Rezensions-Blog 512: Das Geisterschiff

Posted Juni 11th, 2025 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

seit nunmehr über 150 Jahren geistert im fast buchstäblichen Sinne eine Legende durch die Weltgeschichte, die durch Mangel an faktenbasierten Zeitzeugnissen, Verschleierungstaktik und reger Phantasie von erregten Lesern und Autoren immer mehr zu einer ungeheuerlichen Geschichte aufgebläht wurde. Das ist absolut nichts Singuläres, und selbst in der heutigen Zeit der überhitzten sozialen Medien, die selbst hartnäckigste und schnell widerlegte Lügen penetrant beharrlich an der Oberflä­che des Diskurses schwimmen lassen wie eklige Fettaugen auf der Suppe, ist niemand dagegen gefeit, solchen Legenden auf den Leim zu gehen. Der amerikanische Wahlkampf 2024 hat das ja mal wieder deutlich gezeigt.

Das hier ist weniger politisch als nautisch-naturwissenschaftlich relevant. Es geht sowohl um ein Seeunglück als auch um des­sen hypertrophe mediale Ausschlachtung, die man um so gründlicher und erfolgreicher nennen muss, als anfangs – und wir reden da von den ersten paar Jahrzehnten nach dem Vorfall! – kaum korrekte Informationen für die Öffentlichkeit zur Verfü­gung standen.

Wie immer, wenn so etwas geschieht, bildet sich die öffentliche Meinung rasch ihre eigene Sicht der Dinge, mitunter ist es auch eine blanke Einbildung. Und so wurde aus dem Havaristen Mary Celeste „das Geisterschiff“.

Was damals – höchstwahrscheinlich – anno 1872 im Atlantik ge­schah, darüber erfahrt ihr nun mehr:

Das Geisterschiff

von Eigel Wiese

Bastei 64195

192 Seiten, TB

September 2003, 7.90 Euro

ISBN 3-404-64195-7

Man schreibt den 5. Dezember des Jahres 1872, als das Segel­schiff DEI GRATIA vor Madeira ein fremdes Segel sichtet. Die Brigg ist am 7. November von New York aus in See gestochen, und die Matrosen freuen sich auf den Kontakt mit dem anderen Segler, um ein wenig Neuigkeiten auszutauschen. Doch statt­dessen haben sie eine Begegnung mit einem buchstäblichen Geisterschiff. Und ehe sie begreifen, was geschieht, legen sie den Grundstein zu einem Mythos der Seefahrt.

Das Schiff, dem sie begegnen, ist die Mary Celeste, die unter dem Kommando des jungen, aber erfahrenen Benjamin Spoo­ner Briggs am 15. November von New York aus gestartet ist. An Bord waren zusammen mit Briggs und seiner Frau sowie der zweijährigen Tochter noch sieben Matrosen. Kapitän David Reed Morehouse von der DEI GRATIA weiß das deshalb so ge­nau, weil er mit den Leuten und dem Kapitän der Mary Celeste im Hafen noch gesprochen hat. Die Mary Celeste ist mit einer Ladung Alkohol unterwegs nach Genua, doch diesen Hafen soll sie erst als Legende erreichen.

Die Mary Celeste macht einen völlig normalen Eindruck, wenn man davon absieht, dass niemand zu sehen ist und auch keine Menschenseele auf die Signale reagiert, die man gibt. Schließ­lich lässt Morehouse sein Schiff beidrehen und ein Prisenkom­mando an Bord senden. Was die drei entsandten Matrosen fin­den, macht die Sache nur gespenstischer:

Alles an Deck ist relativ aufgeräumt, lediglich die Ladeluken sind geöffnet, sodass sich in der Bilge Wasser gesammelt hat und schwappt. Allerdings ist es nicht sonderlich viel. