Rezensions-Blog 383: Ein Volk in Waffen

Posted Dezember 21st, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist eine allgemeine Redewendung, dass in einem Krieg das erste Opfer die Wahrheit sei … und daran ist bedauerlicherwei­se, unabhängig von Land, Zeit und Konflikt, bis heute viel Wah­res. Das ist nicht einmal ein Faktum, das wir der modernen Me­diengesellschaft zuschreiben könnten, vom Vietnam-Krieg bis zur Gegenwart rechnend. Nein, das hat es auch schon sehr viel früher gegeben, mitunter in einer Weise, dass man ein wenig als Wissender empört den Atem anhalten möchte.

Heute werfen wir einen Blick auf einen solch atemberaubenden Manipulationsversuch der Wahrheit, und ich muss gleich vorweg etwas dazu ergänzend sagen: Als ich 2006 das unten bespro­chene Buch las, war mir durchaus unklar, dass es sich dabei um die kondensierte und sehr stark eingedampfte Form des eigent­lichen Berichts von Sven Hedin handelte. Das Buch in der aus­führlichen Fassung (mehr als 300 Seiten stark) habe ich dann erst viel später antiquarisch gefunden, konnte es zwischenzeit­lich aber noch nicht lesen. Gleichwohl nehme ich an, dass es sich tendenziell nicht sehr von der eingedampften Version un­terscheiden wird.

Der schwedische Forscher Sven Hedin, der bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs noch 1914 die Gelegenheit erhielt, meh­rere Wochen die Westfront zu bereisen, erwies sich auf eigenwil­lige Weise als einäugiger Prophet mit der ausdrücklichen Nei­gung zum Schielen … so würde ich das mal sagen. Zwar gibt es wahre Worte in seinem Bericht, der Blickwinkel ist insgesamt aber völlig schief, und von den deutschen (!) Auftraggebern die­ses Berichts wird er gründlich in die Irre geführt.

Statt also den weltbewegenden Krieg mit seinen weit reichen­den Konsequenzen zutreffend zu schildern, verirrt er sich in ei­ner bizarr rosig gefärbten Parallelwelt und ergreift Partei für die Falschen.

Und so sieht das im Detail dann aus:

Ein Volk in Waffen

Den deutschen Soldaten gewidmet.

von Sven Hedin

Brockhaus-Verlag

Leipzig 1915, Preis: 1,00 Mark

192 Seiten plus 22 Fotoseiten

…In der Entfernung von einigen Tagesreisen wird der gewal­tigste Krieg der Weltgeschichte ausgefochten. Dieser Krieg muß von grundlegender Bedeutung werden für die politische Ent­wicklung der nächsten fünfzig, hundert, vielleicht noch mehr Jahre. Seine Folgen müssen unbedingt das weitere Dasein der gegenwärtigen Generation bestimmen. Der Krieg von 1870/71 wurde der Beginn eines neuen Zeitalters in Deutschlands Ent­wicklung. Dasselbe wird in noch viel höherem Maße, im Guten oder Bösen, vom Krieg 1914 gelten! Alle politischen Probleme der nächsten Zukunft müssen ohne Zweifel ihre Wurzeln in die­sem großen deutschen Krieg haben. Gehen beide kämpfenden Machtgruppen mit stark verringerten Kräften aus dem Streit hervor, so ist er in seinen erlöschenden Funken der Keim zu ei­nem neuen, vielleicht noch mehr verheerenden Weltenbrand …“

Ich war beeindruckt, als ich diese einleitenden Worte eines Wer­kes las, das im Herbst 1914 entstanden und bereits ein Jahr später im kriegführenden deutschen Kaiserreich publiziert wur­de. Fasziniert dachte ich, der ich mich gegenwärtig mit dem Ers­ten Weltkrieg befasse, wie erstaunlich hellsichtig doch dieser Sven Hedin war, der von Anfang September bis zum 1. Novem­ber 1914 inkognito und ohne Wissen seiner Regierung die deut­sche Westfront bereiste.

