefriedigend, und auch die aufgebauschte „Prophezeiung“, die nichts wirklich Neues bringt, hilft da nicht weiter.

Rowling, das spürt der Leser, weicht hier insbesondere gegen Ende des Bandes allen ernsthaften Entscheidungen kategorisch aus. Der Kampf gegen die Diener Voldemorts gerät irgendwie improvisiert, wie mir schien. Sonst sind da die er­sten zarten Amouren um Harry und Cho, die als Ablenkung fungieren, die Weas­ley-Brüder George und Fred, die als über die Stränge schlagende närrische Er­finder zwar für viel Turbulenz und einige Lacher sorgen, was aber im Nachhin­ein auch mehr als Ablenkung von der Tatsache erkennbar wird, dass die Hand­lung sich nicht richtig vom Fleck bewegt. Und der Handlungsstrang um Hagrid und die Riesen ist da leider nicht viel besser.

Selbst die lange so panisch erwarteten ZAG-Prüfungen (die Abkürzung wird lei­der nirgends erklärt, soweit ich das sehen kann) entpuppen sich schließlich als nur halb so dramatisch wie angenommen. Dumbledores Aussprache mit Harry schließlich, die auf Dutzenden von Seiten gegen Ende des Buches erfolgt, stra­paziert die Geduld des Lesers dann doch außerordentlich, so salbungsvoll und moralisierend fällt sie aus. Als wenn die Autorin hier alles das, was sie im Hand­lungsverlauf des Buches noch nicht abschließend klären konnte, hier hinein gelegt hätte. Das kennt man schon und schätzt es eher nicht. Das ist vielleicht eines Arthur Conan Doyle (also Sherlock Holmes) würdig, aber bei Harry Potter wünschte man sich doch ein etwas anderes Vorgehen.

Das Fazit fällt deshalb durchwachsen aus:

Es ist ein lesenswertes Buch, das man regelrecht verschlingen kann, es ist gut geschrieben, und die Abenteuer der Protagonisten sind fast durch die Bank spannend und/oder humorvoll geschildert, so dass eigentlich keine Langeweile aufkommt. Auch ergreift Rowling hier klar Stellung gegen eine starke Einmi­schung des Staates in private Schulleitungen, wie das vielleicht in England ge­genwärtig gerade ein Thema ist. Sehr gut durchdacht will es mir aber nicht scheinen.

Wenn man sich freilich von der Lektüre erhoffte, dass der magische Krieg gegen Lord Voldemort beginnt oder GRUNDSÄTZLICHE, wichtige Erkenntnisse über Harry, Hogwarts, Voldemort o. ä. ans Tageslicht kommen, dann wird man ent­täuscht. Ist man imstande, ein wenig die zahlreichen Andeutungen der Autorin zu entschlüsseln, dann überraschen am Ende weder die Enthüllungen über den Dementorenangriff noch über die Prophezeiung und die Waffe, die Lord Volde­mort sucht, auch kommt das Todesopfer in diesem Buch nicht überraschend.

Und das ist dann doch eigentlich ein Kennzeichen dafür, dass die Autorin sich, bei aller Anerkennung ihrer Arbeit, in diesem Roman weitaus weniger Mühe ge­geben hat als noch im vierten Band. Das ist ein bisschen traurig. Aber wahre „Fans“ werden diese Defizite vermutlich wie üblich gar nicht registrieren. Für den Rest der kritischen Leserschaft heißt es jetzt: sich freuen auf den nächsten Harry Potter. Zwei gibt’s ja mindestens noch, bis Harry mit der Schule fertig ist…

© 2006 by Uwe Lammers

Tja, so ist das, wenn Romanzyklen vorangehen und die Erwartungen nur be­dingt eingelöst werden. Manchmal ist es da vielleicht wirklich besser, wenn man Einzelromane schreibt und seine ganze Energie darauf verwendet. Ein wirklich schönes Exemplar dieser Art stelle ich euch in der nächsten Woche vor.

Welches? Nun, lasst euch da mal überraschen.

Bis bald, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Joanne K. Rowling: „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“. Siehe dazu auch den Rezensions-Blog 148 vom 24. Januar 2018.

2 Vgl. Joanne K. Rowling: „Harry Potter und der Feuerkelch“. Siehe dazu auch den Rezensions-Blog 152 vom 21. Februar 2018.

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