Rezensions-Blog 327: Bei Hitlers

Posted November 24th, 2021 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Zeitzeugen und ihre Erinnerungen sind kritische Quellenmaterialien bei der Erforschung der Geschichte. Einerseits sind sie definitiv unverzichtbar – wie man etwa im Fall von Holocaust-Überlebenden erkennen kann, da das erlebte Grauen so sehr den Rahmen des Vorstellbaren sprengt, dass man nur durch derartige Berichte wirklich nah an die Ereignisse herantreten kann. Andererseits gerät man als Historiker stets in Gefahr, un­kritisch den Stimmen der Vergangenheit Glauben zu schenken und dann, meist unabsichtlich, von der verwaschenen Erinne­rung der Zeitzeugen in die Irre geführt zu werden.

Interviews stellen also zweischneidige Schwerter dar, und je jünger die Befragten zur entscheidenden Zeit waren und je älter sie heutzutage notwendig geworden sind, desto vorsichtiger muss man als Interviewer sein und versuchen, durch die eigene kritische Distanz und das gegenwärtige zeithistorische Wissen die Defizite der Zeitzeugen aufzufangen.

Geschieht das nicht, wird die Lektüre einer solchen Publikation, wie ich sie heute vorstellen möchte, doch recht enttäuschend und verliert massiv an historisch-dokumentarischem Mehrwert. Der österreichische Journalist Kurt Kuch, der die alte Anna Plaim interviewt hat, die einige Monate lang im Machtzentrum des Na­tionalsozialismus, auf dem Obersalzberg im Jahre 1941 gearbei­tet hat, hat eigentlich alle Fehler begangen, die oben erwähnt worden sind: er nahm an, die Quelle sei von außerordentlichem Wert (worin er sich durchaus täuschte), er hielt die kritische Di­stanz nicht aufrecht und insistierte unnötig intensiv auf Sach­verhalten, die eigentlich zeithistorisch wenig zur Sache beizu­tragen haben. Und schlussendlich kompensierte er die begrenz­te Aussagekraft der interviewten alten Dame nicht hinreichend durch moderne zeithistorische Texte.

Herausgekommen ist ein Buch, das sich zwar durchaus gefällig lesen ließ, aber doch einen enttäuschend schalen Nachge­schmack zurückließ.

Das wenigstens ist auch 15 Jahre nach der Lektüre immer noch meine Meinung. Aber vielleicht bin ich zu anspruchsvoll, und eventuell seht ihr das ja völlig anders. Das könnt ihr jetzt nach­prüfen – einfach weiterlesen:

Bei Hitlers

von Anna Plaim und Kurt Kuch

Knaur 77758, TB

April 2005

144 Seiten, 7.90 Euro

ISBN 3-426-77758-4

Der Starkult ist kein reines Phänomen der Gegenwart, und er beschränkt sich auch nicht allein auf Film, Fernsehen und Pop­musik, wiewohl er dort heute wohl am ausgeprägtesten ist. Starkult ist und war immer auch problematisch, nicht zuletzt für die Betroffenen, deren Privatleben häufig arg in Mitleidenschaft gezogen wird.

Doch ist Starkult, mag man sich zu Recht fragen, von histori­schem Interesse? Durchaus, wenn sich dieser auf Personen der Zeitgeschichte bezieht. Beispielsweise im Falle von Anna Plaim, geb. Mittlstrasser, und ihr Anhimmeln des deutschen „Führers“ Adolf Hitler …

Anna Plaim war zum Zeitpunkt, da dieses auf ihren Lebenserin­nerungen basierendes Buch erschien, 83 Jahre alt und blickte auf ein im Wesentlichen recht unspektakuläres Leben zurück. Gäbe es da nicht das Jahr 1941 und jene Monate, in denen „Anni“ ganz überraschend, auf den Berghof Adolf Hitlers auf dem Obersalzberg berufen wurde, um Zimmermädchen bei Hit­ler und dessen heimlicher Gefährtin Eva Braun zu sein. Diese Monate machen sie zeitgeschichtlich zu einer interessanten Chronistin für Einblicke in die intimsten Sphären einiger der höchsten NS-Funktionäre, und das überdies in einer kritischen Zeit.

Anna Mittlstrasser, 1920 im österreichischen Loosdorf als Toch­ter eines Wagners geboren, der traditionell „schwarze“, also im Wesentlichen deutschnationale, nicht nationalsozialistische Auf­fassungen vertrat (und dies auch während der NS-Zeit in Öster­reich nicht änderte), ist eigentlich in jeder Beziehung ein ganz normales Mädchen, das im Grunde genommen aus dem Ort oder dem Landstrich kaum herausgekommen wäre. Nichts sprach dafür, dass sie irgendwann einmal näher an das Zen­trum des Faschismus, den deutschen Diktator Hitler, rücken würde.

