Rezensions-Blog 344: Der Tod ist mein Beruf

Posted März 23rd, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist jetzt fast 20 Jahre her, dass ich dieses Buch gelesen habe, das im Gewand einer Autobiografie daherkommt, in Wahrheit aber mehrheitlich fiktional ist. Natürlich, die darin erscheinen­den und agierenden Protagonisten waren real, und die Verbre­chen ebenso. Auch kann man mit Fug und Recht annehmen, dass Robert Merle vor Abfassung des Romans gründliche histori­sche Recherchen betrieben hat, um jedes Detail akkurat und präzise darzustellen.

Der Rest indes ist – gelungene – Fiktion. Die Intention des Au­tors besteht darin, janusgesichtig einerseits die vergangenen Verbrechen des Protagonisten darzustellen … aber zugleich durch die Wahl der Erzählperspektive Emotionen beim Lesern auszulösen, die die Entscheidung nachhaltig beeinflussen, ob man es hier mit einem Monster zu tun hat oder nicht.

Aber ich würde sagen: entscheidet einfach selbst und lest wei­ter. Es lohnt sich.

Der Tod ist mein Beruf

(OT: La Mort est mon métier, 1952)

von Robert Merle

Aufbau-Taschenbuch-Verlag

304 Seiten, 11. Auflage, 2008

Übersetzt von Curt Noch

Bücher über den Zweiten Weltkrieg gibt es zahllose. Auch Wer­ke über Protagonisten dieses größten europäischen Krieges der Neuzeit sind wie Sand am Meer in den Buchhandlungen und Bi­bliotheken vertreten, und doch … und doch kann ich ohne den geringsten Zweifel sagen, dass mich kein Werk seit langem so dermaßen erschüttert und fassungslos gemacht hat wie dieses. Das hat zwei Gründe, die eng miteinander verzahnt sind.

Zum einen ist es hier nicht ein OPFER des nationalsozialisti­schen Terrors, das berichtet, wie sein Leben unter der Vorherr­schaft des Dritten Reiches verlief. Zeugenliteratur, darunter sehr bewegende und aufwühlende Werke wie „Renas Verspre­chen“ von Rena Kornreich Gelissen1, ist ein ebenso uferloses Gebiet wie die Sachbücher über das NS-Reich. Nein, hier wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der auf der anderen Seite stand. Die Geschichte eines Täters, der bis in die höchsten Rän­ge der Gesellschaft aufstieg und einer der Hauptverantwortli­chen an den ungeheuerlichen Verbrechen der Nazis wurde.

Zum zweiten ist es die Form, in der dieser Bericht überliefert wird. Es ist eine Biografie. Ja. Es ist eine aus der Distanz ent­standene Romanbiografie. Ja. Doch darüber hinaus, und das macht die Geschichte so unerträglich und entsetzlich, so be­klemmend und wahnsinnig … darüber hinaus ist sie in der ers­ten Person Singular geschrieben.

Der erste Satz des Buches lautet: „Ich bog um die Ecke der Kai­serallee, böiger Wind und eiskalter Regen schlugen an meine nackten Beine, und ich dachte voll Angst daran, dass Sonn­abend war.“ Wir befinden uns im Jahre 1913, der Protagonist, der erzählt, ist 13 Jahre alt, ein kleiner Junge also, und der Leser hat Schwierigkeiten, sich klarzumachen, dass dieser Protago­nist, mit dem man sich von Anfang an unwillkürlich identifiziert, später einer der größten Massenmörder der deutschen Ge­schichte sein wird!

Der Junge hört in dem Roman auf den Namen Rudolf Lang, doch dies ist ein durchsichtig gewähltes Pseudonym, wie auch der Autor Robert Merle am Ende bereitwillig zugibt. „Rudolf Lang“, so schreibt er, „hat existiert. Er hieß in Wirklichkeit Rudolf Höß und war Lagerkommandant von Auschwitz.“

Es fällt schwer, das zu glauben.

