Liebe Freunde des OSM,
wenn man einen Roman von fast 500 Seiten in einem Zug ausliest – zugegeben, ich hatte die Gelegenheit im Rahmen von zwei langen Busfahrten, nämlich hin zur Leipziger Buchmesse 2025 und zurück, außerdem eine Menge freie Zeit auf der Buchmesse selbst – , dann ist das selbst für mich eine ungewöhnliche Sache, die mir nicht ständig widerfährt.
Und folgerichtig habe ich heute auch ein richtiges Schmankerl, das ich vorstellen darf. Auch wenn manch einer Epigonenromanen von Clive Cussler eher skeptisch gegenübersteht, weil sie in der Regel relativ schematisch entwickelt und niedergeschrieben werden, fällt dieser hier wie die meisten Isaac Bell-Romane durchaus aus dem Rahmen des Standard-Lesefutters heraus.
Diesmal begeben wir uns auf die Fährte eines der rätselhaftesten Massenmörders der Geschichte, Jack the Ripper. Und zugleich in gewisser Weise in den Ereignisraum der Kontrafaktik, des „Was wäre, wenn …?“
Ihr bekommt einen kleinen Vorgeschmack davon, was das bedeutet, wenn ihr mit der Lektüre hier fortfahrt:
Die Rückkehr der Bestie
(OT: The Cutthroat)
Von Clive Cussler & Justin Scott
Blanvalet 0640
480 Seiten, TB, August 2019
Übersetzt von Michael Kubiak
ISBN 978-3-7341-0640-8
Eines der größten und blutigsten Kriminalmysterien der jüngeren Vergangenheit ist die Mordserie eines rätselhaften Unbekannten, der als „Jack the Ripper“ in die Geschichte einging und der im Jahre 1888 im Londoner Stadtteil Whitechapel eine ganze Reihe von Prostituierten auf bestialische Weise niedermetzelte. Bis heute ist sowohl ungeklärt, wer genau diese Person war als auch das Rätsel, warum die Mordserie nach dieser Reihe grauenvoller Taten dann so jählings abriss. Wie ein mörderisches Phantom, das gleich einem Meteor einschlug und dann spurlos verschwand, bewegt diese schreckliche Geschichte bis heute Kriminalisten, Autoren und Leser.
Nun hat Justin Scott, Co-Autor der Isaac Bell-Romanserie von Clive Cussler, mit dem vorliegenden Band eine packende Variation der Geschichte vorgelegt, bei der schon der Titel Grausiges andeutet – und ich nehme nicht zu viel vorweg, wenn ich sage, dass die Ahnungen des schon vorab schaudernden Lesers vollauf erfüllt werden. Ich habe den Band gestern auf der Reise zur Leipziger Buchmesse 2025 zu lesen begonnen … und kam nicht mehr heraus. Als ich heimkehrte, blieben nur noch wenige Kapitel zum Ende des Buches übrig, die dann auch umgehend dran glauben mussten.
Doch fangen wir vorn an.
Wir schreiben das Jahr 1911, als die Dr. Jekyll and Mr. Hyde Company, geleitet von den Schauspielern Jackson Barrett und John Buchanan, sich anschickt, eine Neuadaption des Romanstoffes von Robert Louis Stevenson in Amerika auf die Bühne zu bringen. Dafür brauchen sie die Genehmigung des vormaligen Inhabers der Rechte, eines herrischen Mannes namens Medick, der diese Theaterversion in den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in London realisierte. Damals wurde sie wegen der Bluttaten des Jack the Ripper eingestellt, weil die Besucherzahlen begreiflicherweise einbrachen (immerhin wird in dem Stück regelmäßig eine Frau ermordet!).
Ein weiteres Hindernis ist, dass Isabella Cook, die geliebte Broadway-Schauspielerin, von Barrett und Buchanan als Verkörperung der Gabriella Utterson in dem Stück benötigt wird. Deren Ehemann Rufus S. Oppenheim wird diesem Engagement aber nicht zustimmen. Es sieht also so aus, als sei der Plan der beiden Schauspieler von vornherein eine Totgeburt … aber da stürzt Medick auf rätselhafte Weise in den Tod. Und wenig später explodiert die Yacht Oppenheims, und Isabellas Engagement steht nun nichts mehr im Weg.
Das alles passiert gewissermaßen „unter dem Radar“.
Die eigentliche Geschichte beginnt mit der Suche des verzweifelten William Lathrop Pape, der seine 18jährige Tochter Anna sucht – die theaterverliebte junge Frau möchte in New York unter dem Künstlernamen Anna Waterbury Karriere machen. Sie hofft dabei, entweder bei dem Stück „Alias Jimmy Valentine“ unterzukommen oder aber bei „Jekyll & Hyde“, das unter der Leitung des Inspizienten Henry Booker Young und dem Glanz von Isabella Cook zunehmend Furore macht.
Pape wendet sich an Isaac Bell von der Van Dorn-Agency, stößt hier aber auf kühle Zurückhaltung: Nach vermissten Personen zu suchen, sei eigentlich ein Fall für die Polizei … aber er lässt sich überreden und fahndet nach ihr. Umso größer ist sein Entsetzen, als die angehende Schauspielerin bestialisch ermordet aufgefunden wird. Von da an ist es etwas Persönliches, den Mörder zu finden. Und damit beginnt für Isaac Bell ein Alptraum, der immer grässlicher wird.
