Rezensions-Blog 197: In fremderen Gezeiten

Posted Januar 2nd, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

eine Warnung vorweg: vieles an dem, was ich unten erzähle, wird euch seltsam vertraut vorkommen. Und das ist kein Wunder. Schon in der Rezension von 2011 deutete ich schließlich an, dass ich davon Kenntnis besaß, dass sich Jerry Bruckheimer die Rechte an der Verfilmung des Stoffes gesichert hatte und sie schließlich in seinen vierten Film der Reihe „Fluch der Karibik“ einfließen ließ.

Damals war ich noch verhalten optimistisch, was das Resultat anging… aber wer den Film kennt, weiß höchstwahrscheinlich, dass daraus nur eine klägliche Tra­vestie wurde, etwas, was ich nur als „Altherrenpartie mit Jack Sparrow und Hector Barbossa“ bezeichne. Wirklich: wie man bei solch einer literarischen Vorlage einen filmischen Stoff so dermaßen vollständig gegen die Wand fahren kann, ist mir heutzutage immer noch vollkommen schleierhaft. Bruckheimer muss wirklich so ganz und gar neben sich gestanden haben, als er das machte… einfach nur noch peinlich.

Deshalb erscheint es mir umso wichtiger, das wirklich brillante Buch von Tim Powers an dieser Stelle gleichsam als Antidot zum vierten Filmteil um Jack Spar­row zu verabreichen – das Abenteuer, das sich hier auf den Seiten ausbreitet, könnt ihr im Gegensatz dazu tatsächlich genießen, das ist ein prallbuntes Ad­venture-Spektakel mit wilden Einfällen, das euch in Staunen, Lachen und Tränen versetzen wird, versprochen.

Neugierig auf das Abenteuer geworden? Dann folgen nun die Details:

In fremderen Gezeiten

(OT: On Stranger Tides)

von Tim Powers

Heyne 4632, 1989

448 Seiten, TB

ISBN 3-453-03894-0

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

Alles fängt damit an, dass der junge John Chandagnac eine Reihe falscher Ent­scheidungen trifft, und es geht damit weiter, dass die sich aus diesen Entschei­dungen ergebenden Entwicklungen sein gesamtes Weltbild auf den Kopf stel­len. Das kann er aber nicht wissen, als er sich im Jahre 1718 anschickt, mit dem Segler „Brüllender Carmichael“ und dem Reiseziel Westindische Inseln aufzu­brechen. Sein Vater Francois ist kurz zuvor an den späten Folgen eines Überfalls gestorben, und gemeinsam waren Vater und Sohn jahrelang unterwegs als Pup­penspieler. Inzwischen hat der junge John eine Anstellung als Buchhalter ange­nommen, als er erfährt, dass der Bruder seines Vaters, Sebastian Chandagnac, auf Jamaika eine Erbschaft angenommen hat, von der Johns Vater nie Kenntnis erlangte. Sebastian ist nun reicher Plantagenbesitzer, während sein Bruder in Europa bettelarm verstarb. In dem Bestreben, diesen Onkel nun zur Teilung des Erbes zu verpflichten, reist John Chandagnac in die Karibik.

Natürlich hält er das für eine völlig vernünftige Entscheidung, leider zu Unrecht.

An Bord des „Brüllenden Carmichael“ unter Kapitän Chaworth befinden sich ein paar weitere Passagiere, was völlig normal zu sein scheint: da ist der seltsame, einarmige Benjamin Hurwood, eigentlich ein Philosoph, wenn auch oftmals seltsam abwesend. Dazu kommt seine bildhübsche und blutjunge Tochter Eliza­beth, sowie der fette „Arzt“ Leo Friend, der sich um Beths „Diät“ zu kümmern hat (die sie selbst definitiv nicht schätzt – immerzu nur Kräuter und Gemüse, kein Fleisch! Was es damit letzten Endes für eine Bewandtnis hat, tritt auch bald zutage). Friend ist ein durchweg unsympathischer Kerl, und immer, wenn er sich aufregt oder unziemlich Elisabeth anschaut, gerät er heillos ins Stottern und Stammeln. Es ist unübersehbar, dass er sehr gern sehr viel enger mit der viel jüngeren Elizabeth vertraut wäre, was von ihrer Seite keinerlei Ermunterung erfährt. Ja, und so kommt es, dass John Chandagnac eigentlich gar nicht anders kann, als sich mit Elizabeth anzufreunden.

Und schon in diesem harmlosen Stadium des Romans beginnen ausgeprägte Disharmonien und Dissonanzen zwischen den Personen. John nimmt das alles aber nicht richtig wahr. Er findet Elizabeth zwar sehr anziehend und sympa­thisch, ist aber gerade aus einer Verlobung in Europa geflohen und möchte ei­gentlich nur nach Jamaika, um seinen Onkel zu stellen. Beth ist also eine nette Begleitung an Bord des Seglers, doch mehr offensichtlich nicht.

Das soll sich drastisch ändern.

Kaum sind sie nämlich in der Karibik angelangt, geht alles schief: ein Piratenseg­ler steuert auf sie zu, und zu Johns Entsetzen machen Hurwood und Leo Friend gemeinsame Sache mit den Angreifern, außerdem erweist sich die Artillerie des Seglers als völlig wirkungslos in dem Versuch, das Piratenschiff zu versenken. Als der Piratenkapitän Davies an Bord kommt, folgt der nächste Schrecken – denn obwohl sich John mit dem Mut der Verzweiflung verteidigt, muss er die erschre­ckende Entdeckung machen, dass die genannten drei Feindpersonen allesamt immun gegen Kugeln und Säbelhiebe zu sein scheinen… nun, oder fast! Piraten­kapitän Davies entpuppt sich als jemand, der mit Hurwood und dem berüchtig­ten Seeräuber Schwarzbart einen Handel gemacht hat, und ehe der junge John Chandagnac begreift, wie ihm geschieht, befindet er sich mitsamt den Passagie­ren in der Gewalt der Piraten.