Es fällt dem Leser über die Hälfte des Buches wirklich schwer, diesen Mann für ein monströses Ungeheuer zu halten, und wenn man als gewissenhafter Leser ehrlich ist … dann fällt es ihm auch gegen Ende des Buches noch schwer. Denn während des Lesens wächst widerwillig im Rezipienten ein Gefühl, das eigent­lich gar nicht aufkommen sollte, das aber aufkommen MUSS, damit man dieses Buch überhaupt lesen kann – es ist Verständ­nis. Verständnis für jenes Monstrum, dessen Genese man von den frühesten Kindertagen an verfolgen kann.

Robert Merle skizziert akribisch die Erziehung, das Elternhaus und das schulische Umfeld des jungen Rudolf, den strenggläubi­gen katholischen Vater, der möchte, dass sein Sohn Priester wird; der zugleich auf Frauen mit distanziertem Abscheu her­abblickt und dem einzigen Sohn unerbittliche Strenge und deut­schen Ordnungssinn einbläut.

Der junge Rudolf wird hin- und hergerissen zwischen Pflichter­füllung und Angst dem Vater gegenüber, er empfindet Bewun­derung für Soldaten, versucht im Ersten Weltkrieg selbst mehr­fach, minderjährig an die Front zu gelangen; als es ihm jedoch endlich gelingt, erweist sich sein unbedingter Gehorsam gegen­über Ranghöheren, seine Ehrlichkeit und seine Disziplin bald als Problem. Rudolf ist nicht kameradentauglich. Er ist nicht gesel­lig. Er ist gerne alleine, kann nichts mit Frauen anfangen, er ist, wie er selbst verlegen zugibt, „nicht sinnlich veranlagt“. Nichts gibt das prägnanter wieder als die Bemerkung einem Kamera­den gegenüber, als er von seinem ersten Mal bei einer Frau be­richtet und dann, kurz angebunden fortfährt: „Es hat mich nicht zur Wiederholung veranlaßt.“

In der Tat: Rudolf Lang/Höß ist „wie ein toter Hering“. Gefühls­arm. Bedauernswert. Kann man ein Ungeheuer bedauern?

Nach dem Krieg findet er sich entwurzelt wieder. Er hat den Glauben an die Kirche verloren, der Vater ist ebenso wie die Mutter tot, Rudolf selbst hat nur das Handwerk des Kriegers ge­lernt und gerät in das verstörende Räderwerk der unruhigen Weimarer Republik, kann mit Spartakisten und Kommunisten nichts anfangen, er eignet sich nicht als Handwerker in einer Fa­brik, wo ihm seine Ehrlichkeit und sein Arbeitseifer von Seiten der Kollegen fast Feindschaft eintragen. Erst in den Freikorps und schließlich in der jungen NSDAP findet er wieder einen Sinn, ein Ziel, eine straffe Organisation, jemandem, dem er gehor­chen kann.

Schließlich bringt er es durch seinen unbedingten Gehorsam bis zum Lagerleiter des KZ Dachau nach dem Antritt der nationalso­zialistischen Machthaber. Und bald darauf wird ihm eine Aufga­be angetragen, die so groß ist, die angeblich nur er bewältigen kann, dass Rudolf ganz automatisch alles tut, um sich würdig zu erweisen (zumal ihm rasch bewusst wird, dass bei Nichtbewälti­gung ein Genickschuss die Strafe sein wird).

An dieser Stelle jedoch beginnt der Roman in die ungeheuerli­che Realität hinüberzugleiten, in eine Realität, die ob ihrer Dar­stellungsform noch immer fast die Grenzen des Darstellbaren sprengt. Wenn Heinrich Himmler davon spricht, dass „in Treblin­ka … in sechs Monaten nicht mehr als achtzigtausend Einheiten liquidiert …“ werden konnten, dann weiß der Leser, dass man statt Einheiten Juden lesen muss. Menschen. Biografien.

Auftritt des Obersturmbannführers Wulfslang, ein „dicker, rot­haariger Mann, geradezu und jovial, der dem Mittagessen, das Elsi ihm vorsetzte, alle Ehre antat“. Ein Statistiker des Todes. Ein Mann, der Rudolf in kalter Sprache erläutert, dass Treblinka na­türlich kein Maßstab sei und dass der Reichsführer SS von ihm erwarte, in den ersten sechs Monaten fünfhunderttausend Ein­heiten abzufertigen.

Das schockiert selbst den Ich-Erzähler Rudolf Höß. Allerdings nicht aus moralischen Gründen. Aus Gründen der technischen Machbarkeit. Er hat Angst zu versagen. Das ist sein Problem.

Seien wir gnädig und übergehen den Rest der Geschichte bis auf ein kleines Stück. Wir Nachlebenden wissen, dass Rudolf Höß seine Aufgabe (leider) meisterte. Er ging in die Geschichte ein als der Kommandant des berüchtigtsten Konzentrationsla­gers der Nationalsozialisten, eines Lagers, in dem weit mehr als zwei Millionen Menschen den Tod in den Gaskammern und Kre­matorien fanden, wo sie durch Arbeit und gezielt durch Gift li­quidiert wurden.

Als er im Jahre 1946 verhaftet und im Jahre 1947 vor Gericht ge­stellt wird, befragt man ihn danach, warum er an diese Position habe gelangen können, und Rudolf erwidert nüchtern: „Man hat mich wegen meines Organisationstalents ausgewählt.“ Und be­zogen auf die Frage, ob er den Judenmord noch einmal begehen würde, wenn man ihn befehle, bejaht er das. Daraufhin wird ihm vorgehalten, er handelte in einem solchen Fall also gegen sein Gewissen.

Ich stand stramm, sah geradeaus und sagte: ‚Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie verstehen meinen Standpunkt nicht. Ich habe mich mit dem, was ich glaube, nicht zu befassen. Meine Pflicht ist, zu gehorchen.’“

Verständlich, dass er als „vollkommen entmenscht“ eingestuft wird.

Robert Merle fügt noch aus der Ich-Perspektive des Massenmör­ders hinzu: „Daraufhin drehte er mir den Rücken zu und ging weg. Ich fühlte mich erleichtert, als ich ihn gehen sah. Diese Besuche und Diskussionen ermüdeten mich sehr, und ich fand sie zwecklos.“

Zwecklos deswegen, weil er die moralische Dimension seiner Taten akribisch ausgeblendet hat. Er hat „Einheiten“ behandelt, er hat ihnen eine „Sonderbehandlung“ angedeihen lassen, dar­um gerungen, sein „Plansoll“ zu erfüllen, seine „Pflicht“ zu tun. Rudolf Lang/Höß ist ein gewissenhafter Mann, ein wahrer Deut­scher, was seine Ordnungsliebe angeht. Und seine Schuhe, dies sollte man betonen, so trivial es klingen mag, waren immer gut geputzt, das hat er niemals von einem KZ-Häftling machen las­sen, sondern stets selbst in die Hand genommen.

Alles, was Rudolf Lang tat, tat er nicht aus Grausamkeit“, schließt Robert Merle das Buch, „sondern im Namen des kate­gorischen Imperativs, aus Treue zum Führer, aus Respekt vor dem Staat. Mit einem Wort, als ein Mann der Pflicht: Und ge­rade darin ist er ein Ungeheuer.“