Denn wir heute Lebenden wissen, wie furchtbar zutreffend diese Bemerkungen waren: Am Ende des blutigen, grauenhaften vier­jährigen Ringens, das nicht alleine in Europa stattfand, sondern sich erdbebenartig bis an den Bosporus ausweitete, den Orient in Flammen setzte, in Afrika Truppen gegeneinander aufhetzte, weltweit Schlachtschiffe einander jagen ließ (nicht zuletzt vor der südamerikanischen Küste) und selbst Soldaten aus Australi­en und Indien bis vor die Türen europäischer Hauptstädte führ­te, am Ende dieses Krieges lagen mehrere Monarchien in Trüm­mern, Revolutionen erschütterten Nationen, neue Staaten er­blickten das Licht der Welt, und in der Tat, die Keime neuer Kon­flikte waren gelegt worden. Manche von ihnen geistern heute noch durch die Weltpresse, ohne dass man oft gewahr wird, wie gut sich ihre Wurzeln in den Ersten Weltkrieg verfolgen lassen. Die Krisen in arabischen Staaten, die blutigen Auseinanderset­zungen in Israel/Palästina und vieles andere zählt zu den vagen Möglichkeiten, die Sven Hedin in den obigen Zeilen andeutete und die Realität geworden sind.

Und das alles sah er bereits 1914, kurz nach seiner Reise an die deutsche Front?

Respekt, dachte ich, wie gesagt. Der Schwede und Weltreisende Sven Hedin, der zu jener Zeit bereits weltberühmt war, würde doch, so hoffte ich, einen neutralen Standpunkt einnehmen kön­nen, unparteiisch urteilen über die Gründe des Kampfes, und wenngleich er sein Werk den deutschen Soldaten widmete und dezidiert ankündigte, „um der Germanen willen … die Verleum­dung ausrotten und die Wahrheit zur Kenntnis der Allgemeinheit bringen“ zu wollen, hoffte ich doch, er würde sich nicht dazu herablassen, eine Propagandaschrift zugunsten des deutschen Hegemonialanspruchs zu verfassen.

Ich irrte mich.

Hedins Reise führt zunächst natürlich nach Berlin, wo er in der Wilhelmstraße 76 mit dem Unterstaatssekretär von Zimmer­mann zusammentrifft.1 Die deutschen Behörden sehen an die­sem 12. September 1914 Hedins Auftauchen mit großer Freude. Naiv, wie der zu diesem Zeitpunkt 49jährige schwedische For­scher ist, nimmt er an, der deutsche Militärstab begrüße beson­ders die Tatsache, dass er mit seiner Reise die insbesondere von der britischen Presse erhobenen Vorwürfe entkräften könne, was die skandalöse Behandlung alliierter Kriegsgefangener an­geht.

Die Wahrheit ist weniger schmeichelhaft:

Das deutsche Kaiserreich hat mit dem vollen Bewusstsein einen Angriffskrieg begonnen, das neutrale Belgien annektiert und hier zahlreiche Festungen in Grund und Boden geschossen, de­ren Besatzungen sich aus verständlichen patriotischen Gründen weigerten, die Waffen zu strecken und mit den Invasoren zu ko­operieren. Zu dem Zeitpunkt, da Hedin in Berlin eintrifft, geht der deutsche Generalstab noch fest davon aus, dass eine Nie­derwerfung der flüchtenden französischen Heere – die Evakuie­rung von Paris ist bereits angeordnet, die Regierung von dort verlagert worden2 – in den nächsten Wochen möglich ist.

Diese Hoffnung wird am 15. September 1914 zerschlagen, als die deutschen Heere an der Marne zurückgeworfen werden. Die­ses Ereignis geht als „Wunder an der Marne“ in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein und verändert unwiderruflich den Ver­lauf des Krieges. Aber da ist Sven Hedin bereits an der Front un­terwegs. Die Reise, die er antritt, offenbar geplant als Glorifizie­rung eines deutschen Sieges, führt ihn zu einer Armee, die in ihren Stellungen stagniert und nicht mehr vom Fleck kommt.

Wie kann man nur verhindern, dass Hedin das wahrnimmt?

Der deutsche Generalstab, und auch das ist ein Subtext, den man in dieses einseitig geschriebene Buch mühsam hineinlesen muss, hat also nun Schwierigkeiten mit dem Abenteurer. Als Le­ser erhält man schnell den Eindruck, dass die Befehlshaber an der Front alles tun, um Hedins Weg zu lenken, auf Zeit zu spie­len.

