Rezensions-Blog 172: Der goldene Ring (2)

Posted Juli 10th, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Zeitreisen und Erstkontakte sind zwei massive Themen der Science Fiction, und in diesem Zyklus treffen sie massiv aufeinander, kombiniert mit einem weiteren zentralen SF-Thema, dem der Entfesselung parapsychischer Fähigkeiten und was sie mit einer Gesellschaft machen, in der dergleichen zur Normalität ge­hört. Es ist wirklich höchst bedauerlich, das ist wiederholt zu konstatieren, dass der Pliozän-Zyklus von Julian May, dessen zweiter Band hier heute vorgestellt wird, schon seit langem aus dem Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) ver­schwunden ist und man ihn allenfalls noch zu horrenden Preisen antiquarisch erhalten kann.

Vielleicht noch bedauerlicher, das wird während des vierten Bandes unüberseh­bar werden, ist es außerdem, dass die so genannte „Milieu-Trilogie“, die die Au­torin ebenfalls schrieb, nie ins Deutsche übersetzt worden ist. Mutmaßlich lag das am Tod der Übersetzerin, vielleicht führten auch ernüchternde Verkaufszah­len dieses anspruchsvollen Vierteilers dazu, ich habe da keinen Einblick. Für die Gegenwart, die sich durch zahlreiche marktschreierisch popularisierte SF-Stan­dardkost auszeichnet, die im Vergleich zu diesen Büchern doch meist eher blass und uninspiriert wirkt, wäre zu wünschen, dass sich ein Verlag mal dieser Wer­ke in einer vollständigen (also siebenbändigen) Gesamtausgabe starkmacht.

Folgen wir heute also den ins Pliozän exilierten Angehörigen der „Gruppe Grün“ aus dem ersten Band, die mit ihrer Ankunft so etwas wie einen Sprengsatz sozialer Art zünden und ein Machtbeben in der Erdvergangenheit auslösen. Ein wenig fühlte ich mich dabei übrigens an die Ränkespiele erinnert, die wir heut­zutage in „Game of Thrones“ vorfinden… allerdings mit partiell sympathische­ren Charakteren.

Neugierig geworden? Gut so. Dann gehen wir mal einen entscheidenden Schritt weiter:

Der goldene Ring

(OT: The Golden Torc)

von Julian May

Heyne 4301

496 Seiten, 1986

Übersetzt von Rosemarie Hundertmarck

Wer sich in der Gegenwart des von zahlreichen außerirdischen Rassen domi­nierten galaktischen „Milieu“ nicht zurechtfand, besaß die Möglichkeit, dieser Welt ein für allemal den Rücken zu kehren: durch das Zeitportal der Madame Guderian, das sich in den französischen Alpen befand und in die Welt des irdi­schen Pliozän, 6 Millionen Jahre vor der Gegenwart, zurückführte. Es handelte sich um eine Einbahnstraße und, wie alle hofften, um ein Tor in eine bessere Welt.

Die acht Angehörigen der so genannten „Gruppe Grün“ mussten nach ihrer An­kunft im so genannten „vielfarbenen Land“ jedoch rasch erkennen, dass diese naive Einschätzung katastrophal falsch war – das Pliozän befand sich vielmehr unter der Kontrolle einer außerirdischen Rasse von Psionikern, die ihre latenten Fähigkeiten mittels technischer Hilfsmittel (Ringe) zur vollen Operanz entwickelt hatten. Die meisten Menschen, die hier ankamen, hatten diesen Wesen, den Tanu, nichts entgegenzusetzen und wurden mehr oder weniger in die Sklaverei gezwungen.

Doch dies war eine seltsame Art der Sklaverei: viele Menschen fanden sich mit den Nachteilen dieser Welt ab, um dadurch eine Vielfalt von Vorteilen zu ge­winnen. Nicht selten erlangten sie unter den Tanu Macht und Einfluss, gewöhn­ten sich an die Ringe, die zu einem guten Teil eigene latente Parafähigkeiten verstärkten und sie zu Leistungen befähigten, die sie im Milieu niemals hätten erreichen können.