Unbestreitbar, darin ist ihm Recht zu geben. Aber die Implikati­on, die sich daraus erschließt, ist furchterregend global, denn sie beschränkt sich nicht allein auf den Zweiten Weltkrieg und auf nationalsozialistische Bestien, die in einer Demokratie ver­mutlich gewissenhafte Bürokraten und Architekten geworden wären. Da Robert Merle eine psychologisch sehr beeindrucken­de und beklemmende Studie eines ganzen Lebens liefert, legt er hier die Strukturen der frühkindlichen und jugendlichen Prä­gung frei, die das gesamte restliche Leben dominieren können, wenn man es zulässt. Wenn jemand also – wie Rudolf Höß – in einer solchen Welt aufwächst, in der rigide Ordnungsnormen und ein starrer Moralkodex, eine weitgehend inhaltslose und nur in Ritualen erstarrte religiöse Sicht das gesamte Leben gestal­ten, dann kann ein entsprechendes menschliches Ungeheuer überall heranwachsen.2

Überall.

Der Faschismus, so lehrt dieses Buch zwischen den Zeilen, fin­det sich in jedem repressiven, militaristisch orientierten System, und in Zeiten des Chaos und der zerbrechenden Ordnung drän­gen ziellose Charaktere ans Tageslicht und suchen nach einer neuen Leitfigur. Solche Menschen werden rasch Opfer von Dem­agogen, und nicht selten sprengt der Terror, sprengt das Entset­zen, das daraus entsteht, jede Grenze.

Dieses Buch ist ein überaus eindringliches Plädoyer, von einer hastigen, sehr bequemen und generellen Verurteilung der Täter Abstand zu nehmen und die – durchaus unheimliche und belas­tende – Arbeit auf sich zu nehmen, Verständnis für diese Leute zu entwickeln, die man sonst rasch als „die Nazis“ abtut. Wie man es im Übrigen auch mit Vergewaltigern tut, die manchmal binnen einer halben Stunde vom anständigen Nachbarn zum absoluten, geächteten Untier mutieren können. In der Volksmei­nung.

Die Wahrheit ist unsympathisch: sie besagt nichts weniger, als dass jeder von uns in einer solchen Lage sein könnte – voraus­gesetzt, die Umstände sind richtig, vorausgesetzt, die Erziehung ist auf eine solche Weise schiefgegangen wie bei Rudolf Höß. Und da so ziemlich jeder sich irgendwann einmal in die Lage versetzt sieht, eigenen Nachwuchs zu erziehen, sollte dieses Buch Pflichtlektüre werden, damit man weiß, was man besser NICHT machen soll.

Die Lektüre dieses Buches könnte Leben retten. In der Zukunft.

© 2003/2009 by Uwe Lammers

Ich weiß, das war harter Stoff und vermutlich einigermaßen überraschend. Aber ihr wisst, ich rezensiere nicht nur seichte Li­teratur oder Phantastik, sondern eben auch gelegentlich schwierige Bücher. Auf der anderen Seite wird stets dann für Abwechslung gesorgt, so im Fall der kommenden Woche, wo ich den Schlussband des „Crossfire“-Zyklus bespreche.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. dazu den Rezensions-Blog 89 vom 7. Dezember 2016.

2 Nachbemerkung 2009: In Anbetracht der aktuellen Ereignisse in Nahost sollte es nie­manden verblüffen, wenn ich hierbei fast automatisch an den Staat Israel denken muss, der sich primär über religiöse Grundrechte am Levanteboden definiert und des­halb quasi notwendig immerzu gegen das geltende Völkerrecht wendet. Auch hier ist Faschismus natürlich möglich, und Menschen vom Schlage eines Rudolf Lang dürften in der israelischen Führung und Armee keine seltene Erscheinung in diesen Tagen sein. Ich halte das für bedenklich.

Nachbemerkung 2021: Daran hat sich in den vergangenen 12 Jahren leider nicht viel zum Positiven verändert. Generell sind Autokraten weltweit traurigerweise immer noch sehr einflussreich, und überall dort sind quasi-faschistische Auswüchse, die sol­che „Monster“ wie oben dargestellt, hervorbringen, prinzipiell möglich.

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