Der Zufall aber, der so oft die Geschicke der Geschichte uner­wartet lenkt, will es, dass ihr Cousin Willi, den sie bis zum Jahre 1938 nicht kennt, schon frühzeitig mit der NSDAP und dem „Führer“ in Kontakt kommt. Als Willi mit seiner Frau Gretel auf Hochzeitsreise die Verwandten in Loosdorf besucht, ergibt sich ein Kontakt zwischen den beiden Frauen, doch denkt die damals achtzehnjährige „Anni“ nicht darüber nach, dass sich daraus et­was entwickeln könnte. Es kommt ihr ähnlich unwahrscheinlich vor wie viel später den Mitgliedern des SED-Zentralkomitees im Herbst 1989, in ein paar Tagen könne die Berliner Mauer fallen …

Doch Gretel Mittlstrasser erhält schließlich eine wichtige Funkti­on auf dem Berghof bei Berchtesgaden und entsinnt sich ihrer jungen Verwandten. So kommt „Anni“ völlig überraschend, ge­wissermaßen wie die Jungfrau zum Kinde, auf den Berghof und berichtet fortan völlig überwältigt in langen „tagebuchartigen“ Briefen an ihre Eltern, was ihr hier widerfährt. Mehr noch: sie ist zwar zur Geheimhaltung verpflichtet worden, insbesondere, was die pikante Beziehung zwischen dem „Führer“ und Eva Braun angeht, die im Grunde genommen Annas Chefin wird, doch die junge Österreicherin nutzt jede Gelegenheit, Devotionalien in Si­cherheit zu bringen, die sonst wahrscheinlich der Vernichtung anheimgefallen wären.

Beispielsweise?

Ein Fotoalbum mit Farbfotos des Berghofs, das zu großen Teilen in einem beeindruckenden Bildteil dieses Buches zu finden ist. Eine Reihe von Fotos, die von Eva Braun gemacht wurden und die diese zerrissen in den Papierkorb geworfen hat, weil sie ihr missfielen. Selbst so närrische Dinge wie eine Konfektschachtel, die auf Hitlers Schreibtisch stand und ein Löschblatt mit Abdrü­cken seiner Unterschrift wandern in Annas „Souvenirsammlung“ vom Berghof.

Wer sich freilich epochale Neuigkeiten über das „Leben der Schönen und Reichen“ des Nationalsozialismus von diesem Buch erwartet, der wird enttäuscht. Ähnlich, wie es auch im mo­dernen Starkult ist, wo Kleinigkeiten und Banalitäten, Anekdo­ten und Tratsch breitgetreten und in manchmal unverständli­cher Weise zu Sensationsmeldungen aufgebauscht werden, so ähnlich verhält es sich auch hier.

Die völlig begeisterte und überwältigte Anna Plaim berichtet recht unkritisch und damit auch eher oberflächlich von den klei­nen Hofintrigen der NS-Funktionäre, von Besonderheiten bei Tischgedecken, vom Versteckspielen Eva Brauns im Falle von offiziellen Besuchen – im Grunde genommen also bekannte oder zu vernachlässigende Tatsachen – , von Überfluss und edlem Es­sen, während der deutsche Durchschnittsbürger bereits Hunger litt und die Nahrungsmittel rationiert wurden. Es ist eben die Perspektive einer enthusiastischen, überwältigten Zwanzigjäh­rigen aus der Provinz, die völlig überraschend in eine Art von Paradies versetzt wurde und mit Luxus und berühmten Perso­nen konfrontiert wird, was ihre kühnsten Erwartungen übertrifft.

Da bleibt kein Platz für kritisches Reflektieren. Schon gar nicht im Alter von 20 Jahren.

Bedauernswert ist freilich, dass sich auch am Schluss solche Re­flexionen nur bedingt einstellen. Das Buch, komplett in Gestalt eines langen Interviews gehalten, was die Lesbarkeit enorm steigert, ermangelt leider einer stringenten, kritischen Fragehal­tung, was man dem österreichischen Coautor und Journalisten Kurt Kuch zur Last legen dürfte. Er bereitet das Material gewis­sermaßen „mediengerecht“ auf, er stellt „altersgerechte“ Fra­gen an die hochbetagte Dame und insistiert manchmal übertrie­ben lange auf nebensächlichen Details. Eine Parallele zu den Le­benserinnerungen von Traudl Junge ist hier durchaus zu ziehen.

Vom Standpunkt der Biografiegeschichte ist Anna Plaims Leben also nett, aber im Grunde genommen relativ unergiebig. Vom Standpunkt des Zeithistorikers, der stets auf der Suche nach originalen Quellen sein muss, bietet hingegen die Sammlung der Österreicherin einige schöne Dinge dar. Ergänzende Essays von historischer Relevanz hätten die Bedeutung dieses Buches und ihre Einordnung in den historischen Gesamtkontext erheb­lich gesteigert. Die wenigen Seiten des Journalisten, auf denen die Biografien prominenter Protagonisten (die Auswahl ist un­vollständig, die Kriterien nicht recht nachvollziehbar) in Kurz­form dargeboten werden, reichen zur Wertsteigerung nicht aus, auch nicht die sehr knappe mehrseitige Chronologie zum „Auf­stieg und Fall Hitlers“, der nach dieser Darstellung erst 1919 diese Welt betritt …

© 2006 by Uwe Lammers

Ich deutete ja oben an, nach der Lektüre war nur bedingt über­zeugt von dem Buch. Das gilt – aus anderen Gründen – auch von dem Werk der kommenden Woche. Aber da kehren wir ori­ginär in die Science Fiction zurück … auch wenn wir in der Steinzeit landen.

Was das heißen soll? Das erfahrt ihr in sieben Tagen hier.

Bis dann, mit Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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