Rezensions-Blog 287: After Work

Posted September 22nd, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wie in der letzten Woche angedeutet, haben wir es heute mal mit einem voluminösen Roman zu tun – einem von sehr vielen, die z. T. gelesen, z. T. noch ungelesen, in meinen Bücherregalen ihren Platz gefunden haben. Ist er der Phantastik zuzuordnen? Nein, definitiv nicht. Ich würde ihn strukturell als modernen ro­mantischen Liebesroman einstufen, der aber, und da solltet ihr jetzt mit dem Weiterlesen NICHT aufhören, definitiv brennend aktuelle Themen der Gegenwart aufgreift und auf intelligente und plausible Weise thematisiert.

Gewiss, am Ende deute ich darauf hin, dass das Werk einen blinden Fleck aufweist, der mir zumindest unschön aufstieß. Aber grundsätzlich ist der Roman von Simona Ahrnstedt eine schöne, lesenswerte Entdeckung, und ich habe mich seit 2019 auch schon mit einigen weiteren ihrer Werke „verproviantiert“, die hier auf mein lesehungriges Auge warten. Kommt Zeit, kommt auch diese Lektüre.

Wer, wie es in der heutigen Zeit fast unvermeidlich ist, durch die #MeToo-Debatte sensibilisiert worden ist, sollte sich diesen Roman wirklich mal näher anschauen. Und schnupperweise zu­nächst mal meine Rezension durchlesen, die ich anno 2019 schrieb.

Danach könnt ihr entscheiden, ob das in voller Länge etwas für euch ist oder ihr lieber sagt: Nee, ich gehöre vielleicht zu den sexistischen Dinosauriern, emanzipierte Frauen sind nix für mich … dann wärt ihr hier natürlich fehl am Platze.

Allen anderen schlage ich vor: Einfach mal weiterlesen.

After Work

(OT: Allt eller inget)

Von Simona Ahrnstedt

Lyx (keine Verlagsnummer!), 2018

528 Seiten, TB

ISBN 978-3-7363-0559-5

Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg

Die Werbeagentur Sandelman & Dyhr ist in Stockholm eine der eher kleineren Agenturen, in der ein freundschaftliches, kollegiales Teamwork herrscht. Und es ist eine Agentur, in der selbst so eine Quereinsteigerin wie Lexia Vikander eine Chance gehabt hat, hineinzukommen und sich ihren Lebenstraum zu erfüllen. Sie ist mit Herz und Seele Werbetexterin und nimmt dafür auch diverse Eintrübungen des Alltags in Kauf.

Eine dieser Eintrübungen ist der Juniorchef der Agentur, Leo Sandelman. Er ist mit ihrer alten Jugendfeindin Josephine San­delman verheiratet, die inzwischen eine erfolgreiche Bloggerin ist und einen von mehreren hunderttausend Followern geliketen Lifestyle-Podcast moderiert. Und auch wenn sie beide so gut wie überhaupt keinen Kontakt mehr zueinander haben, hasst Jo­sephine Lexia nach wie vor und hänselt sie immer noch – primä­rer Fokus ist Lexias grundsätzliches Problem, das sie selbst auch als Achillesferse ihres schwachen Selbstbewusstseins mit sich herumschleppt: sie isst einfach zu gern und entspricht folgerich­tig eher den Rubens-Figuren des Mittelalters von der Statur her als den gertenschlanken Models, die die Laufstege der Welt be­völkern.

Nun, und Leo schließt sich den gehässigen Tiraden seiner Frau gern an und stichelt Lexia in der Agentur, wann immer er nur kann. Er hat ja auch gut reden, hat eine Eliteschule besucht, eine extrem gute Werbeausbildung gemacht und sieht ständig wie aus dem Ei gepellt aus. Dass er selbst keine eigenen Ideen entwickelt, sondern sich gern mit fremden Federn schmückt (be­sonders gern mit Lexias eigenen Erfolgen), kommt erschwerend hinzu. Überhaupt arbeiten in der Agentur nur sehr wenige Frau­en, und lediglich Dina, die Empfangsdame, hat so etwas wie ei­nen ethnisch anderen Touch, der Rest entspricht dem gängigen Modeklischee: weiß, jung, dynamisch, aus wohlhabendem Haus stammend, und natürlich rank und schlank und sportlich.

