Rezensions-Blog 423: Der Judas-Code

Posted September 27th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

manche Romane erweisen sich als solche Page-turner, dass ich sie nicht mehr aus den Fingern lassen kann, sondern en bloc binnen weniger Tage verschlingen muss … bei dem heutigen Buch handelt es sich um solch ein Werk. Wer ohnehin ein Faible für rasante und gut durchdachte Actionthriller hat, für wen die Vergangenheit der Menschheit nicht nur lästige Erinnerung an schulische Geschichtsunterricht-Quälerei durch inkompetente Lehrkräfte darstellt, der kommt hier voll auf seine Kosten.

In James Rollins‘ viertem Abenteuer der Sigma Force (von we­nigstens sechzehn Werken, die mir inzwischen bekannt sind, es kann gut sein, dass er noch an weiteren arbeitet) geht es ein­mal mehr um die in Zellenform strukturierte Terrororganisation der Gilde, deren Führungsebene immer noch unbekannt ist und die auf verschiedenen Gebieten der Historie wildert, um immer mehr an Macht und Einfluss zu gewinnen.

Diesmal reicht der Krakenarm der Gilde bis ins 13. Jahrhundert zurück, und wir bekommen es mit Marco Polos Vermächtnis und einer grauenhaften Epidemie zu tun, die zu einer Biowaffe um­funktioniert werden soll.

Klingt schlimm? Ist schlimm. Und der Wettlauf der Protagonisten gegen die Villains der Gilde, dies zu vereiteln, ist einfach nur megaspannend inszeniert.

Vorhang auf für:

Der Judas-Code

(OT: The Judas Strain)

Von James Rollins

Blanvalet 37216

März 2010, 8,95 Euro

544 Seiten, TB

Übersetzt von Norbert Stöbe

ISBN 978-3-442-37216-4

Man schreibt das Jahr 1293, als Marco Polo bei seiner Rückreise von China nach Italien beinahe ums Leben kommt. Mit mehr als einem Dutzend Dschunken ist er von China aus aufgebrochen, doch nun brennen zwölf davon lichterloh, und die Sterbenden darauf schreien, während sie zu Asche verglühen. Eine grässli­che Seuche hat sie alle erfasst, und es ist nahezu einem Wun­der zuzuschreiben, dass einige wenige von ihnen überleben – aber die Erlösung aus der Verdammnis kostet einen so entsetzli­chen Preis, dass nie darüber berichtet werden darf. Ansonsten wäre die Welt in furchtbarer Gefahr.

Gegenwart: Die Biologin Dr. Susan Tunis und ihr Mann Gregg an­kern vor einer Insel im indonesischen Archipel und werden Zeu­gen einer unbegreiflichen Katastrophe – direkt vor ihren Augen beginnt die Lagune zu leuchten, und dann tauchen sterbende Meerestiere auf, die sich geradewegs vor ihren entsetzten Bli­cken in blutigen Schaum zu zersetzen beginnen. Schlimmer noch: sie selbst sind ebenfalls infiziert worden, wie auch immer. Und kurz zuvor hat Susan am Meeresboden Planken alter Schiffswracks entdeckt – die Reste von Marco Polos Flotte, was sie aber nicht weiß.

Die Seuche ist wieder in der Welt, und das Grauen von einst geht von neuem um.

In Italien wird wenig später ein Archäologe getötet, der einen scheinbar bedeutungslosen kleinen Obelisken gestohlen hat – aber unter UV-Licht tauchen auf den Seiten dieses Artefakts rät­selhafte Schriftzeichen auf. Wenig später findet Monsignore Vi­gor Verona, den die Leser schon aus dem zweiten Roman der „Sigma Force“ kennen1, inzwischen zum Präfekten des Vatikani­schen Geheimarchivs ernannt, im damals ausgebrannten und inzwischen restaurierten Turm der Engel auf dem Boden neben dem furchtbaren Zeichen des Drachenordens dieselben Schrift­zeichen. Im Gegensatz zu dem ermordeten Archäologen ist ihm aber klar, was das ist – so genannte Engelsschrift, angeblich eine Schrift, die älter als die Menschheit sein soll. Und das Zei­chen des Drachenordens, der vor zwei Jahren zerschlagen wur­de, ist eindeutig ein Signal. Er ahnt auch schon, wer ihm das hinterlassen hat.

