Liebe Freunde des OSM,

wer sich für Archäologie und besonders für Ägyptologie interes­siert, für den stellt das Tal der Könige natürlich kein Geheimnis dar, sondern ist ein Ort, den man mindestens lesend und in Bildbänden längst erschlossen haben sollte. Ebenso ging es mir natürlich, der ich von Kindesbeinen an mit der alljährlich aktua­lisierten Impression der Ägypten-Ausstellung im Hildesheimer Roemer-Pelizaeus-Museum konfrontiert wurde und in dessen pri­vater Bibliothek sich unzählige Werke zur Pharaonenkultur be­finden.

Und doch hat mich das vorliegende Buch äußerst positiv über­rascht. Denn wer glaubt, es gäbe wohl kaum mehr etwas Neues zum Tal der Könige zu berichten (auch die moderne National Geographic-Dokumentationsreihe Tal der Könige tut sich da, zu­gegeben, etwas schwer, wiewohl sie einfach toll ist und unter „Tal der Könige“ offenbar das gesamte Niltal versteht), der wur­de 1995 eines Besseren belehrt, auf spektakuläre Weise.

Was als unscheinbares kleines und fast vollkommen verschütte­tes Grab am Eingang des Tales jahrhundertelang klassifiziert und zeitweise sogar verschollen war, barg eine spektakuläre Entdeckung, die wirklich ihresgleichen nicht hat. Und zwar we­der im Tal der Könige noch sonst irgendwo in den bislang ar­chäologisch erschlossenen Grabstätten im einstigen Reich der Pharaonen.

Das Grab der Ramsessöhne, wie es genannt wird – ein unterirdi­sches Labyrinth, in dem noch immer gegraben wird, seit mehr als 25 Jahren … ein Ende dieses gigantischen Ausgrabungspro­jekts ist nicht in Sicht. Ständig werden neue Gänge freigelegt, neue Kammern ausgegraben … es ist zwar etwas still im Inter­net um die neueren Forschungen zum Grab mit der Kennziffer KV 5 geworden, aber das heißt nicht, dass Stillstand einträte oder nichts mehr zu berichten wäre.

Das, was ich am Ende der Rezension geschrieben habe, gilt heute nach wie vor: der Neugierige kann immer noch beständig auf Neuigkeiten der Ausgrabung von KV 5 hoffen.

Und im nachfolgenden Buch berichtet der Ägyptologe Kent Weeks auf mitreißende Art und Weise, wie das alles begann. Folgt mir in ein beeindruckendes Forschungsabenteuer, das im­mer noch andauert:

Ramses II – Das Totenhaus der Söhne

Die sensationelle Ausgrabung im Tal der Könige

(OT: The Lost Tomb)

von Kent R. Weeks

Droemer-Verlag & GEO

372 Seiten, geb., 1999

Übersetzt von Michael Schmidt

ISBN: 3-426-26968-6

Das thebanische Tal der Könige (Kings Valley, KV) auf dem West­ufer des Nil gehört zu den am intensivsten durchwühlten Land­schaften der Erde. In kaum einer Weltgegend von archäologi­schem Interesse haben Wissenschaftler seit etwas mehr als zwei Jahrhunderten (und Grabräuber seit einigen Jahrtausen­den) so ausdauernd einen Stein nach dem anderen umgedreht und einen Hügel nach dem nächsten umgraben als hier.

Der Lohn dieser Ausgräberei war die Entdeckung von 61 Königs­gräbern oder den Ansätzen dazu, allesamt geplündert und mehr oder weniger derangiert. Einzig ein verbissener Brite hatte noch den Ehrgeiz, dem äußeren Schein nicht zu trauen – Howard Car­ter. Er fand schließlich das 62. Grab, das einzige, das niemals ausgeraubt worden war, und er wurde auf diese Weise ein Held der Archäologie. Das 1922 ans Tageslicht kommende Vermächt­nis des Kindpharaos Tutanchamun ist bis heute der mit Abstand legendärste Schatz, den das Tal der Könige preisgab.

Bis heute? Nun, sagen wir, bis zum Jahre 1995.

Obgleich die Gräber seit rund 200 Jahren so gut erforscht und dokumentiert worden waren, stellte der junge amerikanische Ägyptologe Kent Weeks in den 70er Jahren fest, dass es keiner­lei Karte der Nekropolen auf dem westlichen Nilufer gab. Und er konstatierte zutreffend, man könne nur das vor Plünderung, Zerfall und Zerstörung bewahren, was man kenne.