Anfangs bekommt er überwiegend „friedfertige“ Regionen zu sehen, in denen die alleinige Ahnung vom Krieg durch überall aufgestellte Posten und ein deutliches Übergewicht an Uniform tragenden Personen auf den Straßen bemerkbar wird. Als Hedin schließlich nach Wochen, während derer er unter anderem mit Kaiser Wilhelm II. (von dem er schwer beeindruckt ist), dem deutschen Kronprinzen und hochrangigen Militärs zusammen­kommt, Lazarette und „tapfere deutsche Soldaten“ besucht, die stoisch ihre Verwundungen hinnehmen und „Opferbereitschaft“ dokumentieren, kann er auch französische und britische Kriegs­gefangene besuchen, die sich – behauptet er jedenfalls – über die Behandlung und Versorgung in keiner Weise beklagen kön­nen. Dabei sieht er beständig nur die Sonnenseiten des Konflik­tes. Alles ist gut, alles ist bestens, selbst die Feinde werden her­vorragend behandelt, es gibt keinen Grund zur Klage … also muss die alliierte Propaganda ja die reine Lüge sein, nicht wahr?

Dem Leser wird unbehaglich zumute bei der deutlichen, fast schon widerlich süßen Verklärung des Kriegserlebens, von der Verherrlichung des deutschen Kriegerethos, da ja der deutsche Soldat, wie Hedin glaubt, „nur seine Heimat verteidigen will“. Die Parteilichkeit wird dann besonders gravierend und verzer­rend sichtbar, wenn Hedin beispielsweise die Beschießung der Stadt Löwen damit rechtfertigt, es seien ja „Franktireurs“ gewe­sen, die die deutschen Truppen angegriffen hätten, wogegen sich diese hätten wehren müssen: „Jede andere Armee der Welt hätte ebenso gehandelt“, schreibt er.

Dabei übersieht der blauäugige Berichterstatter, der die Wahr­heit auf sein Panier geschrieben hat und den völlig falschen Standpunkt einnimmt, dass er für die Aggressoren Partei er­greift und zwar moralisch richtig argumentiert, aber für die fal­schen Leute.

Die „Franktireurs“ sind jene, die ihre Heimat verteidigen – nur gegen die Deutschen. Und das, was Hedin als „die Wahrheit“ wahrzunehmen meint, ist in Wirklichkeit der Versuch der deut­schen Okkupatoren, ihre Eroberungen zu rechtfertigen. Dabei könnte ein alleiniger Blick auf die Orte der Kämpfe dem Sehen­den die Augen öffnen: es gibt keine besetzten deutschen Gebie­te, die doch unvermeidlich gewesen wären, wenn den Deut­schen die Opferrolle zufiele. Stattdessen werden die Kämpfe in Belgien und Nordfrankreich geschlagen, und zwar ausschließlich dort.

Für solche Belange ist Hedin blind.

Er sieht noch ganz andere Dinge nicht: „Für die Soldaten, die Tag und Nacht die schwerste Last zu tragen haben (Hedin spricht natürlich von den deutschen Soldaten, und nur von ih­nen) und fürs Vaterland ihr Leben hingeben, ist nur die Wahr­heit, die reine, klare Wahrheit gut genug. In den Ländern der Entente hat die Presse noch eine besondere und sehr wichtige Aufgabe, die der deutschen Presse nicht obliegt, nämlich die, den Mut der Soldaten anzufeuern und die Hoffnungen der Mas­se des Volkes aufrechtzuerhalten. Da nun frohe Nachrichten dort sehr dünn gesät sind, werden sie in den Redaktionen der verschiedenen Zeitungen fabriziert. Die deutsche Presse BRAUCHT nicht den Mut der Nation anzufeuern, er brennt in kla­rer, reiner Flamme …!“

Ach, welch kindische Ansicht.