Damit könnte Lexia sich jedoch durchaus anfreunden, das ist sie nun seit Jahren gewohnt. Dasselbe gilt für die fanatischen Allü­ren ihrer sportfanatischen Mutter Eva Sporre, die inzwischen zum fünften Mal verheiratet und zudem schon so mager ist, dass sich Lexia ernstliche Sorgen macht (mit Recht, wie der Ro­man zeigt). Jedes ihrer meist nur sehr kurzen Telefonate tränkt Eva mit Vorhaltungen bezüglich Lexias „lukullischer Zügellosig­keit“, was die Tochter regelmäßig dazu zwingt, das Gespräch zu beenden.

Wie gesagt, auch damit könnte sie umgehen.

Doch dann erfährt sie am Ende eines ohnehin schon stressigen Tages, dass die Agentur verkauft worden ist an einen ausländi­schen Investor. Und nun soll ihnen auch noch ein arroganter Däne als Chef vorgesetzt werden. Das gibt ihr den Rest. Schließ­lich muss sie aufgrund ihrer eher geringen Qualifikationen nun um ihren Arbeitsplatz bangen.

Lexia beschließt kurzerhand, ihren sinn- und ziellosen Frust im Alkohol zu ertränken und setzt sich allein an einen Bartresen. Und hier begegnet sie dann auf einmal diesem erstaunlichen Kerl in seinen lässigen Klamotten, der sie wirklich fasziniert. Vielleicht liegt das schon am Alkoholpegel oder daran, dass ihr sowieso alles gleichgültig ist. Oder daran, dass er so gut zuhö­ren kann. Jedenfalls schüttet sie diesem Unbekannten namens Adam ihr Herz aus und klagt auch ihr berufliches Leid, während sie sich dummerweise auf mehr Drinks einladen lässt.

Sie hat zwar nicht den klassischen Filmriss, sondern weiß durch­aus noch, was sie gesagt und getan hat, aber schon einen ar­gen Brummschädel, als sie am kommenden Morgen zu sich kommt und – was selten geschieht – zu spät zur Arbeit er­scheint, zudem in völlig desolater Verfassung. Lexia hofft da im­mer noch, dass das niemand so ernst nimmt und sie sich im Morgenmeeting ein wenig verstecken kann.

Doch dann geht die Tür auf, und herein tritt: Adam Nylund, ge­nau der Mann, dem sie gestern Abend in der Bar begegnet ist und den sie in einem verrückten Überschwang der Gefühle so­gar auf den Mund küsste.

Er ist ihr neuer Chef.

Das ist schon eine verdammt üble Überraschung. Er ist also der­jenige – zumindest kein „verdammter Däne“, wie sie am Vor­abend geschimpft hat – , über den sie in absentia hergezogen ist. Das ist so superpeinlich, dass sie am liebsten im Boden ver­sänke. Und ein Blick in sein emotionsloses Gesicht zeigt ihr, dass auch er absolut nichts vergessen hat.

Um die Lage noch schlimmer zu machen, fordert ausgerechnet Leo Sandelman nun Lexia auf, als erste von ihren aktuellen Pro­jekten zu berichten. Es ist offenkundig, dass er das aus gehässi­ger Berechnung macht, denn Adam muss den Angestellten der Agentur verkünden, dass er im Auftrag des Investors Roy Hans­son, seines väterlichen Freundes, Stellen streichen soll. Und es ist ziemlich deutlich zu spüren, dass Leo gern Lexias Kopf als ersten rollen sehen möchte und sie deshalb zu der desolat gera­tenden Präsentation genötigt hat.

Nun, er wird enttäuscht.

Dennoch erweist sich die erste Arbeitswoche unter der neuen Führung als Alptraum für Lexia. Jenseits der Bar scheint Adam tatsächlich ein eiskalter und rücksichtsloser Perfektionist zu sein, der mehrere Leute ohne Gnade auf die Straße setzt (das schwedische Arbeitsrecht lässt so etwas explizit zu), darunter Lexias Lieblingskollegen. Und Furcht und Schrecken ziehen in die Agentur ein. Zu dumm, dass Lexia sich immer noch zu Adam hingezogen fühlt, wie schon in der Bar. Sie ist völlig durcheinan­der.

