Rezensions-Blog 252: Manon Lescaut

Posted Januar 22nd, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich wünschte wirklich, ich hätte diesen Roman schon gelesen, als ich noch in meinem Geschichtsstudium steckte … aber das war anno 2006, als es dann tat­sächlich zur Lektüre kam, schon ein paar Jahre beendet. Denn auf interessante Weise belebte dieser stark autobiografisch vom Verfasser, dem Abbé Prévost, geschriebene Roman meine Kenntnisse des vorrevolutionären Frankreichs im 18. Jahrhundert zu neuem Leben.

Allein das fand ich schon entzückend, und meine daraufhin angestellten biogra­fischen Recherchen waren vermutlich noch interessanter … doch das allein macht nicht den Reiz des vorliegenden Romans aus. Er ist auch darüber hinaus eine interessante Lektüre für alle, die leidenschaftliche Irrungen und Wirrungen des Herzens mögen (die, wie allein die Buchhandlungen zeigen, ein zeitloses Thema sind und bis heute ungezählten Leserinnen und Lesen gefallen).

Die abenteuerliche Geschichte der schönen, jungen Manon Lescaut und ihres Liebhabers, des Chevalier Des Grieux, gehört meiner Ansicht nach zu den unbe­dingt lesenswerten Büchern, die auch Jahrhunderte nach ihrer Abfassung wenig von ihrem Potenzial eingebüßt haben (dazu zählt übrigens meiner Ansicht nach auch unbedingt Cervantes´ „Don Quichotte“, das sogar aus dem 17. Jahrhundert stammt und das ich euch sehr ans Herz legen möchte – und zwar nicht in der reduzierten, sondern in der dreibändigen vollständigen Ausgabe!).

Bereit, ins vorrevolutionäre Frankreich einzutauchen? Dann lest weiter, Freun­de:

Manon Lescaut

(OT: L‘Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut)

von Antoine-Francois Prévost (d’Exiles) = Abbé Prévost

Bechtermünz-Ausgabe

Augsburg 2001, 212 Seiten, geb.

Aus dem Französischen von Karl Görke

Der Ich-Erzähler dieser Rahmengeschichte ist ein ungenannter Reisender, der Anfang des 18. Jahrhunderts, mutmaßlich etwa um das Jahr 1730 in der Nähe von Evreux eine Pause macht und dabei Zeuge eines seltsamen Menschenauf­laufs wird. Als er sich erkundigt, was denn los sei, wird ihm erläutert, es sei nichts Besonderes, nur eine Gruppe von einem Dutzend Freudenmädchen, die nach Le Havre eskortiert würden, um dann gen New Orleans verschickt zu wer­den.

Was indes interessanter scheint, ist ein bildhübsches und charakterstarkes Mäd­chen, das unter den ordinären Huren offenkundig fehl am Platz zu sein scheint – und ein junger, nicht weniger hübscher Mann, der, todunglücklich in die Schöne verliebt, dem Tross folgt.

Der Reisende spendet dem armen Kerl ein wenig Geld, damit er mit seiner An­gebeteten reden kann, und danach trennen sich die Wege von Reisendem und den Verliebten. Zwei Jahre später jedoch ist der Reisende zufällig in Calais, als er überraschend meint, jenen verzweifelten jungen Mann wiederzuerkennen – und er ist es tatsächlich.

Er erkennt den edlen Spender wieder, dankt ihm und dem Himmel, und nun ist er mehr als nur bereit, ihm für die erwiesene Gnade die Geschichte seines Le­bens und seiner Angebeteten, der schönen Manon Lescaut, zu berichten. Der Großteil des Buches besteht aus den Berichten des unglückseligen Chevalier Des Grieux, der sein Lebensglück, seine Moral und sein Geld völlig aufbrauchte, allein, um seiner Geliebten zu gefallen …

Der Chevalier, gerade mit seiner Schulausbildung fertig geworden und bereit, in einen Orden einzutreten und Theologie zu studieren, trifft auf der Reise nach Paris zusammen mit seinem Freund Tiberge eine blutjunge, wunderschöne Schönheit, die von ihrem Vormund ins Kloster gesteckt werden soll. Der sehr träumerische, romantische und leidenschaftliche (und leider auch sehr naive) Chevalier Des Grieux beschließt, alle Pläne seines Vaters und alle Ratschläge sei­nes Freundes über Bord zu werfen. Er freundet sich mit der hinreißenden Ma­non Lescaut, so der Name des sechzehnjährigen Mädchens, an, und zusammen brennen sie durch. Und damit beginnt ihr dramatisches Schicksal – denn sowohl Des Grieux´ Vater als auch Manons verdorbener Bruder setzen alles daran, der beiden habhaft zu werden, der eine, um seinen Sohn auf die rechte Bahn zurückzulenken, der andere, um das Glück und die körperliche Schönheit seiner Schwester sowie die Naivität ihres jungen Liebhabers auszunutzen.

Zahllose Monate abenteuerlichster Verwicklungen und Verwirrungen schließen sich an, gewürzt mit dramatischen Vorwurfsszenen, pathetischen Dialogen, reichlich fließenden Tränenströmen und Schicksalsschlägen, aber man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es an keiner Stelle langweilig wird, dem win­dungsreichen Schicksal der beiden Verliebten zu folgen, die sich in immer grö­ßere Schwierigkeiten hineinbugsieren, bis die Liebe schließlich fast zwangsläufig Schiffbruch erleidet …

Der bürgerliche Autor des Romans, Antoine-Francois Prévost (d’Exiles), genannt Abbé Prévost, wird am 1. April 1697 in Pas-de-Calais geboren und stirbt nach ei­nem kaum minder abenteuerlichen Leben, das er überwiegend als Schriftsteller verbringt, am 23. November 1763 in Courteuil bei Chantilly. Er verfasste zahllo­se Werke, viele davon mit autobiografischem Einschlag, von denen heute wohl alleine noch dieses hier, „Manon Lescaut“, bekannt ist.