Es ist zu bezweifeln, dass sich dieses idealistische Schwarz-Weiß-Denken deutscher und ausländischer Presse selbst noch zu diesem Zeitpunkt aufrechterhalten lässt. Und bekanntlich verbreiten auch deutsche Zeitungen und Zeitschriften mit Fort­schreiten des (mehr und mehr erfolglosen, blutigen und sinn­entleerten Ringens um von Granaten zerpflügtes Land im Her­zen Europas) gerne und ausufernd Lügen, nicht zuletzt die von der „angegriffenen Nation“, die um ihr Überleben gegen eine Übermacht bösartiger Feinde kämpft, die Deutschlands Unter­gang wünscht.

Sven Hedin, idealistischer, in das Germanentum verliebter For­scher und Schwärmer, der sich so leicht von Militärs und Staats­männern blenden und um den Finger wickeln lässt, schwenkt, ohne es zu merken, mit Überzeugung vollkommen instinktiv auf die Linie der deutschen Propaganda ein und wird vollständig blind für die Realität des Krieges, aus dem er berichtet.

Dieses Buch ist deshalb als Quelle für die Hedin-Forschung und für seine Seelenverfassung von großer Bedeutung. Die Intenti­on, in der es ursprünglich abgefasst wurde, nämlich Bericht zu geben über den großen Konflikt, der das Abendland für die nächsten Jahrzehnte formen und bestimmen würde – darin we­nigstens hatte Hedin bedauerlicherweise Recht – , diese Intenti­on ist schon im Moment der Drucklegung Makulatur. Hedins Rei­sebericht in den großen europäischen Krieg wird in Deutschland verlegt und gerät automatisch zu einer propagandistischen Durchhalteschrift. Aber so, wie Propaganda noch nie den Verlauf eines von vorne herein falschen Krieges zu entscheiden imstan­de war, so versagt sie auch hier.

Das kaiserliche Deutschland verliert den Krieg, der Kaiser flüch­tet in die Niederlande, kommunistische Räte regieren das zerfal­lende Kaiserreich, und der erniedrigende Diktatfriede von Ver­sailles, leider alles andere als ein ausgewogenes Vertragswerk, wird, wie von Hedin befürchtet, „Keim zu einem neuen, viel­leicht noch mehr verheerenden Weltenbrand …“

Man nennt diesen Weltbrand den Zweiten Weltkrieg, und seine Folgen stellen den „Krieg von 1914“ noch weit in den Schatten.

Sven Hedin aber, der sich für die einseitige Parteilichkeit zu­gunsten des kaiserlichen Deutschlands durch Verfassen dieser Schrift so weit aus dem Fenster gelehnt hat, erhält ebenfalls die ihm zustehende Quittung für solche Naivität, und zwar noch während des Krieges.

Auf der sehr guten und detaillierten Informationsseite zu Sven Hedin in der Online-Enzyklopädie Wikipedia heißt es: „Im 1. Weltkrieg stellte er sich in seinen Veröffentlichungen ausdrück­lich auf die Seite der deutschen Monarchie und ihrer Kriegsfüh­rung. Durch dieses politische Engagement verlor er bei den Kriegsgegnern Deutschlands sein wissenschaftliches Renom­mee, die Mitgliedschaft in deren geografischen Gesellschaften und gelehrten Vereinigungen sowie jede Unterstützung bei sei­nen geplanten Expeditionen.“

Da er später auch Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus im Wesentlichen positiv gegenüberstand, muss man als heutiger Historiker wohl leider zu der Überzeugung kommen, dass Sven Hedin aus seinen publizistischen Fehlern während des Ersten Weltkriegs nicht hinreichend gelernt hat.

© 2006 by Uwe Lammers

Abenteuerlich? Tja, das ist noch recht zahm formuliert, gebe ich zu. Aber wie ihr in der kommenden Woche erfahren werdet, ist der Irrwitz in der Politik nicht etwas, was wir am Beginn des 20. Jahrhunderts suchen müssen und zwischendurch ausgestorben wäre. Das gibt es auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch.

Mehr dazu ist in der kommenden Woche zu lesen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Es handelt sich um jenen Unterstaatssekretär von Zimmermann, den die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman in ihrem Buch „Die Zimmermann-Depesche“ für die Nach­welt verewigt hat.

2 Vgl. zum genauen Handlungsgeschehen Barbara Tuchmans Klassiker: „August 1914“, Bern und München 1964.

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