Rezensions-Blog 430: Strategie

Posted November 15th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Literatur ist unkalkulierbar. Jeder Buchdeckel, den man öffnet, enthält ein Abenteuer, und mitunter ist es von der Art, dass man sich anschließend nur stirnrunzelnd und etwas befremdet abwendet. Sich vielleicht auch fragt, warum man soviel Zeit mit einem solchen Werk verbracht hat. Mit Büchern, die vielleicht anfänglich interessant zu sein scheinen, vielleicht einen aufre­genden Auftakt haben, danach aber so abbauen, dass man sich als disziplinierter Leser schon etwas anstrengen muss, um es auch auszulesen.

Kürzlich las ich eine Anthologie aus, die ich seit 1995 in meinen Regalen stehen hatte … Erotik und Horror im Mix … ich muss nachträglich sagen, dass ich enttäuscht war und das Buch aus dem Bestand aussortiert habe. Warum? Weil das hübsche nack­te Mädel auf dem Cover schlicht über den wahren Inhalt hin­wegtäuschte … dabei hätte ich durch Namen wie Clive Barker und Stephen King gewarnt sein können – das Buch enthielt mehrheitlich Horrorgeschichten, viele davon nicht eben appetit­steigernd. Erotik war zumeist eher unter Fehlanzeige zu verbu­chen.

Ähnlich erging es mir vor langer Zeit mit dem vorliegenden Ro­man, den ich anno 2017 dennoch rezensierte. Er stellt, wie ich heute immer noch denke, ein interessantes Experiment dar, aber für eine Klientel, zu der ich eindeutig nicht gehört habe. Und auch hier haben wir: ein nacktes Mädel auf dem Cover und eine aufreizende Eingangsszene … wonach es allerdings dann doch deutlich befremdlicher weitergeht und ich mich oftmals zum disziplinierten Weiterlesen motivieren musste.

Das ist nicht gegen den Verfasser gerichtet, und ich bin nun weiß Gott niemand, der irgendwelche antisemitischen Klischees bedienen würde. Aber auf der anderen Seite gibt es schon ge­wisse Dinge, die ein Leser in einem solchen Roman erwarten würde … das, was ich vorfand, entsprach dem dann allerdings durchaus nicht, und das löste schlussendlich eine etwas ernüch­terte Kritik aus.

Aber ihr wisst ja: Ich schreibe hier keinen Schönwetterblog. Und selbst wenn solche eher enttäuschten Rezensionen selten sind – vielleicht sind sie ja für euch, die ihr da oder dort über den Ro­man stolpern könntet, wahlweise Anlass, es gerade wegen der Rezension zu suchen oder diese als Warnschild zu verstehen und euch von ihm fernzuhalten.

Vielleicht ist es ungeschickt, das vorauszuschicken, aber ich hal­te das nur für fair. Wer jetzt erst recht gespannt auf das Folgen­de ist, schmökere einfach gelassen weiter:

Strategie

(OT: Politics)

Von Adam Thirlwell

S. Fischer

324 Seiten, geb. (2004)

Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann

ISBN 3-10-080048-6

Moshe ist ein junger, pickeliger Schauspieler in London, und er liebt seine Freundin Nana, eine 1,80 Meter große, schmale und blonde Architekturstudentin heiß und innig. Dann kommt Anjali hinzu, eine atemberaubende, brünette Schönheit, eine gute Freundin von Nana. Und damit werden die Dinge kompliziert, was uns ins Herz des vorliegenden Romans führt.

Moshe liebt Nana. Nana liebt Moshe. Zugleich hat Nana Proble­me mit dem Sex. Denn sie ist eigentlich nicht wirklich begeistert vom Sex. Das bereitet ihr Sorgen, denn sie möchte Moshe glücklich machen. Moshe hat keine Ahnung davon, dass Nana Probleme mit dem Sex hat, denn darüber redet sie nicht. Für ihn ist die Welt schön. Er wünscht sich nichts mehr, als dass Nana schönen, aufregenden und befriedigenden Sex mit ihm hat. Er überlegt sich Dinge, die ihr Liebesleben aufregender gestalten. Er experimentiert etwa mit Plüschhandschellen und Rollenspie­len. Dabei ist er zwar Schauspieler, hat aber Probleme mit den Rollenspielen. Nana ebenfalls. Beide reden nicht über diese Schwierigkeiten. Sie versuchen vielmehr, Rollen zu spielen und ihrem Partner zu gefallen.

Problematisch? Natürlich.

Und dann kommt, wie gesagt, auch noch Anjali ins Spiel.

Anjali ist eine wunderschöne Frau. Sie ist, wie sich herausstellen wird, ein Sextalent. Genau das Gegenteil von Nana. Anjali ist der Traum eines jeden Mannes, denkt Nana. Sie ist so wunder­schön. Sicherlich mag Moshe Anjali sehr gern. Und sicherlich phantasiert er davon, wie es wohl wäre, Liebe mit Anjali zu ma­chen.

Sollte ich eifersüchtig sein?, fragt sich Nana rätselnd und von Skrupeln geplagt. Aber sie entschließt sich dazu, das nicht zu sein – schließlich ist sie doch nicht so sehr auf Sex fixiert. Moshe mag den Sex gern. Sie selbst liebt Moshe zwar, aber Sex ist nicht das Zentrale in ihrer Beziehung, jedenfalls nicht für sie. Vielleicht für Moshe, aber da ist sie sich nicht sicher. Also wäre es doch bestimmt belebend für die Beziehung, wenn sie Anjali mit in diese Beziehung einbeziehen könnte, nicht wahr? Moshe würde das sicherlich mögen.

Phantasieren nicht alle Männer von einer ménage à trois?

Doch, bestimmt.

So bringt Nana Anjali in ihre Zweierbeziehung ein. Damit macht sie alles nur noch schlimmer, aber das geht ihr zu Beginn nicht auf. Denn sie kann natürlich nicht in Anjalis Kopf hineinsehen.

Anjali ist eine leidenschaftliche Liebhaberin. Sie hat gerade eine Beziehung hinter sich, die ebenfalls – für Moshes und Nanas Ge­fühl jedenfalls – ungewöhnlich war. Anjali hat sich von ihrer Ge­liebten trennen müssen. Genauer: Diese hat sich von Anjali ge­trennt und geheiratet. Für Anjali ist das sehr traurig. Anjali ist eine Frau, die sich mehr von Frauen angezogen fühlt. Heterosex ist ganz nett, dagegen hat sie nichts. Aber eigentlich steht sie auf dieses Lesbending. Das ist es, was sie wirklich will.

Anjali hat Phantasien von Nana. Sie möchte Sex mit Nana.

Wie wunderschön ist es also, als Nana sie völlig unerwartet in ihrer Wohnung verführt und sie zum Orgasmus bringt. Das ist schön. Und so stimmt sie dem überraschenden Vorschlag zu, dass sie doch gemeinsam Nanas Freund Moshe verführen könn­ten. Eine ménage à trois probieren könnten.

Warum nicht?

Aber eigentlich will sie nur Nana. Nana zuliebe macht sie bei der ménage à trois mit. Nur ihr zuliebe. Moshe und der Sex, den sie miteinander haben, schließlich auch bald zu dritt, ist nur so ein Nebeneffekt. Jedenfalls für Anjali.

Zu dumm, dass Nana bald Skrupel kommen. Zu dumm, dass Moshe den Sex mit Anjali genießt. Zu dumm, dass die Liebe auf der Strecke bleibt. Eine ménage à trois ist deutlich komplizier­ter, als sich die Beteiligten das gedacht haben, und so kommt es schließlich, wie es kommen muss …

Adam Thirlwells Roman „Strategie“ ruhte ungeachtet der auf­regenden Einleitungsszene geschlagene 12 Jahre in meinen Bü­cherregalen, ehe ich ihn dann in elf Lesetagen langsam und durchaus amüsiert durchschmökerte. Man merkt aber schon am Duktus der obigen Rezension, die ich ein wenig dem Duktus des Romans angepasst habe, dass wir es hier mit einem Werk zu tun haben, das sich stilistisch grundlegend von sonstigen eroti­schen Romanen unterscheidet, die ich gelesen habe. Dies hier ist, wie soll ich das ausdrücken?, in gewisser Weise manieriert. Inszeniert. Auf den mehr als 300 Seiten passiert eigentlich nicht wirklich viel. Es geht zentral um die psychologische Konstellati­on der Akteure, weswegen der deutsche Titel auch durchaus passend ist. Man fühlt sich als Leser mehr als nur einmal auf ein Schachbrett versetzt, auf dem die Figuren komplizierten Rocha­den ausgesetzt und hin und her geschoben werden, während die Protagonisten die emotionalen Minenfelder stetig weiter be­stücken.

Das ist, wenn man derlei Romane schätzt, absolut interessant zu lesen, kurzweilig sowieso. Dennoch gibt es ein paar Gründe, warum ich den Roman nicht in meine Bibliothek aufgenommen habe. Der erste ist, dass ich ihn nur bedingt als erotisch verste­he. Es geht um Sex, keine Frage, auch um vielfältige Formen davon, auch korrekt. Aber aufgrund des Sprachstils kommt ei­gentlich nie wirkliche Erregung auf. Da ist man als Leser bei Ro­manen von Plaisir d’Amour, Heyne, Ullstein, Bastei, Blanvalet usw. deutlich besser aufgehoben.

Dann nervt die Erzählform unglaublich. Es gibt einen allwissen­den Erzähler, der mit salbungsvoller Stimme ständig interpre­tiert, als läge der Leser auf der Couch eines Psychoanalytikers und würde sich windungsreich durch das Seelenleben seines Kli­enten bewegen. Das ist eine Weile ganz interessant und nett, aber 300 Seiten lang? Nein, Freunde, ohne mich.

