Rezensions-Blog 509: Die Rückkehr der Bestie

Posted Mai 21st, 2025 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wenn man einen Roman von fast 500 Seiten in einem Zug aus­liest – zugegeben, ich hatte die Gelegenheit im Rahmen von zwei langen Busfahrten, nämlich hin zur Leipziger Buchmesse 2025 und zurück, außerdem eine Menge freie Zeit auf der Buch­messe selbst – , dann ist das selbst für mich eine ungewöhnli­che Sache, die mir nicht ständig widerfährt.

Und folgerichtig habe ich heute auch ein richtiges Schmankerl, das ich vorstellen darf. Auch wenn manch einer Epigonenroma­nen von Clive Cussler eher skeptisch gegenübersteht, weil sie in der Regel relativ schematisch entwickelt und niedergeschrieben werden, fällt dieser hier wie die meisten Isaac Bell-Romane durchaus aus dem Rahmen des Standard-Lesefutters heraus.

Diesmal begeben wir uns auf die Fährte eines der rätselhaftes­ten Massenmörders der Geschichte, Jack the Ripper. Und zu­gleich in gewisser Weise in den Ereignisraum der Kontrafaktik, des „Was wäre, wenn …?“

Ihr bekommt einen kleinen Vorgeschmack davon, was das be­deutet, wenn ihr mit der Lektüre hier fortfahrt:

Die Rückkehr der Bestie

(OT: The Cutthroat)

Von Clive Cussler & Justin Scott

Blanvalet 0640

480 Seiten, TB, August 2019

Übersetzt von Michael Kubiak

ISBN 978-3-7341-0640-8

Eines der größten und blutigsten Kriminalmysterien der jünge­ren Vergangenheit ist die Mordserie eines rätselhaften Unbe­kannten, der als „Jack the Ripper“ in die Geschichte einging und der im Jahre 1888 im Londoner Stadtteil Whitechapel eine gan­ze Reihe von Prostituierten auf bestialische Weise niedermetzel­te. Bis heute ist sowohl ungeklärt, wer genau diese Person war als auch das Rätsel, warum die Mordserie nach dieser Reihe grauenvoller Taten dann so jählings abriss. Wie ein mörderi­sches Phantom, das gleich einem Meteor einschlug und dann spurlos verschwand, bewegt diese schreckliche Geschichte bis heute Kriminalisten, Autoren und Leser.

Nun hat Justin Scott, Co-Autor der Isaac Bell-Romanserie von Clive Cussler, mit dem vorliegenden Band eine packende Varia­tion der Geschichte vorgelegt, bei der schon der Titel Grausiges andeutet – und ich nehme nicht zu viel vorweg, wenn ich sage, dass die Ahnungen des schon vorab schaudernden Lesers voll­auf erfüllt werden. Ich habe den Band gestern auf der Reise zur Leipziger Buchmesse 2025 zu lesen begonnen … und kam nicht mehr heraus. Als ich heimkehrte, blieben nur noch wenige Kapi­tel zum Ende des Buches übrig, die dann auch umgehend dran glauben mussten.

Doch fangen wir vorn an.

Wir schreiben das Jahr 1911, als die Dr. Jekyll and Mr. Hyde Company, geleitet von den Schauspielern Jackson Barrett und John Buchanan, sich anschickt, eine Neuadaption des Roman­stoffes von Robert Louis Stevenson in Amerika auf die Bühne zu bringen. Dafür brauchen sie die Genehmigung des vormaligen Inhabers der Rechte, eines herrischen Mannes namens Medick, der diese Theaterversion in den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in London realisierte. Damals wurde sie wegen der Bluttaten des Jack the Ripper eingestellt, weil die Besucherzah­len begreiflicherweise einbrachen (immerhin wird in dem Stück regelmäßig eine Frau ermordet!).

Ein weiteres Hindernis ist, dass Isabella Cook, die geliebte Broadway-Schauspielerin, von Barrett und Buchanan als Verkör­perung der Gabriella Utterson in dem Stück benötigt wird. De­ren Ehemann Rufus S. Oppenheim wird diesem Engagement aber nicht zustimmen. Es sieht also so aus, als sei der Plan der beiden Schauspieler von vornherein eine Totgeburt … aber da stürzt Medick auf rätselhafte Weise in den Tod. Und wenig spä­ter explodiert die Yacht Oppenheims, und Isabellas Engagement steht nun nichts mehr im Weg.

Das alles passiert gewissermaßen „unter dem Radar“.

Die eigentliche Geschichte beginnt mit der Suche des verzwei­felten William Lathrop Pape, der seine 18jährige Tochter Anna sucht – die theaterverliebte junge Frau möchte in New York un­ter dem Künstlernamen Anna Waterbury Karriere machen. Sie hofft dabei, entweder bei dem Stück „Alias Jimmy Valentine“ un­terzukommen oder aber bei „Jekyll & Hyde“, das unter der Lei­tung des Inspizienten Henry Booker Young und dem Glanz von Isabella Cook zunehmend Furore macht.

Pape wendet sich an Isaac Bell von der Van Dorn-Agency, stößt hier aber auf kühle Zurückhaltung: Nach vermissten Personen zu suchen, sei eigentlich ein Fall für die Polizei … aber er lässt sich überreden und fahndet nach ihr. Umso größer ist sein Ent­setzen, als die angehende Schauspielerin bestialisch ermordet aufgefunden wird. Von da an ist es etwas Persönliches, den Mör­der zu finden. Und damit beginnt für Isaac Bell ein Alptraum, der immer grässlicher wird.

