Rezensions-Blog 319: Flucht ins Heute

Posted September 29th, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ach ja, Zeitreisen … das ist ein Sujet, um das ich mich sowohl in meinen eigenen Geschichten gern kümmere als auch höchst neugierig solche Romane anderer Verfasser schmökere, in de­nen es um derartige Reisen geht. Und hier liegt einer vor, den man mutmaßlich schon zu den Klassikern zählen muss. Nicht nur deswegen, weil er mit H. G. Wells und seiner „Zeitmaschi­ne“ DEN Klassiker schlechthin zitiert.

Ich meine, auch wenn Romanstoffe verfilmt werden (über die Qualität von beidem lässt sich dann trefflich streiten), sollte man sich die Werke ein wenig näher anschauen. Im Fall des vor­liegenden alten Heyne-Taschenbuchs lohnt sich das in der Tat – deutlich mehr als im Fall des Werkes, auf das ich in der vergan­genen Woche zu sprechen kam.

Karl Alexander versucht auf durchaus nette Weise, sowohl Wells‘ Klassiker fortzuspinnen als auch das Mysterium um das Verschwinden von Jack the Ripper aufzuhellen. Derlei Versuche gab es ja bekanntlich zahlreiche.

Also folgt mir einfach mal ins neblige London Ende des 19. Jahrhunderts und sodann, schwupp, via Zeitreise ins sonnige Kalifornien des Jah­res 1979:

Flucht ins Heute

(OT: Time After Time)

von Karl Alexander

Heyne 3943

München 1983

272 Seiten, TB

Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz

ISBN 3-453-30871-9

Man schreibt das Jahr 1893. Der Schriftsteller Herbert George Wells versammelt seine Freunde und Kritiker in einer abendli­chen Runde, um ihnen seine neueste Erfindung zu präsentieren – eine waschechte Zeitmaschine, mit der man sich aus dem Hier und Jetzt lösen kann. Doch dummerweise vermag er sie ih­nen nicht vorzuführen, da es zu einer verhängnisvollen Kompli­kation kommt.

Ehe er zur Vorführung schreiten kann, stürmen Polizisten von Scotland Yard das Haus. Sie suchen einen berüchtigten Verbre­cher, niemand Geringeren als Jack the Ripper, der nach fünf Jah­ren Pause wieder mit seinem blutrünstigen Handwerk begonnen hat.

Die Suche bleibt erfolglos – aber Wells entdeckt mit Entsetzen im Anschluss dieses Vorfalls in der Tasche seines Freundes und Gastes John Leslie Stevenson unleugbare Beweise, dass er der Gesuchte ist … und dann muss er feststellen, dass seine Zeit­maschine verschwunden ist.

Jack the Ripper ist entkommen, dank seiner Erfindung!

Glücklicherweise gibt es eine Rückholschaltung, und Wells kann die Verfolgung durch Raum und Zeit aufnehmen, bangen Her­zens, denn tief in seinem Herzen ist er ein friedliebender Mensch, und Gewalt ist ihm verhasst. Er empfindet es dennoch als seine Pflicht, den Verbrecher einzufangen und der Gerechtig­keit zuzuführen.

Zu seiner nicht geringen Verwirrung findet er sich im Jahre 1979 wieder (dem Ersterscheinungszeitpunkt des vorliegenden Ro­mans, daraus resultiert der deutsche Titel), und zwar in San Francisco. Allerdings wird ihm schnell klar, woran das liegt: Sei­ne Zeitmaschine „Utopia“ ist hier Teil einer Wanderausstellung.

Das Abenteuer 20. Jahrhundert durch die Linse von Wells´ Au­gen zu erleben, ist eine amüsante Achterbahnfahrt, die äußerst lesenswert ist. Für eine Weile verschwindet fast das Missionsziel aus dem Blick, einen blutrünstigen Massenmörder aufzuhalten – zumindest solange, bis Jack the Ripper in der amerikanischen Metropole zu morden beginnt. Und diesmal scheint es ganz so, als ob die Zeit selbst sein Verbündeter ist …

Den vorliegenden Roman las ich erstmals im Dezember 1988, als ich ihn als Teil eines umfangreichen Romankonvoluts eines Antiquariats erwarb. Damals versäumte ich es allerdings, ihn zu rezensieren, und die Erinnerung an das Werk war nach knapp 30 Jahren Lesedistanz entsprechend diffus. Es handelte sich aber auch bei der Zweitlektüre um ein ordentliches Vergnügen. Solide übersetzt, kommen der Wortwitz und die bizarren Trug­schlüsse von Wells und Stephenson sowie die amüsanten Wort­gefechte vergnüglich herüber.

Dass es sich indes, wie der Klappentext vollmundig verspricht, um einen „brillanten Roman“ handelt, „der auch die vertrack­teste Logik der Zeitparadoxa mühelos überspielt“, kann man eher nicht behaupten. Handwerklich gelungen, ja, kompliziert … eher nicht. Die „komplexe Handlung“ ließe sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen, und es gibt hier gewisse Standardzu­taten wie die leichtlebigen Frauen von San Francisco sowie die phantasielosen Polizisten … dass es von Karl Alexander offen­sichtlich keine weiteren Veröffentlichungen gegeben hat, spricht eher für die Deutung, dass der Autor in diesem Werk schon sein ganzes Pulver verschossen hatte. Es ist zwar so, dass der Ro­man im Erscheinungsjahr erfolgreich als Film unter der Regie von Nicholas Meyer in die Kinos kam, aber von weiteren Roma­nen von Alexander (1938-2015) ist gleichwohl nichts bekannt. Lediglich ein Sequel des o. g. Werks aus seiner Feder wird noch erwähnt, das aber wahrscheinlich nie ins Deutsche übertragen wurde.

Gleichwohl – wer Zeitreiseromane mag, eine romantische Ader besitzt und vielleicht noch neugierig darauf ist, warum wohl Jack the Ripper nie gefasst wurde, der ist mit diesem Roman gut ver­sorgt und kann ein paar Stunden lang auf angenehme Weise aus der Gegenwart ausklinken. Es gibt definitiv sehr viel trübsinnigere Lektüren, wie ich finde. Das Buch wird auch nach zweimaliger Lektüre gewiss in meinem Bücherregal verbleiben.

Klare Leseempfehlung.

© 2016 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche kehren wir dann in den Schlussakkord der „Calendar Girl“-Romanreihe zurück und erfahren endlich Näheres über die vertrackten Familienverhältnisse von Mia Saunders und darüber, ob sie nun ihr Liebesglück findet oder eher nicht.

Neugierig bleiben, Freunde!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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