Seichan. Die Meisterattentäterin der sinistren „Gilde“, eines in Zellenform organisierten globalen Terrornetzwerks, mit dem so­wohl er als auch die Sigma Force schon Kontakt gehabt haben. Vigor Verona tut also, was er tun muss – er kontaktiert die Sig­ma Force unter Direktor Painter Crowe und bringt damit den nächsten Stein ins Rollen.

In den Staaten sind inzwischen Crowe und seine Mannschaft auf die Vorfälle auf der Weihnachtsinsel, wo nach dem Zwischenfall mit Dr. Susan Tunis eine Epidemie ausgebrochen ist, aufmerk­sam geworden. Er schickt seine Freundin, Dr. Lisa Cummings und den Agenten Monk Kokkalis dorthin, um zu ermitteln, zu analysieren und zu helfen.2 Dass sie mitten in eine Falle laufen, können sie noch nicht wissen.

Zeitgleich taucht beim Sigma Force-Agenten Grayson Pierce und dessen Eltern unvermittelt jemand auf, mit dem wirklich nie­mand rechnen kann – eine Motorradfahrerin strandet direkt in ihrer Einfahrt, angeschossen und um Hilfe bittend: niemand an­deres als die Gilden-Agentin Seichan. Da sie von Sigma ebenso gesucht wird als auch von internationalen Geheimdiensten, ent­scheiden Crowe und Pierce, sie zunächst in ein sicheres Haus zu bringen. Schließlich könnte dies, ungeachtet Seichans Schuss­verletzung, ein raffiniertes Manöver der Gilde sein, um die Sig­ma Force wie schon einmal zu infiltrieren und so ihr neues Hauptquartier ausfindig zu machen.

Interessant ist allerdings, dass sie einen kleinen schwarzen Mo­nolithen dabei hat – denjenigen, den sie in Rom geraubt hat. Und hinter dem, wie sich alsbald herausstellt, die Gilde her ist. Offenkundig hat Seichan die Seiten gewechselt und will nun die Pläne der Gilde vereiteln, die angeblich die Menschheit bedro­hen. Doch ehe sie Näheres in Erfahrung bringen können, taucht der nächste Agent der Gilde auf – der Ägypter Dr. Amen Nasser. Und sein Ziel ist es einwandfrei, Seichan umzubringen und den Monolithen für die Gilde zu sichern. Binnen kürzester Zeit wird Washington, D.C., zum gnadenlosen Schlachtfeld, und jede Menge Menschen finden den Tod.

Schlimmer noch: Grayson Pierce muss Seichans Worten Glau­ben schenken, dass die Gilde Sigma von neuem infiltriert hat. Alles, was er Painter Crowe also präventiv sagt, wird sofort ge­gen ihn verwendet. Gegen ihn und gegen seinen an Alzheimer leidenden, einbeinigen Vater und seine auch schon recht betag­te Mutter.

Gray Pierce entscheidet sich also schweren Herzens dafür, seine Eltern in Sicherheit zu bringen und mit Seichan und dem Sigma-Agenten Joe Kowalski, dem sie vertrauen können, unterzutau­chen. Nun werden sie sowohl von der Gilde als auch von Sigma verfolgt. Während die einen sie umbringen wollen, fürchtet Seichan – mit Recht – , dass Painter Crowe sie kurzerhand ein­sperren lassen wird. Womit sie die letzte Chance verspielen, die Menschheit zu retten, wie sie beteuert.

Als Amen Nasser, der zwischenzeitlich als „Schlächter von Kal­kutta“ identifiziert wird, dann auch noch Pierces Eltern in seine Gewalt bekommt und seiner psychopathischen Assistentin An­nishen ausliefert, steht Gray unter noch größerem Druck. Die einzige Chance, seine Eltern vor Verstümmelung und Ermor­dung zu schützen, besteht darin, im Verein mit Seichan, Kowal­ski und bald auch Vigor Verona das Rätsel des Monolithen zu lö­sen – ein Geheimnis, das mit Marco Polos Reise zu tun hat und bald 800 Jahre in die Vergangenheit zurückreicht. Auch wenn das bedeutet, dass er ohne Frage den mörderischen Plänen der Gilde Vorschub leistet, die Seichan ja vereiteln will.