Die Konsequenz war die Schaffung des überwiegend privat fi­nanzierten „Theban Mapping Project“, das sich die Erstellung ei­ner solchen möglichst genauen Karte aller Grab- und Tempelan­lagen rings um Luxor und Theben auf die Fahnen geschrieben hatte. Nach einer Weile allgemeiner Recherchen schien es zweckmäßig zu sein, dort Detailarbeit zu leisten, wo schon viel gemacht worden war – im Tal der Könige.

Im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten waren nämlich Gräber und Eingänge zu Stollen, die frühere Reisende noch er­wähnt hatten, schlicht und ergreifend „verschwunden“, unter den Halden des Aushubs anderer Archäologen begraben wor­den. Auf alten Karten konnte man vage erraten, wo manche ge­legen haben mussten. Und am meisten bedroht schien unstrittig KV 5.

Da die Tourismusbehörde die Straße ins Tal verbreitern wollte und KV 5 irgendwo direkt am Taleingang liegen sollte, war es zwingend erforderlich, dieses unscheinbar wirkende Grab wie­derzufinden und zu kartieren, bevor es für immer unter einer Teerdecke verschwand. Es gab ein Problem dabei: der letzte Rei­sende, der dieses Grab betreten hatte, war ein Brite namens James Burton gewesen – im Jahre 1825. Seither hatte niemand dieses Grab mehr gesehen.

Die Suche nach KV 5 begann im Jahre 1989. Weeks war von Burtons Beschreibungen des Grabes besonders irritiert – danach bestand KV 5 aus zwei relativ kleinen Kammern und direkt da­hinter aus einer Säulenhalle mit 16 Pfeilern, von der noch weite­re Räume in alle Richtungen abzweigten. Doch der Brite konnte im frühen 19. Jahrhundert nicht weiter vordringen – das Grab war bis auf etwa 50 Zentimeter unter die Decke mit Schutt ge­füllt gewesen. Kent Weeks kannte sich inzwischen mit gut Grab­anlagen aus, und keine, die ihm bekannt war, wies eine Struktur wie diese auf. Die meisten bestanden im Wesentlichen aus ei­nem langgestreckten, mehrfach gegliederten Korridor. Dieses hier schien also mindestens strukturell etwas sehr Seltsames zu sein.

Als das Grab endlich zum Vorschein kam, erwies es sich als noch zugeschütteter als einst. Und schon das teilweise Freile­gen des Eingangs offenbarte eine Königskartusche – nämlich die von Pharao Ramses II. Nun war das Grab dieses Herrschers aber schon gefunden worden – es handelte sich dabei um KV 7, schräg gegenüber von KV 5. Was also hatte das zu bedeuten?

Die Spekulation tauchte erstmals auf, es könne sich um das Grab von einem von Ramses´ zahlreichen Söhnen handeln (der Legende zufolge soll er in seiner mehr als sechzig Jahre währen­den Amtszeit wenigstens 50 legitime Söhne und mehr als zwan­zig Töchter gezeugt haben). Die Gräber von einigen anderen waren schon früher entdeckt worden.

All diese Überlegungen traten in den Hintergrund, als Weeks und seine Arbeiter die Pfeilerhalle erreichten. Es stellte sich nämlich heraus, dass sie auf beunruhigende Weise instabil ge­worden war. Die ständigen Erschütterungen durch die Touristen­busse hatten die Pfeiler zersplittert, und alles, was diesen Raum vor dem Einstürzen bewahrte, war die teilweise betonharte Schuttmasse, die bis zur Decke reichte.

Weeks blieb aus Geldmangel keine andere Wahl, als flache Gru­ben in den Schutt zu graben, um zu den Türen an den Seiten­wänden zu gelangen. Am interessantesten schien Raum 7 zu sein, der direkt am anderen Ende der Pfeilerhalle lag.

Nur war es kein Raum.

Als die Archäologin Catharine als erste durch den engen Spalt in den dahinter gelegenen Hohlraum gelangte, wo nicht ganz so viel Schutt lag, machte sie eine höchst erstaunliche Entde­ckung: dies war kein Raum, sondern ein langer Korridor, entlang dessen Seiten 18 Kammern angeordnet waren. Und am Ende stand eine stark beschädigte Osiris-Statue.

Doch sobald Weeks und seine Kollegen die Statue erreichten, erkannten sie den nächsten Fehler: die beiden Räume links und rechts der Statue waren ebenfalls keine Räume, sondern weite­re Gänge, an deren Seiten ebenfalls Kammern lagen. Statt auf ein schlichtes Grab gestoßen zu sein, hatten sie ein veritables, immer größer werdendes unterirdisches Labyrinth entdeckt!