Seine eigentlich vergleichsweise friedfertige Reise entgleist in einen Alptraum.

Ben Hurwood, soviel kommt bald heraus, hat ein Reiseziel im Norden der Kari­bik, in den Sümpfen von Florida, wo es eine Quelle starker magischer Macht ge­ben soll, die Quelle des ewigen Lebens, nach der schon die Konquistadoren un­ter Ponce de Leon im frühen 16. Jahrhundert gesucht haben. Außerdem erweist es sich, dass die Karibik durchtränkt ist von einer sehr gegenständlichen magi­schen Macht. Es gibt stumme Personen, die offensichtlich schon lange tot sind und als Marionetten Dienste leisten. Es gibt verfluchte Hühner, deren Verzehr Fieber auslöst. Schwarzbart selbst ist von einer Vielzahl von Geistern besessen, die er nur im Zaum halten kann, indem er Unmengen von Rum mit Schießpulver konsumiert.

Die Reise zur Quelle des ewigen Lebens ist erst der Auftakt zu einer Reihe von haarsträubenden Abenteuern, und die Folgen des Handelns sind wirklich aben­teuerlich. Wir treffen beispielsweise auf ferngelenkte Seeleute, auf bovistähnli­che Pilze, die sich als verzauberte oder besser: verfluchte Menschen erweisen und sogar sprechen können, auf grimmige Elementargeister und leibhaftige Geisterschiffe, bemannt mit Untoten… und John Chandagnac, inzwischen zum Koch, Maat und dann Piratenkapitän namens Jack Shandy mutiert, merkt im­mer schneller, dass seine hehren Vorstellungen von Ehre und Anstand den Bach herunter gehen, seine ursprünglichen Pläne sich auflösen und schließlich ein neues Ziel zentrale Gestalt gewinnt: rette Elizabeth Hurwood vor den Plänen, die ihr Vater mit ihr hat… selbst wenn das heißt, dass man fast buchstäblich zur Hölle fahren muss…

Wer die drei Filme der Serie „Fluch der Karibik“ gern gesehen hat und sich dort wie zuhause fühlte, der kann das in diesem Buch auf schriftlicher Basis noch ein weiteres Mal intensivieren. An vielen Stellen hat man als Leser und Kinogänger das bezaubernde Gefühl, Jerry Bruckheimer oder Captain Jack Sparrow gewis­sermaßen über die Schulter zu schauen bei wirklich bisweilen aberwitzigen Pi­ratenabenteuern in der Karibik. Und immer, wenn man denkt: wie mag sich denn unser Held John Chandagnac nun wieder aus DER Malaise retten (etwa, als die Piraten von einer englischen Fregatte überwältigt werden und John alias Jack Shandy – zu dem Zeitpunkt noch „nur“ Koch – eigentlich nur schnellstens in sein bürgerliches Leben zurückkehren möchte, während der Rest bald in der Schlinge baumeln soll), da gelingt es Tim Powers, solche irrsinnigen Kapriolen einzubauen, die faszinierend an die argumentativen und handlungsdramaturgi­schen Haken und Bögen erinnern, die die Handlung der „Fluch der Karibik“-Fil­me auszeichnet.

Es nimmt darum nicht Wunder, dass Jerry Bruckheimer tatsächlich vor relativ kurzer Zeit an Tim Powers herantrat und sich die Drehrechte an seinem Buch si­cherte und die Ideen schließlich in „Fluch der Karibik 4: Fremdere Gezeiten“ einfließen ließ. Ich bin sehr neugierig, was er aus den hier ausgebreiteten Ideen gemacht hat (auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wo in diesem Wirrwarr von Voodoo-Zauberern, von Geistern besessenen Piratenkapitänen, Untoten und Dämonen wohl Jack Sparrow und seine Crew ihren Platz finden werden).

Auch, wer „nur“ Piratenromane mit leichtem übernatürlichem Einschlag liebt, wird dieses Buch wahrscheinlich verschlingen. Ich las langsam und brauchte gleichwohl keine sechs ganze Tage… ach, und da frage ich mich natürlich schon, warum es fünfzehn Jahre dauerte, bis ich es in die Hand nahm! Und was mögen wohl noch für faszinierende Schätze in meinen Bücherregalen schlummern?

Dieses Buch werdet ihr zweifellos nur noch antiquarisch bekommen – aber ich versichere euch, das lohnt sich. Ich bin sicher, ihr werdet es lieben. Und natür­lich nachher, wie ich selbst, auch bedauern, dass es nicht wenigstens DOPPELT so dick ist…!

© 2011 by Uwe Lammers

Ja, ihr seht, mancherlei Details hat Bruckheimer schon weitgehend übernom­men. Aber er hätte diese absurde Christentumsschelte nicht einbauen müssen (die hier übrigens vollkommen fehlt), die hat schließlich alles ruiniert. Zu scha­de, das werde ich ewig bedauern.

In der kommenden Woche bleiben wir bei der Seefahrt, landen aber wieder in der Gegenwart und folgen den Spuren von Clive Cussler. Ihr werdet es sehen, Freunde.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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