Im Fernen Osten haben Monk Kokkalis und Dr. Lisa Cummings inzwischen Hunderte von Seuchenopfern an Bord des Kreuz­fahrtschiffs „Mistress of the Seas“ evakuiert – und dann werden sie von indonesischen Piraten attackiert, die Monk und einen Biologen an Land in die Enge treiben. Parallel dazu erscheint die Gilde auch hier unter der Leitung des ebenso charismatischen wie gewissenlosen Dr. Devesh Patanjali, der ebenfalls eine kalt­blütige Attentäterin namens Surina an seiner Seite hat. Sie be­setzen das Schiff und machen keinen Hehl daraus, dass sie be­reit und willens sind, jedermann zu töten, wenn sich Lisa und ihr Team nicht in den Dienst der Gilde stellen.

Patanjali erläutert gelassen, dass die Gilde derzeit zweigleisig fährt. Es gibt eine historische Sektion, die Amen Nasser leitet, die nach Marco Polos Hinterlassenschaften forscht, und eine bio­chemische, die unter seiner Ägide steht. Die Gilde will das Virus erforschen, das auf der Weihnachtsinsel absichtlich freigesetzt wurde – aber nicht aus humanitären Gründen, wie Lisa schwant, sondern um ein Heilmittel zu haben für eine omnipotente Bio­waffe, die daraufhin an den Meistbietenden verschachert wer­den kann, um Millionen Menschen zu bedrohen. Und Patanjali ist sehr bereit, die Besatzung und die evakuierten Kranken als Menschen-Versuchskaninchen zu verwenden. Dafür wird das Kreuzfahrtschiff in einen geheimen Hafen evakuiert, auf eine In­sel, auf der Kannibalen leben und in deren Lagune monströse Lebensformen jede Flucht unmöglich machen. Da Crowe zwi­schenzeitlich noch glaubt, dass im Fernen Osten alles unter Kontrolle ist, wird die Lage dort in Wahrheit immer dramati­scher.

Während so das Rätsel von zwei Seiten angegangen wird, das sich um das unheimliche Virus, den „Judas-Stamm“, wie Patan­jali ihn nennt, rankt, kommt nach und nach zutage, dass die Gil­de diesmal mit dem biologischen Omnizid spielt und die Büchse der Pandora geöffnet hat, ohne das auch nur im Mindesten zu begreifen. Und leider scheint die Gilde diesmal alle Trümpfe in der Hand zu halten …

Wieder einmal, muss ich staunend sagen, ist es James Rollins gelungen, einen packenden Page-turner zu verfassen, der mich nicht mehr herausließ, ehe ich ihn ausgelesen hatte. Wieder einmal haben wir es mit ausgeprägter Paranoia, grassierendem Misstrauen zwischen Organisationen und Protagonisten zu tun, mit historischen Rätseln, die den Leser wie die Protagonisten über die Kontinente scheuchen und es erforderlich machen, um­fassendes historisches Wissen zu aktivieren. Wie in bester Clive Cussler-Manier gelingt es Rollins zudem, hochdramatische Ac­tion einzubauen und so die Handlung voranzupeitschen. Dies­mal begibt er sich auf das Gebiet des Fernen Ostens und der Hindu-Mythen, um sie – was auf den ersten Blick völlig bizarr wirkt – biochemisch aufzubereiten. Aber vertraut mir, das ge­lingt ihm auf beeindruckende Weise tatsächlich.

Auch der Schachzug, nun die Gilden-Agentin Seichan an Gray­son Pierces Seite zu stellen, der eigentlich ihr Todfeind ist3, sorgt ebenso wie die Isolierung von der Kerntruppe der Sigma Force für eine faszinierende Verschiebung der Perspektiven und zu­nehmende Spannung. Mit der Einführung von Kowalski und der Aufteilung in zwei Teams der Sigma Force erhielt der Autor zu­dem die Möglichkeit, Lisa Cummings und Monk Kokkalis weiter zu profilieren. Von weiteren Faktoren, die er einbaut, möchte ich an dieser Stelle nichts verraten, nur soviel ist zu sagen: Die Handlung ist psychologisch noch deutlich vielschichtiger, als ich das hier anzudeuten wage.