Es ist quasi unvermeidlich, dass sie ihrer offen lesbischen Mitbe­wohnerin Siri Stiller, mit der sie zusammen auf einem Hausboot im Stockholmer Hafen lebt, ihr Herz ausschüttet und händerin­gend nach einer Möglichkeit sucht, nicht selbst mangels qualifi­zierten Abschlusses aus der Agentur gefeuert zu werden. Und welch ein Wunder, Siri weiß tatsächlich Abhilfe: sie hat nämlich die letzte Nacht wieder mit einer tollen Frau verbracht, von der sie schwärmt. Und als Lexia Näheres erfährt, ist sie völlig aus dem Häuschen.

Siris neuer Schwarm heißt Ofelia Oscarsson – eine unglaublich berühmte Skirennläuferin, die schon bei den Olympischen Spie­len erfolgreich war und inzwischen auch ein eigenes Dessous-Label besitzt. Und sie, die landläufig Offi O. genannt wird, sucht nun nach einer Agentur für ihre neue Dessous-Werbekampagne, die sich von den einfallslosen, eindimensional ausgerichteten Angeboten anderer Agenturen fundamental unterscheiden soll.

Kurzum: Siri vermittelt, Lexia trifft sich mit Ofelia, und sie sind auch in puncto Diversität und Diätwahn sofort auf einer Wellen­länge. Und wenig später gelingt es Lexia, diese Kampagne an ihre Werbeagentur zu vermitteln.

Leo reagiert mit Bissigkeit darauf und versucht, die Kampagne an sich zu reißen, was allerdings an Adams Einspruch scheitert. Doch während dann Adam an Lexia absolut widersprüchliche Signale der Versöhnung, des dezenten erotischen Interesses und der Harmonie abstrahlt, immer wieder kontrastiert von schroffen, kalten Chef-Allüren, die die Werbetexterin grundlegend verunsichern, kommt noch ein weiterer Faktor in die Agentur, den niemand vorausgesehen hat, nicht mal Adam.

Der Investor Roy Hansson setzt durch, dass seine jüngste Toch­ter Rebecca – ein natürlich hellhäutiges, blendend aussehendes Geschöpf, das auf eine erfolgreiche Modelkarriere zurückblicken kann und ebenso natürlich sofort von Leo umschwärmt wird – in die Agentur eintritt, und Adam spannt sie mit Lexia und Leo zu­sammen für die „Offi O“-Kampagne. Hier macht Rebecca über­haupt keinen Hehl daraus, dass sie Lexia nicht leiden kann. Und mehr und mehr ziehen sie und Leo nach der ersten Pitch-Veran­staltung, die Lexia noch organisieren kann und die Ofelia sehr gefällt, die Kampagne an sich – und erleiden dabei fast Schiff­bruch, da sie sich einen feuchten Kehricht um Diversity scheren. Nur mit Mühe kann Lexia die Sache retten … was ihr von den beiden anderen aber nicht gedankt wird.

Während sich unter so erschwerten Bedingungen zwischen Le­xia und Adam allmählich eine zunehmende erotische Attraktion entwickelt, hat der neue Geschäftsführer ganz andere Probleme, mit denen er niemanden behelligt: er arbeitet nach einer wirk­lich grundlegend traumatischen Kindheit intensiv seit fünfzehn Jahren darauf hin, Roy Hanssons Firma alsbald zu übernehmen. Und Roy macht seinerseits keinen Hehl daraus, dass er sich wünscht, Rebecca und Adam kämen wieder – wie vor so vielen Jahren – zusammen. Aber Rebecca ist die Frau, die ihm das Herz gebrochen und ihn kaltblütig in die Wüste geschickt hat. Er empfindet rein gar nichts mehr für sie.

Stattdessen registriert er immer stärker, wie er auf Lexia Vikan­der reagiert, diese sensible, ruhige, intelligente und in seinen Augen unfassbar erotische Frau. Aber zahlreiche Geheimnisse und Hemmschwellen stehen offensichtlich einem gemeinsamen dauerhaften Liebesglück im Weg. Und dann häufen sich die Ka­tastrophen …

Ich habe diesen voluminösen Roman schon vor Monaten im Buchhandel immer wieder neugierig beäugt und dachte mir: was für eine interessante Grundidee. Man trifft seinen zukünfti­gen Chef ahnungslos in der Bar, findet ihn attraktiv und erotisch und schüttet ihm im cocktailseligen Zustand sein Herz aus, um ihm dann am nächsten Tag amtlich gegenüberzustehen und völ­lig von der Rolle zu sein.