Ursprünglich für eine Jesuitenlaufbahn vorgesehen, überwarf sich Prévost 1712 mit seinem Vater (man spüre die Parallele dazu in diesem Roman!), bricht sein Theologiestudium vorzeitig ab und geht stattdessen zur Armee, um am Spani­schen Erbfolgekrieg teilzunehmen. Zwar schließt er später sein Theologiestudi­um ab, kehrt aber im Noviziat erneut den Jesuiten den Rücken (vgl. den Roman) und wird wieder Soldat. Wieder wechselt er zu den Jesuiten, dann zu den Bene­diktinern.

Zwischenzeitlich beginnt er aber bereits mit den Arbeiten an einem umfangrei­chen Roman, der in mehreren Teilen in den nächsten Jahren publiziert wird, und wer „Manon Lescaut“ gelesen hat, wird meine Ansicht teilen, dass Prévost definitiv nicht zum Mönch oder Soldaten, sondern zum Schriftsteller berufen war.

Flucht aus dem Kloster (vgl. Roman), Reise nach England, dort Antritt einer Hauslehrerstelle für einen jungen Mann, dessen Schwester er ehelichen möchte (vgl. in gewisser Weise auch hierfür den Roman), dann königliche Verfolgung durch einen Haftbefehl (lettre de cachet1), schließlich frustrierende und über­aus kostspielige Liebesereignisse mit der Haager Edelkurtisane Lenki Eckhardt (um 1731), all das verleiht dem Leben des Bürgersohns und Theologen Prévost eine so bekannte Unstetigkeit, dass es dem Wissenden leicht fällt, in der Gestalt des vom Unglück verfolgten Chevalier Des Grieux unzweifelhaft das jugendliche alter Ego des Autors wiederzuerkennen.

In der seltsamen Geschichte um die Mississippier und New Orleans, wo man den Leuten „goldene Berge“ verspricht und sie überraschend stattdessen Sumpfland vorfinden, kann man auch einiges in der spannenden, manchmal un­glaublich atemberaubenden Biografie des Schotten John Law der Kunsthistori­kerin Janet Gleeson nachlesen.2

Interessant scheint auch, dass der durchaus sehr moralisierende Stoff, der die allgemeinen Moralvorstellungen der vor der Französischen Revolution klar ge­schichteten Stände gründlich durcheinanderquirlt und teilweise doch bissig an den Pranger stellt, auch verschiedentlich Opernkomponisten zur Vertonung reizte. Genannt sei hier nur Puccinis Oper „Manon Lescaut“, 1893.

Meiner Ansicht nach lohnt der Roman sehr eine Wiederentdeckung für all jene Leser, die sich gerne ein wenig Eindruck verschaffen wollen von der allgemeine Erosion der Moral im vorrevolutionären Frankreich. Und natürlich ist er für alle Freunde gut geschriebener Literatur geeignet (über die manchmal melodrama­tischen Dialoge kann man schmunzelnd hinwegsehen). Manon Lescaut ist ein­fach ein sehr emotionaler, leidenschaftlicher Liebesroman und als solcher na­türlich ebenfalls zu lesen.

© 2006 by Uwe Lammers

Ihr merkt schon an der nicht minder leidenschaftlichen Form der Darstellung, dass ich da­mals voll und ganz in die Geschichte eingetaucht war. Vielleicht muss man dazu Historiker von Haus aus sein, aber das glaube ich eher weniger. Man braucht einfach nur eine gewisse Affinität zu dem präsentierten Stoff, und die ist, so hoffe ich, bei vielen von euch gegeben.

In der kommenden Woche geht es mal wieder in Richtung Kontrastprogramm. Wenn ihr sehr lange meinem Blog folgt, erinnert ihr euch vielleicht noch an das Sachbuch „Männer, die auf Ziegen starren“. Ja, ja, lange ist es her, ich gebe es zu.3 Aber der amerikanische Journalist Jon Ronson hat nicht nur hierüber ge­schrieben, sondern er verfasste auch ein ungeheuerliches Buch über Extremis­ten … und damit sind jetzt keine Freeclimber oder andere Bergsteiger gemeint, sondern wirklich Extremisten … außerdem geht es um Verschwörungstheorien – und mein Wort drauf, liebe Leser, das ist ein abenteuerliches Buch, das mir fast die Schuhe auszog.

Ich denke, diese Rezension solltet ihr echt nicht verpassen!

Bis demnächst, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. zu dem Leben unter der ständigen Drohung von „lettre de cachet“ auch Justus Franz Wittkop: Graf Mi­rabeau, Frankfurt am Main 1989.

2 Vgl. Janet Gleeson: Der Mann, der das Geld erfand, Wien 2001 (vgl. dazu den Rezensions-Blog 61 vom 25. Mai 2016. Hier findet sich auch ein dezidierter Verweis auf den Roman Manon Lescaut von Prévost (S. 187).

3 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 37 vom 9. Dezember 2015.

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