Der Rekurs auf Marco Polo war sehr sachkundig angelegt und stimmt in den meisten Details, soweit ich das nachgeprüft habe. Nur ganz zu Beginn unterläuft dem Verfasser ein Fehler, der mir nur auffiel, weil ich vor einigen Monaten ein Sachbuch zu Marco Polos Reise gelesen habe. Rollins schreibt in der Einleitung, das Werk Marco Polos habe den Titel „Le Divisament du Monde“ ge­tragen, also „Die Beschreibung der Welt“. Leider ist das so wohl nicht völlig korrekt. Ich glaube, dass der Verfasser, der mit Mar­co Polo das Werk zusammen geschrieben hat – wie korrekt ge­sagt wird, ein Mann namens Rustichello – , nicht Franzose war, sondern Italiener (darauf deutet eigentlich schon der Name hin). Und es ist allgemein bekannt, dass Marco Polos Werk den Titel „Il Milione“ trug, wenigstens im Italienischen (was natürlich dann die 1:1-Übersetzung des Titels ins Deutsche erschwerte, weswegen hier wohl so vorgegangen worden ist). Es mag zwar sein, dass es – wie es Rollins sagt – zunächst auf Französisch er­schienen ist, aber indem er den Titel „Il Milione“ komplett unter­schlägt, fehlt doch eine wesentliche Detailinformation.

Einerlei, das trübt die Faszination des Gesamtwerkes nicht nen­nenswert ein. Ansonsten wimmelt es von neuem von raffinier­ten, hinterlistigen Villains, von starken Frauenfiguren auf allen Seiten, und es geht abschließend durchweg ins Mythologische. Aber ich sage auch – wer die Ruinen von Angkor so sehr mag wie ich, wird wieder etwas schockiert werden, wenn die Gilde am Ende des Romans dort aktiv wird. Manchmal kann Rollins schon ziemlich übel mit historischen Gütern umspringen, das haben wir ja schon mit dem Kölner Dom und dem Vatikan er­lebt, ganz zu schweigen vom Papstpalast in Avignon.

Somit ist ein hochdramatischer Roman entstanden, der den Le­ser wirklich mitreißt. Und man lernt eine Menge über Biochemie, frühe Bakterien, die Lebensentstehung auf der Erde, Marco Polo, die Khmer-Kultur und vieles andere. Am besten gefällt mir an Rollins, je mehr ich von ihm lese, dass er sich im Gegensatz zu seinem unbestreitbaren Vorbild Clive Cussler mehr auf dem Bo­den der Tatsachen bewegt und sich nicht leichtfertig von irgend­welchen spinnerten Esoterikern auf Abwege lenken lässt (ich denke da speziell an Cusslers unsäglichen Roman „Akte Atlan­tis“, die mir heutzutage auch nach Jahren immer noch kalte Schauer den Rücken herunterlaufen lässt). Und die Gegnerper­sönlichkeiten von Rollins besitzen auch durchweg mehr Format, Durchtriebenheit und Glaubwürdigkeit als viele von Cusslers doch inzwischen häufig recht schematischen Gegnern. Es ist da­her ziemlich offenkundig, dass Rollins Cussler in meiner Wert­schätzung langsam den Rang abzulaufen beginnt.

Mal schauen wie sich das weiter entwickelt, es gibt ja inzwi­schen ein Dutzend Sigma Force-Romane, und ich glaube, ein baldiges Ende ist nicht abzusehen, nachdem Rollins seine Arzt­praxis aufgegeben hat, um sich ganz dem Schreiben zu wid­men.

Auch hier also wieder eine klare Leseempfehlung von meiner Seite.

© 2019 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche kehren wir in die eher kleindimensio­nierte Beziehungswelt von Samantha Young zurück, also ins schottische Edinburgh.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Vgl. dazu James Rollins: „Feuermönche“. Vgl. dazu den Rezensions-Blog 415 vom 2. August 2023.

2 Lisa Cummings bereichert den Personalkanon seit dem letzten Abenteuer. Vgl. dazu James Rollins: „Der Genesis-Plan“. Vgl. dazu den Rezensions-Blog 419 vom 30. August 2023.

3 Vgl. dazu ihr erstes Zusammentreffen in James Rollins: „Feuermönche“.

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