Und gerade in Zeiten der #MeToo-Debatte ist es ja höchst kri­senhaft, etwas Positives über eine Chef-Untergebenen-Liebesbe­ziehung am Arbeitsplatz zu schreiben. Ungeachtet übrigens der Tatsache, dass allgemein bekannt ist, wie häufig es am Arbeits­platz zwischen Kollegen funkt und dort erste Liebesbande ge­knüpft werden, die nicht selten zur Ehe führen (ich kenne da selbst ein Beispiel aus meiner Arbeitswelt). Hier steht sich die #MeToo-Debatte vermutlich ein wenig selbst im Weg. Auf der anderen Seite haben wir im vorliegenden Roman dann natürlich solche sexistischen Dinosaurier wie Roy Hansson, die übergriffig werden (es wird zwar erzählt, er sei glücklich verheiratet, und dies schon seit Jahrzehnten, aber da seine Frau nur ein Phantom im Roman ist, bleibt dies ein reines Lippenbekenntnis).

Psychologisch erweist sich der Roman als feinfühlig gestrickt. Die Autorin lässt sich wohltuend Zeit und Raum für die Entwick­lung komplexer Protagonisten. Weder Lexias noch Adams Bio­grafie ist einfach, nicht ihre Vergangenheit und auch nicht ihre Gegenwart. Themen wie Gewalt in der Ehe, frühe traumatische Verluste, Mobbing und sogar das Problem von digitalem Shitstorm in den sozialen Medien, die Verzerrung von Nachrichten und Interviews durch unzulässige Verkürzung – was schon fast in Richtung von „Fake News“ geht – tauchen hier en passant auf. Ebenso wird der selbst in meinen Augen krankhafte Mager­wahn der modernen Modelkultur auf sehr berechtigte Weise bloßgestellt. Und es werden Lanzen für alternative Lebensmo­delle, Homosexualität und abweichende Körpernormen gebro­chen. Da ist das Buch also höchst aktuell und auch politisch durchaus relevant.

Dass die ernsthafte Erotik erst ab etwa Seite 300 des Romans Raum findet, spielt gar keine zentrale Rolle. Die Geschichte bis dahin ist wirklich alles andere als langweilig, ich habe das Werk binnen von drei sehr kurzweiligen Tagen geradezu verschlungen und werde mich auf die Suche nach weiteren Büchern der Auto­rin machen, soviel steht fest.

Indes … einen Wermutstropfen in diese positive Würdigung des Romans einfließen zu lassen, kann ich dann doch nicht vermei­den. Es ist allgemein bekannt, dass die skandinavischen Länder ein recht starkes Alkoholproblem haben. Und es ist schon legen­där, dass viele Skandinavier beispielsweise nach Norddeutsch­land pendeln, um sich dort „vollzutanken“, weil der „Sprit“ hier preiswerter zu haben ist als beispielsweise in Stockholm. In die­ser Hinsicht, das muss gesagt sein, ist Lexia Vikander eine typi­sche Skandinavierin. Was sie in diesem Roman an Bier, Cock­tails, Sekt und Ähnlichem zu sich nimmt, von ihrem sozialen Umfeld mal ganz zu schweigen, das fand ich doch höchst be­denklich. Aber das ist natürlich der Standpunkt eines Lesers, der seinen Patenonkel durch Suff verloren hat und strikter Anti­alkoholiker ist.

Es ist leider eine Tatsache, dass das verheerende Suchtmittel Al­kohol als Teil des allgemeinen Lifestyles längst in der Mitte der Gesellschaft epidemische Verbreitung gefunden hat. Ich fand diesen Bereich des Romans darum unappetitlich. Aber wer sich daran nicht stört, wird das Buch sicherlich in vollen Zügen ge­nießen können.

Abgesehen von dieser Einschränkung – absolute Leseempfeh­lung!

© 2019 by Uwe Lammers

Das Schöne an Literatur ist, dass permanent Talente nachwach­sen und aus allen möglichen Ländern übersetzt werden – schwedische Romane sind darunter üblicherweise eher wenige. Simona Ahrnstedt ist diesbezüglich aber eine tolle Entdeckung.

In der kommenden Woche kehre ich zu einem meiner Lieblings­autoren zurück, der leider kurz vor Erstellung dieses Rezensi­ons-Blogs am 24. Februar 2020 verstorben ist. Die Rede ist von Clive Cussler. Um welches seiner zahlreichen Werke es nächste Woche geht, erfahrt ihr, wenn ihr hier wieder vorbeischaut.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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