Denn während die beiden Schauspieltruppen von „Alias Jimmy Valentine“ und „Jekyll & Hyde“ eine landesweite Tournee beginnen, werden in den nächsten Wochen in anderen Städten weitere junge Frauen vermisst und wenig später ermordet aufgefunden. Ganz offensichtlich handelt es sich bei dem Mörder der jungen Anna um einen Serienkiller, der sich landesweit bewegt. Damit sind städtische Polizeibehörden klar überfragt, weil sie außerstande sind, landesweite Verbindungen zwischen diesen Fällen herzustellen. Und es scheint irgendeinen Zusammenhang mit den Tourneen zu geben.
Gegen den Widerstand seines Chefs, der diese Angelegenheit dennoch lieber den Polizeibehörden überlassen möchte, ermittelt Bell verbissen weiter und gründet eine Sondereinheit … und je tiefer er sich in diesen Fall vergräbt, je mehr junge Frauen abgeschlachtet werden, desto deutlicher kommt zutage, dass diese Mordserie eine schreckliche Vorgeschichte hat. Und ein furchtbarer Verdacht keimt in Bell, als erste Mordfälle bis ins Jahr 1891 zurückverfolgt werden können: Kann es sein, dass das Monster von Whitechapel 1888 nicht – wie Scotland Yard beharrlich behauptet – Selbstmord begangen hat, sondern vielmehr nur den Schauplatz seiner Taten wechselte, in die USA? Und dass der Killer seit mehr als 20 Jahren unentdeckt mordet?
Doch falls das stimmt … wie findet man ein Phantom, das sich seit Jahrzehnten mörderisch den Nachstellungen der Gesetzeshüter entzogen hat und offensichtlich das perfekte Verbrechen plant? Die Jagd nach dem Serienkiller entwickelt sich zu einem blutrünstigen Alptraum … und es wird noch schlimmer, als der Täter merkt, dass man ihm auf der Spur ist …
Zu behaupten, der Roman sei spannend, ist wohl die krasseste Untertreibung, die man begehen kann. Ich gebe zu, sechs Seiten Personenliste schüchtern anfangs schon etwas ein, und der Anfang gestaltet sich ein wenig anstrengend, weil man erst mal mit den Personen warm werden muss … aber das gibt sich nach spätestens zwanzig Seiten. Und von da an steckt man in einer rasanten Achterbahnfahrt des Grauens fest, die immer stärker zu einer spannenden Spurensuche wird. Darin beweist Justin Scott, dass er seine Literatur zu Jack the Ripper gut verinnerlicht hat.
Verkompliziert werden dann die Recherchen in England durch die Tatsache, dass Isaac Bell hier (wie gesagt: wir schreiben das Jahr 1911, der Erste Weltkrieg steht direkt vor der Tür!) jählings in Spionageverdacht gerät und ergänzende Probleme bekommt. Ganz zu schweigen davon, dass ihn Scotland Yard ständig abzuwimmeln versucht. Der Ripper-Fall sei schließlich abgeschlossen, nicht wahr? Dass das Mordphantom immer noch existiert und mit dem Morden nie aufgehört hat, passt verständlicherweise nicht ins Konzept.
Die Hintergrundgeschichte dieses Romans ist vermutlich deswegen so beunruhigend, weil sie auf bestürzende Weise durchaus plausibel klingt und man sie nicht ad hoc widerlegen kann – Jack the Ripper ist nach seinen Bluttaten in Whitechapel nun einmal spurlos verschwunden. Natürlich kann er sich umgebracht haben. Sicher kann er eines natürlichen Todes oder aufgrund eines Unfalls gestorben oder von aufgebrachten Bürgern des Stadt-teils gelyncht worden sein, die ihn wegen seiner Taten ausfindig machten.
Aber ebenso denkbar ist es, dass er in andere Länder auswanderte … und hier mit seinen Taten einfach weitermachte. Wenn man – wie im Roman plausibel dargestellt wird – berücksichtigt, wie unterentwickelt die kriminalistischen Untersuchungsmethoden damals waren, wie korrupt und eindimensional die Verfolgungsbehörden parzelliert waren, dann gewinnt die Vermutung, dass weitere Morde dieser Art nicht passend zugeordnet wurden, immer mehr an Plausibilität.
Isaac Bell und seine Ermittler stoßen denn auch tatsächlich alsbald auf zahlreiche Todesfälle, die nach 1889 „in Ripper-Manier“ sowohl in England als auch in Amerika begangen wurden. Viele Frauenleichen wurden nicht, nur in Teilen oder erst Jahre später entdeckt, und der im Roman mehrfach ventilierte Wunsch des Mörders, das perfekte Verbrechen zu begehen (mithin ohne Entdeckung des Leichnams), ist leider nur zu plausibel. Es ist bis heute ein Wunschtraum zahlloser Mörder.
Ist es also so gewesen, wie Justin Scott hier imaginiert? Kann man nicht sagen. Aber es ist allemal eine packende Fortsetzung des Jack the Ripper-Stoffes, der zumindest den Anschein der Plausibilität besitzt und der allein deshalb schon für reichlich schaurigen Grusel sorgt.
Definitiv klare Leseempfehlung von mir – mit dem Ratschlag, den Roman besser nicht an einem Abend zu beginnen, wenn man danach noch schlafen will!
© 2025 by Uwe Lammers
Ja, Freunde, das war wirklich heftig, und ich versichere euch, der vollständige Roman geht noch mehr an die Nieren … aber es lohnt sich unbedingt.
In der kommenden Woche wird es dann wieder, wir befinden uns ja in einem abwechslungsreichen Kontrastprogramm, in dem Realkontinuum der Geschichte wieder, und ich stelle euch ein Buch vor, in dem es definitiv auch um Mord und Totschlag geht, aber auf ganz andere Weise.
Lasst euch mal überraschen, was ich damit wohl meine.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß,
euer Uwe.