Denn während die beiden Schauspieltruppen von „Alias Jimmy Valentine“ und „Jekyll & Hyde“ eine landesweite Tournee begin­nen, werden in den nächsten Wochen in anderen Städten weite­re junge Frauen vermisst und wenig später ermordet aufgefun­den. Ganz offensichtlich handelt es sich bei dem Mörder der jun­gen Anna um einen Serienkiller, der sich landesweit bewegt. Damit sind städtische Polizeibehörden klar überfragt, weil sie außerstande sind, landesweite Verbindungen zwischen diesen Fällen herzustellen. Und es scheint irgendeinen Zusammenhang mit den Tourneen zu geben.

Gegen den Widerstand seines Chefs, der diese Angelegenheit dennoch lieber den Polizeibehörden überlassen möchte, ermit­telt Bell verbissen weiter und gründet eine Sondereinheit … und je tiefer er sich in diesen Fall vergräbt, je mehr junge Frauen ab­geschlachtet werden, desto deutlicher kommt zutage, dass die­se Mordserie eine schreckliche Vorgeschichte hat. Und ein furchtbarer Verdacht keimt in Bell, als erste Mordfälle bis ins Jahr 1891 zurückverfolgt werden können: Kann es sein, dass das Monster von Whitechapel 1888 nicht – wie Scotland Yard beharr­lich behauptet – Selbstmord begangen hat, sondern vielmehr nur den Schauplatz seiner Taten wechselte, in die USA? Und dass der Killer seit mehr als 20 Jahren unentdeckt mordet?

Doch falls das stimmt … wie findet man ein Phantom, das sich seit Jahrzehnten mörderisch den Nachstellungen der Gesetzes­hüter entzogen hat und offensichtlich das perfekte Verbrechen plant? Die Jagd nach dem Serienkiller entwickelt sich zu einem blutrünstigen Alptraum … und es wird noch schlimmer, als der Täter merkt, dass man ihm auf der Spur ist …

Zu behaupten, der Roman sei spannend, ist wohl die krasseste Untertreibung, die man begehen kann. Ich gebe zu, sechs Sei­ten Personenliste schüchtern anfangs schon etwas ein, und der Anfang gestaltet sich ein wenig anstrengend, weil man erst mal mit den Personen warm werden muss … aber das gibt sich nach spätestens zwanzig Seiten. Und von da an steckt man in einer rasanten Achterbahnfahrt des Grauens fest, die immer stärker zu einer spannenden Spurensuche wird. Darin beweist Justin Scott, dass er seine Literatur zu Jack the Ripper gut verinner­licht hat.

Verkompliziert werden dann die Recherchen in England durch die Tatsache, dass Isaac Bell hier (wie gesagt: wir schreiben das Jahr 1911, der Erste Weltkrieg steht direkt vor der Tür!) jählings in Spionageverdacht gerät und ergänzende Probleme bekommt. Ganz zu schweigen davon, dass ihn Scotland Yard ständig abzu­wimmeln versucht. Der Ripper-Fall sei schließlich abgeschlos­sen, nicht wahr? Dass das Mordphantom immer noch existiert und mit dem Morden nie aufgehört hat, passt verständlicherwei­se nicht ins Konzept.

Die Hintergrundgeschichte dieses Romans ist vermutlich deswe­gen so beunruhigend, weil sie auf bestürzende Weise durchaus plausibel klingt und man sie nicht ad hoc widerlegen kann – Jack the Ripper ist nach seinen Bluttaten in Whitechapel nun einmal spurlos verschwunden. Natürlich kann er sich umgebracht ha­ben. Sicher kann er eines natürlichen Todes oder aufgrund eines Unfalls gestorben oder von aufgebrachten Bürgern des Stadt-teils gelyncht worden sein, die ihn wegen seiner Taten ausfindig machten.

Aber ebenso denkbar ist es, dass er in andere Länder auswan­derte … und hier mit seinen Taten einfach weitermachte. Wenn man – wie im Roman plausibel dargestellt wird – berücksichtigt, wie unterentwickelt die kriminalistischen Untersuchungsmetho­den damals waren, wie korrupt und eindimensional die Verfol­gungsbehörden parzelliert waren, dann gewinnt die Vermutung, dass weitere Morde dieser Art nicht passend zugeordnet wur­den, immer mehr an Plausibilität.

Isaac Bell und seine Ermittler stoßen denn auch tatsächlich als­bald auf zahlreiche Todesfälle, die nach 1889 „in Ripper-Manier“ sowohl in England als auch in Amerika begangen wurden. Viele Frauenleichen wurden nicht, nur in Teilen oder erst Jahre später entdeckt, und der im Roman mehrfach ventilierte Wunsch des Mörders, das perfekte Verbrechen zu begehen (mithin ohne Ent­deckung des Leichnams), ist leider nur zu plausibel. Es ist bis heute ein Wunschtraum zahlloser Mörder.

Ist es also so gewesen, wie Justin Scott hier imaginiert? Kann man nicht sagen. Aber es ist allemal eine packende Fortsetzung des Jack the Ripper-Stoffes, der zumindest den Anschein der Plausibilität besitzt und der allein deshalb schon für reichlich schaurigen Grusel sorgt.

Definitiv klare Leseempfehlung von mir – mit dem Ratschlag, den Roman besser nicht an einem Abend zu beginnen, wenn man danach noch schlafen will!

© 2025 by Uwe Lammers

Ja, Freunde, das war wirklich heftig, und ich versichere euch, der vollständige Roman geht noch mehr an die Nieren … aber es lohnt sich unbedingt.

In der kommenden Woche wird es dann wieder, wir befinden uns ja in einem abwechslungsreichen Kontrastprogramm, in dem Realkontinuum der Geschichte wieder, und ich stelle euch ein Buch vor, in dem es definitiv auch um Mord und Totschlag geht, aber auf ganz andere Weise.

Lasst euch mal überraschen, was ich damit wohl meine.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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