Doch die Gruppe Grün erwies sich schon bei der Ankunft als völlig atypisch. Und es zeigte sich bald, dass die Angehörigen dieser Gruppe das Potential hat­ten, die Gesellschaft des vielfarbenen Landes aus den Angeln zu heben. Wäh­rend der gescheiterte Raumfahrer Richard Voorhees fast wahnsinnig wurde, die Nonne Amerie Roccaro in Resignation versank und der titanische „Wikinger“ Stein Oleson sich in einen Berserker verwandelte, der mittels eines grauen Rings gezähmt werden musste, erhielt die durch einen Unfall blockierte Metap­sionikerin Elizabeth Orme ihre vollen Fähigkeiten wieder. Der Soziologe Bryan Grenfell sollte ebenso wie Elizabeth eine wichtige Rolle in den Plänen der Tanu spielen. Der jugendliche und unverbesserliche Verbrecher Aiken Drum hingegen zeigte durch die Transmission erwachende, starke psionische Fähigkeiten und wurde ebenfalls flussabwärts zum Mittelmeer gebracht, zu der dort liegenden Hauptstadt der Tanu, Muriah. Der Paläontologe Claude Majewski besaß keinerlei mentale Fähigkeiten, ebenso schien es mit der psychotisch wirkenden jungen Kunstkriegerin Felice Landry, in deren verführerischem – und absolut männerverachtenden – Körper in Wahrheit monströse Psi-Fähigkeiten lauerten.

Während vier von der Gruppe nach Süden aufbrachen (Elizabeth, Aiken, Bryan und Stein), entwichen die anderen vier, die als normale menschliche Sklaven nach Norden deportiert werden sollten, töteten vermittels einer Eisenwaffe eine Tanu-Lady, womit sie erkannten, dass Eisen für Tanu letal wirkte. In der Fol­ge konnten sich Felice und ihre kleine Gruppe mit unbezwingbarer Energie zu den menschlichen Rebellen durchschlagen, die von der ebenfalls ins Pliozän-Exil gegangenen Madame Angelique Guderian angeführt wurden.

Sie war längst völlig verbittert und machte sich schlimmste Schuldvorwürfe, dass sie die Menschen hier in die Sklaverei der Tanu geführt hatte. Und sie ar­beitete wie besessen an einem Mehrstufenplan, um die Menschheit wieder zu befreien. Der Plan sah vor, zunächst das Bergwerk in der Stadt Finiah zu zerstö­ren, aus dem seltene Erden für die Produktion der Ringe geschöpft wurden. In einem zweiten Schritt wollte die alte Französin das Zeitportal schließen, um den Zustrom von immer neuen hilflosen Menschen zu unterbinden und so die auf der Ausbeutung von Menschenkraft basierende Tanu-Zivilisation ins Wanken zu bringen. Ein dritter Angriff sollte die Ringfabrik in Muriah vernichten.

Doch erst als die vier Flüchtlinge der Gruppe Grün auftauchten, wurde es mög­lich, solche Pläne umzusetzen: sie hatten mit dem Eisen die ultimate Waffe ge­gen die Tanu gefunden (und übrigens auch gegen die zwei mit den Tanu verfein­deten, gestaltwandelnden Geschwisterrassen der Firvulag und Heuler, die zeit­weise mit den menschlichen Untergrundkämpfern zusammenarbeiteten), au­ßerdem konnte Claude Majewski das legendäre „Schiffsgrab“ lokalisieren, jenen Krater, der entstanden war, als das Tanu-Galaxienschiff auf der Erde aufschlug. Dort, so ging die Legende, hatten ein Tanu- und ein Firvulag-Champion rituell gegeneinander gekämpft, und dort war der „Speer“ zur Ruhe gebettet worden. Dieses Gebilde war eine Photonenwaffe mit tödlicher Durchschlagskraft.

Madame Guderian gelang es, die Firvulag dazu zu überreden, einen Angriff auf Finiah zu unternehmen, während eine menschliche Expedition den „Speer“ und eines der Tanu-Beiboote bergen sollte, um einen Luftangriff auf die Tanu-Stadt zu unternehmen.