Insgesamt kamen sie, völlig fassungslos, auf 61 Räume, mut­maßlich auf noch weitaus mehr. In Anbetracht der Tatsache, dass die Grabanlage absolut einzigartig war und die meisten Gräber im Tal der Könige allenfalls aus sechs bis acht Räumen bestanden (die Höchstzahl waren dreißig Kammern), hatten Weeks und seine Kollegen schlagartig und völlig unerwartet das größte jemals entdeckte Pharaonengrab gefunden. Und dies al­les war erst der Anfang …

Kent Weeks, der 1995 aufgrund dieser Entdeckung schlagartig weltberühmt wurde und inzwischen eines Großteils seiner Fi­nanzsorgen ledig ist, eben weil er sich so intensiv um diese eine rätselhafte Grabanlage kümmern kann, hat darin inzwischen über 150 Räume gefunden, es werden noch weitere erwartet, inklusive einer oder mehrerer Grabkammern. Millionen von Fragmenten verschiedenster Natur, zahllose Tierknochen von Weiheopfern sowie die Reste von mindestens vier Mumien sind bislang entdeckt worden, ein Ende ist nicht abzusehen.

Der Archäologe, der in diesem Buch seine Biografie mit der pha­raonischen Geschichte auf höchst spannende und unterhalts­ame Weise kreuzt, geht davon aus, dass bislang nach rund 10 Jahren Arbeit (bis 1999) etwa sieben Prozent der Grabanlage freigelegt sind. Die meisten Räume sind infolgedessen noch weitgehend mit Schutt gefüllt und bergen zahllose Geheimnis­se, eventuell weitere Treppen und Krypten. Den Arbeitsfort­schritt kann man übrigens auch im Internet verfolgen unter www.kv5.com.

KV 5, das so unprosaische Grab, das mit einem zugeschütteten Loch im Boden begonnen hat, ist ohne Frage der spektakulärste und rätselhafteste Fund im Tal der Könige seit Howard Carters Entdeckung 1922. Vielleicht noch um vieles geheimnisvoller. Und Kent Weeks, der nach eigenen Angaben schon als Achtjäh­riger brennend davon träumte, Ägyptologe zu werden – und den Rezensenten damit auf eine sehnsüchtige Reise in die eigene Vergangenheit mitnahm! – , versteht es brillant, dem Leser die harte, nervenaufreibende und zeitintensive Kleinarbeit des Ar­chäologen schlüssig nahezubringen und begreiflich zu machen, warum ein Team von Archäologen sich zehn Jahre lang in einer einzigen Grabanlage aufhalten kann und immerzu neue Entde­ckungen zu machen imstande ist.

Die Struktur des Buches selbst erleidet freilich zum Schluss hin eine gewisse spürbare „Dehnung“. Weeks entfernt sich hier et­was von dem Grab und den dort gemachten Entdeckungen und verirrt sich zum Teil seitenweise in die Biografie von Ramses II., seinen Vorfahren, den Verbindungen zur biblischen Mythologie (etwa bezüglich der biblischen Plagen und des Auszugs aus Ägypten, die von Ägyptologen nicht nachgewiesen werden kön­nen, ganz entgegen dem Klappentext – aber das sei nur am Rande erwähnt), so dass der Leser zu spüren beginnt, wie schwer es ihm fiel, die letzten paar Dutzend Seiten adäquat zu füllen. Sie sind nicht langweilig, aber der inhaltliche Bruch ist einwandfrei erkennbar.

Der Großteil des Buches ist jedoch der überaus packenden Ge­schichte des Grabes KV 5 und seiner rätselhaften Inhalte gewid­met. Meines Erachtens steht dieses Sachbuch einem Thriller nicht sehr nach – wenigstens dann nicht, wenn man sich bren­nend für die Ägyptologie interessiert und gerne etwas mehr le­sen möchte als den 1999 im GEO erschienenen Auszug zu Ram­ses II. und dieser Entdeckungsgeschichte.

Am Ende fragt man sich nägelkauend, wann und wie es wohl weitergehen mag, und man bedauert jeden Tag, den die Enthül­lungen auf sich warten lassen. Das ist die Qualität eines guten Buches.

© 2004 by Uwe Lammers

Ich kann jedem, der sich für das Thema interessiert, den Kauf des spannenden Buches nur wärmstens ans Herz legen. Ich habe es in drei Tagen verschlungen, was für ein Sachbuch wirk­lich recht spektakulär ist.

Das Buch der kommenden Woche benötigte dann deutlich mehr Zeit … es war aber auch wirklich gewöhnungsbedürftiger, schrä­ger Stoff. Ein Fisch, der Parallelweltreisen ermöglicht, eine alter­native Version von Australien … also wirklich … strange!

Wer mehr wissen möchte, schaue kommende Woche wieder rein.

Bis dann, Freunde, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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