Rezensions-Blog 386: Lila

Posted Januar 11th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Farbe gehört wie Gerüche zu den Dingen, die von Schriftstellern gern stiefmütterlich behandelt werden. Das gilt gerade dann, wenn es sich um ausgesprochene Exotenfarben handelt, die sich schwierig mit bildhaften Vergleichen in Szene setzen las­sen.

Eine solche Farbe ist Mauve, die wir besser unter der landläufi­gen, schlichten Bezeichnung „Lila“ kennen … wer dieses Buch liest, wird rasch verstehen, dass es sich dabei um eine unzuläs­sige Vereinfachung eines hochkomplexen Themas handelt. Und er wird erkennen müssen, wie aus einem eher schlichten Grund­motiv heraus, nämlich der Suche nach einer nützlichen Anwen­dung von Abfällen des Kohlezeitalters, eine regelrechte Farben­revolution im 19. Jahrhundert auf den Weg gebracht wurde.

Im Grunde genommen war es ein schlichter Zufall, wie er so oft in der Wissenschaft vorkommt. Es gibt Legenden um die Entde­ckung des Benzols, des Bakelits und anderer wichtiger Rohstoffe des Industriezeitalters, und so verhielt es sich auch mit dem Grundstoff der Anilinfarben, der sich mit dem Namen William Perkin verbindet.

Wie kann man ein ganzes Buch über eine einzelne Farbe schrei­ben, mögt ihr euch fragen? Nun, wer denkt, Mauve sei nur eine Farbe und nicht daran denkt, dass die Verfahren, die Perkin zu entwickeln half, noch zu ganz anderen Zwecken in extrem gro­ßem Maßstab nützlich waren, der sollte sich wirklich überra­schen lassen.

Dafür müsst ihr einfach nur weiterlesen:

Lila

(OT: Mauve: How one man invented a colour that changed the world)

von Simon Garfield

BvT 76107, Dezember 2002

256 Seiten, TB (9.90 Euro)

Aus dem Englischen von Hainer Kober

ISBN 3-442-76107-7

Dreckiges Zeug. Abfall.

So sahen die Arbeiter und auch die Wissenschaftler – sofern man damals schon von ihnen sprechen konnte – auf die Rest­produkte der Kohlenerzeugung herab, beispielsweise auf den Steinkohlenteer, der nun so überhaupt nichts Ästhetisches an sich hatte. Er stank, er war lästig, nutzlos eigentlich, und es war einfach besser, man entsorgte ihn schnell.

Diese Einstellung änderte sich im Jahre 1856 grundlegend, und von dieser Veränderung wurde die gesamte Welt erfasst. Sie schuf neue Stoffklassen, neue Produkte, rief Modetrends hervor, ruinierte ganze Nationen und brachte andere zu beispiellosem Ruhm empor. Sie bildete die Grundlage von imperialem Glanz und von nie gesehenen gigantischen Firmentrusts, von denen der größte schließlich die IG Farben war, deren Wissenschaftler neue Sprengstoffe entwickeln halfen und schließlich das am meisten berüchtigte Gift der Menschheitsgeschichte – Zyklon-B, jenen Stoff, der Hunderttausende von Juden im Holocaust ver­nichten sollte.

Dies alles begann ganz harmlos mit dem Traum eines Achtzehn­jährigen.

Als William Perkin im Jahre 1838 auf die Welt kam, als einer der Söhne des einstigen Gerbers und jetzigen Schiffsbauers Thomas Perkin, ansässig in London, da sprach nicht viel dafür, dass er einstmals mehr sein würde als der Nachfolger im Gewerbe sei­nes Vaters. Ja, es sprach vielmehr einiges dafür, dass er auf­grund seiner vielseitigen Neigungen ein recht unglücklicher Nachfolger seines Vaters sein würde.

Zu dieser Zeit befanden sich die technischen Wissenschaften insbesondere in England in rasantem Aufschwung. Perkin wurde mitten in die blühende Industrielle Revolution hineingeboren. England vibrierte unter dem Beben der Eisenbahnzüge, das Dröhnen der Eisenwerke erscholl landauf, landab, die Armadas der englischen Handelsschiffe beherrschten die Meere unange­fochten, und es schien so zu sein, als wenn der Glanz des briti­schen Empire unaufhaltsam im Steigen begriffen sei. Die Che­mie indes, und es ist wichtig, das zu erwähnen, spielte bei alle­dem nur eine sehr geringe Rolle, und niemand konnte sich im Großbritannien vorstellen, dass das jemals sehr viel anders sein würde.