Dieser Angriff, der kurz vor dem rituellen Waffenstillstand der Tanu und Firvulag stattfand, hatte Erfolg, erwies sich aber als äußerst blutig. Richard Voorhees verlor seine Geliebte und beinahe den Verstand, Madame Guderian wurde ver­letzt, Finiah fiel, Tausende von Menschen kamen ums Leben oder wurden vom Ring befreit. Die Mine versank in einem Vulkanausbruch und wurde so versie­gelt.

Dies war der Stand am Ende des ersten Bandes. Die erste Stufe des Planes von Madame Guderian hatte Erfolg gehabt, nun galt es, die beiden nächsten in An­griff zu nehmen.

Die anderen vier Mitglieder der Gruppe Grün reisen die Rhone talabwärts und erreichen nach wenigen Tagen die glänzende Hauptstadt Muriah. Hier wird Stein Oleson als Krieger ausgesucht, der bei dem Großen Wettstreit, der direkt nach dem Monat des Waffenstillstandes auf der Silberebene bei der Stadt zwi­schen Tanu und Firvulag von Jahr zu Jahr blutig ausgetragen wird, als Sklave für die Tanu kämpfen solle. Er hat sich inzwischen aber in die Silberringträgerin Sukey, eine Menschenfrau, verliebt und mit ihr ein Kind gezeugt. Dies ist ein de­finitiver Frevel, denn die Tanu-Ärzte machen den Eingriff der Gegenwartsmedi­ziner rückgängig, der die in die Vergangenheit gehenden Frauen davor bewah­ren sollte, als Gebärmaschinen missbraucht zu werden.

Auf diese Weise bringen die Außerirdischen die menschlichen Frauen dazu, zu­nächst mit dem Tanu-König Thagdal Sex zu haben und danach ausschließlich Ta­nu-Kinder zu gebären. Die so entstandenen Mischlingskinder verfügen nicht sel­ten über latente Paragaben, die durch ihre silbernen oder goldenen Ringe (die höchste Stufe) operant werden. Manche Menschen oder Mischlinge steigen so­gar in die Hierarchie der Tanu selbst auf.

Elizabeth hingegen soll nach den Plänen hochrangiger Tanu, insbesondere der geheimnisvollen Schiffsgattin Brede, die das Schicksal der Tanu-Rasse voraus­sieht, sich mit König Thagdal paaren, um eine neue Generation von Superpsio­nikern zu begründen. Denn der Wahn der Tanu führt dahin, dass sie sich danach sehnen, voll operant zu werden, um ohne die Ringe jene Dinge zu vollbringen, die sie nun nur mit deren Hilfe schaffen können.

Doch Elizabeth hat ihre eigenen Pläne.

Brede Schiffsgattin hat ihre eigenen Pläne.

Außerdem gibt es noch die Fraktion um den Tanu Nodonn, der die Menschen und Mischlinge als gefährlich ansieht und am liebsten all ihren Einfluss aus­schalten würde. Pikanterweise ist seine Lebensgefährtin eine Menschenfrau: niemand geringeres als Mercedes Lamballe, die von dem Soziologen Bryan Grenfell angeschmachtete und heftigst geliebte Frau, deretwegen er in das Plio­zän-Exil gegangen ist. Mercedes, inzwischen als Lady Mercy-Rosmar in die Klas­se der Psioniker aufgestiegen, sieht ihn jedoch nur als Lustspielzeug an, sie ist vollständig verwandelt. Schließlich soll Bryan im Auftrag des Königs eine sozio­logische Analyse schaffen, um Nodonns Befürchtungen ein für allemal zu wider­legen, dass der Tanu-Gesellschaft von den Menschen aus der Zukunft Gefahr droht.