Das war ein zentraler Grund, warum ich selten mehr als fünfzig Seiten am Stück lesen konnte, meist war es noch weniger. Weil der Duktus einfach nervt. Und wenn man sich überwinden muss, weiterzulesen, dann ist das kein Vergnügen mehr. Ro­manlektüre sollte aber Spaß machen, man sollte ihn lesen WOL­LEN. Wenn das auf der Strecke bleibt und zur Pflicht wird, hört für mich das Vergnügen auf, sorry.

Dann ist da die Sprechsprache. Ich gebe mal ein kleines, harm­loses Beispiel, wie die Protagonisten durch die Bank miteinan­der sprechen: „‚Nein, nein’, sagte Nana. ‚Skompliziert. Zkompli­ziert. Wir. Wir.’ Sie stockte und stockte. ‚Wir haben irgendwie alle zusammen gewohnt, mehr oder weniger’…“ Das ist keine exotische Stelle, sie ist durchaus symptomatisch. Es ist mitunter wirklich anstrengend gewesen, solche stockenden Bruchstück­sätze und unvollständigen Konstruktionen zu lesen. Wenn man einen Protagonisten hat, der sich so unterhält, okay. Wenn das nur in hastigen Telefonaten passiert. Okay. Aber es passiert fast ständig, und es widerfährt jedem der Protagonisten, ungeachtet von Alter oder Geschlecht oder Position. Und das nervt dann ebenfalls recht schnell.

Ich kam mir mitunter vor, als befände ich mich in einer Grund­schulklasse, mit dem entscheidenden Unterschied, dass alle Re­denden erwachsen waren und nicht selten von Sex sprachen. Eine bizarre Sache, irgendwie sehr gekünstelt und sicherlich für die Übersetzer nicht simpel. Das nötigt mir dann schon einigen Respekt ab, aber Lesevergnügen? Fehlanzeige.

Dann ist da die Sache mit den politischen Einsprengseln – si­cherlich dem Originaltitel geschuldet – , die für zunehmende Ir­ritationen sorgte. Ich meine, es ist ja noch einigermaßen nach­vollziehbar, das Liebesleben des Großen Vorsitzenden Mao in ei­ner historischen Rückblende zu thematisieren. Aber Stalin und der Dissident Bucharin? Adolf Hitler? Vaclav Havel? Milan Kundera? Also bitte, irgendwann fragte ich mich, was diese Teile im Buch zu suchen hatten. Auch das nervte mehr und mehr.

Außerdem, aber das war dann kein entscheidender Punkt mehr nach dem Bisherigen, fand ich es etwas sehr aufdringlich, wie häufig Thirlwell auf das Judentum in vielerlei Beziehung ange­spielt hat, ja, geradezu darauf fixiert war. Moshes halbreligiöse Familie, sein eigenes Halbjudentum, koschere Geschäfte, regel­mäßige Anspielungen auf die jüdische Kultur… das mag alles sehr ehrenhaft und interessant sein. Soweit man sich dafür sehr interessiert. Ich habe zwar selbst unter einer Chefin gearbeitet, die emigrierte und später remigrierte Jüdin war und in diesem Projekt am Werk des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn mitgearbeitet. Dennoch bin ich der Auffassung, dass das jüdi­sche Element in der Weltgeschichte einfach krass übersteigert dargestellt wird, und vielleicht bin ich deshalb ein wenig über­empfindlich, wenn in einem Roman eines Autors der elitäre Sta­tus des Judentums so sehr betont wird. Zumal dann, wenn er meiner Meinung nach deplatziert ist und mit dem eigentlichen Thema des Romans nichts zu tun hat.

Das Buch ist gleichwohl ein Bestseller geworden und hat sich sehr gut verkauft. Es ist dem Autor unbedingt zu gönnen. Und wer die Rezension oben als äußerst anregend empfunden haben sollte, mag sich gern auf die Suche nach dem Roman machen. Ich für meinen Teil habe Adam Thirlwell von der Liste der Auto­ren gestrichen, von denen ich noch ein Werk lesen möchte. Tut mir leid, guter Mann – ich bin einwandfrei nicht dein Zielpubli­kum.

© 2017 by Uwe Lammers

Nun, ich kann jeden von euch verstehen, der nach solchen Kom­mentaren etwas ernüchtert dreinschaut … aber wie oben ange­deutet, das ist nur MEINE Sicht der Dinge, und das heißt insge­samt durchaus nicht, dass wir es hier mit einer allgemeingülti­gen Aussage zu tun hätten.

Nur eins kann ich gern versprechen: In der kommenden Woche, wenn ich das nächste Abenteuer von James Rollins‘ Sigma Force vorstelle, wird es eindeutig SEHR viel abenteuerlicher. Und wer lieber solche Romane mag anstelle von seichten und bisweilen befremdenden erotischen Geschichten, der ist dort sicherlich bestens aufgehoben.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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