Die Verantwortlichen hatten einfach zu wenig Phantasie.

Entsprechend der vielfältigen Neigungen interessierte sich der junge Perkin anfangs für alles mögliche: für Technik, für den Bau von Schiffsmodellen, für die Musik – eine Zeitlang dachte er so­gar, er könne mit seinem Bruder und seinen zwei Schwestern ein Ensemble bilden und durchs Land ziehen – und sogar für die Malerei. Aber was sollte aus ihm werden? Ein Schiffsbauer? Ein Maler? Ein Musiker? Oder vielleicht ein Chemiker (es gab um diese Zeit noch keine universitäre Ausbildung zum Chemiker, die Forschung fand ausschließlich in kleinen, privaten Labors statt)? Aber das war dann doch ein zu abseitiger Gedanke … vielleicht.

Um seinen dreizehnten Geburtstag herum zeigte ihm nämlich ein Freund einfache Experimente mit Kristallen, die ihn bezau­berten, und so schrieb Perkin später in seinen autobiografischen Notizen: „Die Chemie nahm für mich einen weit höheren Rang ein als irgendein anderes Betätigungsfeld, das ich bisher ken­nen gelernt hatte. Ich dachte, wenn ich bei einem Apotheker in die Lehre gehen könnte, müsste ich einfach glücklich werden.“

Stattdessen gelang es ihm, seinen Vater davon zu überzeugen, dass es kein verschwendetes Geld sei, ihm zusätzlich sieben Shilling pro Halbjahr zu geben, damit er an der City of London School einen Kursus in Chemie besuchen konnte. Man muss dazu wissen, dass Chemie damals weniger Wert beigemessen wurde als Latein oder Griechisch. So ändern sich die Zeiten …

Im Unterricht wurden die Lehrer, insbesondere Thomas Hall, der Tatsache gewahr, dass der junge Perkin erstaunlich begabt war, und Hall erreichte es, dass Perkin als Zuhörer zu den Vorlesun­gen des damals schon berühmten Michael Faraday (genau, der mit dem „Faradayschen Käfig“!) der Royal Institution lauschen konnte. So kam er erstmals in Kontakt mit dem neuen Wissens­gebiet der Elektrizität, und das im Alter von 14 Jahren. Und ein Jahr später erreichte Perkins Lehrer Thomas Hall es in eindringli­chen Gesprächen mit Perkins´ Vater außerdem, dass der Junge mit 15 Jahren sich am Royal College einschreiben und im chemi­schen Labor Dr. Hofmanns mitarbeiten konnte. Das war im Jahre 1853. Und, wie Simon Garfield treffend schreibt: „Fünf Jahre später hatte Perkin sein Glück gemacht.“

Wie das?

Am Royal College arbeitete ein umtriebiger deutscher Chemi­ker, Dr. Hofmann, der durch den Prinzgemahl von Königin Victo­ria, Albert, nach England geholt worden war. Er war besessen von der Idee, die größte Volksseuche zu dieser Zeit mit Hilfe von Stoffen zu heilen, die im Steinkohlenteer verborgen liegen sollten. Diese Volksseuche war die Malaria, und auch das Heil­mittel war inzwischen bekannt – Chinin. Nur war Chinin, ein rein pflanzlicher Stoff, sehr selten, und die Qualität schwankte sehr. Außerdem half die Menge an Chinin, die man herstellen konnte, nicht einmal annähernd gegen die Neuerkrankungen, die so­wohl in Indien den britischen Truppen zu schaffen machten als auch in Afrika und in der Karibik. Vor allen Dingen wütete die Krankheit nicht nur in der Ferne: „Zu Hofmanns Zeit grassierte die Malaria nicht nur in Asien und Afrika, sondern auch in Frank­reich, Spanien, Holland und Italien … auch in Rußland, in den westlichen Territorien Australiens und in den Sümpfen von Caro­lina, Florida und New Orleans trat die Malaria verstärkt auf … In England, wo Männer wie Jakob I. und Oliver Cromwell der Mala­ria zum Opfer gefallen sein sollen, wütete die Krankheit eben­falls noch Mitte des 19. Jahrhunderts …“

Grund genug, wie man sieht, sich um dieses Thema zu küm­mern. Zumal deshalb, weil noch niemand wusste, wie Malaria eigentlich zustande kam. Zu jener Zeit glaubte man noch an eine Übertragung durch „üble Luft“ (mal aria, wie man es im Ita­lienischen genannt und als Name dann bis heute falsch über­nommen hat). Hofmann wusste: wer Chinin als erstes künstlich herzustellen vermochte, der war ein gemachter Mann.