Aiken Drum erweist sich entgegen den Voraussagen keineswegs als „mentale Nova“, die schnell verglüht, sondern seine Parakräfte sind so stark, dass sie so­gar den goldenen Ring, den er erhält, ausbrennen. Er wird unter die Fittiche der alten Mayvar Königsmacherin genommen, die ihre eigenen Pläne mit ihm hat. Und Aiken Drum, sexbesessen und intrigant, spielt nur zu bereitwillig in diesen verwirrenden Machtspielen der Tanu mit, um sich während des Großen Wett­streites in die vorderste Reihe der Macht zu katapultieren.

Im Norden hat derweil die besessene Felice Landry in den Ruinen von Finiah ebenfalls einen goldenen Ring gefunden, der ihre zwar vorhandenen, verborge­nen Parafähigkeiten freilegt, sie aber auch schärft und immer stärker einsetzbar macht. Ihre Kräfte wachsen beständig, und mit dem wilden, hasserfüllten Wunsch, die Außerirdischen allesamt auszurotten für das, was sie der Mensch­heit angetan haben, schließt sie sich der Expedition in den Süden an, der die Ringfabrik zerstören soll. Sie haben nur allesamt ein Problem dabei: der „Speer“, den sie in Finiah noch einsetzen konnten, ist funktionslos geworden. Und der einzige Feinmechaniker, dem sie trauen können, ihn wieder instand zu setzen, ist in Muriah: niemand Geringeres als Aiken Drum…

Mit dem zweiten Band des Zyklus vom Vielfarbenen Land setzt Julian May die konsequente Linie ihres Beginns fort. Viele farbige Charaktere und starke emotionale Notlagen vertiefen die Leseerlebnisse des Betrachters, er lernt die kleine, aber unwahrscheinlich kostbare Stadt Muriah kennen, die Gilden der Tanu, die sehr menschlichen Ränkespiele gegeneinander und die hochkomple­xen Verwandtschaftsverhältnisse, die schon manchmal gehörig durcheinander bringen (ein Stammbaum wäre hier ganz gut gewesen, doch wenn man daran denkt, dass alleine Thagdal über zehntausend (!!!) Kinder mit menschlichen Frauen und Tanu-Frauen gezeugt hat, kann man sich die Unübersichtlichkeit vorstellen, die dann herrschen würde). Geschickt arbeitet sie die Psychodyna­mik der einzelnen Personen heraus, entwickelt neue Züge an ihnen und gibt dem Geflecht der Beziehungen damit neue, unerwartete Richtungen und Stöße.

Selbst für mich, der ich diese Romane vor knapp fünfzehn Jahren schon einmal las (ohne damals freilich eine Rezension anzufertigen), sind viele Wendungen einfach verblüffend, weil ich sie vollkommen vergessen habe. Und mir fiel beim Lesen insbesondere dieses Bandes auf, wie intensiv die gestaltwandelnden Fir­vulag beschrieben wurden. Dass etwa ein Jahr später in der 12. OSM-Ebene „Oki Stanwer – Bezwinger des Chaos“ das gestaltwandelnde Volk der Berinnyer auftauchte und sehr zentrale Bedeutung gewann, muss man wohl vor diesem Hintergrund sehen. Es war mir aber nicht mehr bewusst, bis ich dieses Buch er­neut las.

In jedem Fall wird, wer den ersten Band mit Gewinn las, diesen hier nicht ent­täuscht aus der Hand legen und im Gegenteil dem dritten Teil entgegenfiebern, das den Titel „Kein König von Geburt“ trägt.

© 2001 by Uwe Lammers

Ihr merkt schon, wie rasant die Handlung Fahrt aufnimmt, nicht wahr? Aber ich versichere euch, das ist noch gar nichts gegen die nächsten beiden Bände, zu denen ich in Bälde kommen werde. Da wird sich erst das wahre Potenzial von Aiken Drum und Felice Landry zeigen, auf eine ungeheuerliche Weise.

In der nächsten Woche lassen wir es dagegen dann lieber wieder etwas ruhiger angehen und kümmern uns um einen der seltenen Auslandsaufenthalte des le­gendären Detektivs aus der Baker Street.

Sherlock Holmes is back? Aber ja doch. Und wie. Genaueres lest ihr in einer Woche an dieser Stelle – bloß nicht versäumen, Freunde!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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