Perkin wurde von diesem Gedanken ebenfalls erfasst, aber er hatte sich zugleich, vielleicht aufgrund seiner Jugend, die Phan­tasie bewahrt. Das half ihm dabei, eine Entdeckung als das zu erkennen, was sie war: bei Experimenten mit Steinkohlenteer, insbesondere der daraus gewonnenen Base Anilin, die er im hei­mischen Laboratorium machte, tauchte auf einmal ein seltsa­mer, höchst intensiver Farbton auf, ein extrem starker Rotton mit Stich ins Bläulichschwarze, der bald darauf, entsprechend verdünnt, „Mauve“ genannt werden sollte.

Während Hofmann solche Farben, die bei der Behandlung von Steinkohlenteer ständig auftauchten, als unnütz ignorierte, dachte sich Perkin, man könne diese Farbe vielleicht dazu be­nutzen, um Stoffe zu färben. Vielleicht erbrächte das etwas. Neugierig färbte er selbst ein Stück Stoff und machte die aufre­gende nächste Entdeckung, dass sie durch Waschen nicht aus­bleichte. Das war der Kern der Entdeckung und die eigentliche Revolution.

Zu dieser Zeit wurden Farbstoffe aus pflanzlichen Substanzen gewonnen, zum Beispiel aus der Krapppflanze. Oder aus winzi­gen, zerpressten Läusen (Cochenille) beziehungsweise, wie schon in der Antike, aus zermahlenen Purpurschnecken (tyri­scher Purpur). All das war eine endlos lange Prozedur, sehr auf­wendig, sehr teuer. Besonders beim begehrten Indigo war das auch zu Perkins Zeiten noch der Fall. Und das so gewonnene pflanzliche Endprodukt bleichte in der Sonne aus, jeder Wasch­gang machte es matter. Die Anilinfarbe hingegen nicht. Perkin begann zu ahnen – eine Farbe, die man industriell in großer Menge rasch herstellen konnte und die zudem nicht ausblich, konnte eine wichtige Entdeckung sein.

Er hatte noch keine Ahnung von den Dimensionen seiner Entde­ckung.

Perkin nannte den hergestellten Trockenstoff Mauvein und sand­te eine Probe an den Farbenfabrikbesitzer Robert Pullar in Perth/Schottland. Der stellte verblüfft und zugleich begeistert fest, dass der Stoff Seide in einem Maße zu färben verstand, das ein­fach unglaublich war. Der Farbton erwies sich als faszinierend intensiv und beständig. Er erbot sich, dem jungen Perkin in je­der nur möglichen Beziehung behilflich zu sein. Und das erwies sich auch bald als notwendig. Ende 1856 reichte der junge Mann, durchaus etwas unsicher, seinen Antrag ein, um Mauvein als königliches Patent schützen zu lassen. Aber er war vom Wert dieser Handlung durchaus nicht überzeugt.

Und anfangs schien es auch nicht von Vorteil zu sein – als näm­lich sein Mentor Hofmann von dieser Entdeckung und „Eigen­mächtigkeit“ erfuhr, schien sich das Schicksal gegen Perkin zu wenden. Es kam zum Bruch zwischen den beiden, und verrück­terweise warf der Deutsche ihm vor, er habe gewissermaßen die „reine Wissenschaft“ verraten, indem er seine Erkenntnisse in den Dienst der Industrie stellte. Damals gab es noch keine sonderlich intensive Beziehung zwischen den Chemikern und der Industrie, jedenfalls nicht in England. In Deutschland hatte Justus Liebig in Gießen dies den Briten schon lange vorgewor­fen. Er hatte behauptet, England sei „kein Land der Wissen­schaft“, und ein vernichtenderes Urteil konnte es eigentlich nicht geben. William Perkin war der Mann, der dieses Urteil gründlich revidierte.

Perkin stand nun vor einer Reihe von Problemen, von denen nur einige technischer Natur waren: es galt, Anilin als Ausgangsstoff in hinreichender Menge aus dem Steinkohlenteer zu extrahieren (die Extraktion war ein aufwendiges und sehr teures Verfahren, das sich anfangs nicht zu rentieren schien), es galt ferner, her­auszufinden, weshalb Seide sich gut färben ließ und Baumwolle sehr viel schlechter. Vor allen Dingen aber mussten die briti­schen Färber überzeugt werden, von pflanzlichen Mitteln, die vielfach importiert werden mussten, auf Mauvein umzusteigen. Ein Unterfangen, das unglaublich viel Zeit kostete.

Da die Probleme folgerichtig eher immer größer als kleiner wur­den, beschloss der junge Chemiker schließlich, eine eigene Fa­brik aufzubauen, um seiner Farbe zum Durchbruch zu verhelfen und als leuchtendes Beispiel (im wahrsten Sinne des Wortes) voranzugehen. Doch, wie der Biograph schreibt, durchlebte „die Familie Perkin Anfang 1858 einige Wochen in düsterer Stim­mung“. William Perkins Vater hatte seine Ersparnisse in die Fa­brik gesteckt, Perkin selbst arbeitete 18 Stunden am Tag, in der Fabrik gab es Explosionen, deren Ursachen bekämpft werden wollten – doch dann kam ganz unvermittelt der Durchbruch: „Queen Victoria trug Mauve zur Hochzeit ihrer Tochter, und die französische Kaiserin Eugénie, die einflussreichste Frau in der Welt der Mode, gelangte zu der Überzeugung, daß Mauve zur Farbe ihrer Augen passe.“

Und die Welt versank in einem Wahnsinn aus Mauve …

Dies ist nur ein kleiner Einblick in das ungemein dicht beschrie­bene, vielseitige und von unwahrscheinlichen Zufällen wim­melnde Leben des Chemikers William Perkin, der von 1838 bis 1907 lebte und in wenigen Jahren die chemische Industrie, die Mode, die Färberindustrie und zahlreiche andere Zweige des weltweiten Wirtschaftslebens gründlich umkrempelte. Obgleich Perkin sich im Alter von 36 (!) Jahren aus dem Geschäftsleben zurückzog, machte ihn die Entdeckung des Mauvein zum Stammvater der modernen Anilinfarben und aller daraus resul­tierenden Produkte bis hin zur Acetylsalicylsäure (enthalten im heutigen Aspirin, das buchstäblich in aller Munde ist) und, na­türlich, zum wohlhabenden Mann. Die ganzen Schwierigkeiten, die aus seiner Erfindung erwuchsen, kamen erst später zum Tra­gen.

Gleichzeitig mit dem Einblick in Perkins Leben erhält der Leser des Buches zudem einen guten Eindruck von der Rolle, die die Chemie im frühen 19. Jahrhundert spielte und wie sehr Perkins Entdeckungen – es gab in der Folge noch zahlreiche weitere, auf die hier nicht eingegangen werden soll – die Wirtschaft sowie das Patentrecht revolutionierten und die Entwicklung neuer Stoffe wie beispielsweise der Kunststoffe auf den Weg brachten. Dieser Siegeszug sollte erst abgebremst werden durch die mas­senhafte Verwendung von Öl und Ölprodukten um die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Simon Garfield ist zu danken für die Wiederbelebung der Per­sönlichkeit William Perkins und seiner Zeit, und wer weiß, viel­leicht wird es ja im Jahre 2006, zum 150. Jubiläum der Perkin­schen Entdeckung des Mauvein, wieder mal ein Jubiläum zu fei­ern geben. Das Buch selbst lohnt eine Entdeckung. Der einzige Wermutstropfen mag sein, dass sich der Autor manchmal, be­sonders gegen Schluss, etwas sehr weit vom Lebensweg Willi­am Perkins entfernt und im Trustgeflecht der Chemieindustrie verirrt. Doch wer sich für die britische Industrie jener Zeit inter­essiert oder für die faszinierende Biografie des Chemikers selbst, der ist hier bestens aufgehoben.

© 2005 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche wenden wir uns, vom Olymp der che­mischen Wissenschaften herabsteigend, wieder den emotiona­len Gefilden erotisch-sinnlicher Verirrung zu, sozusagen der seichten Unterhaltung.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>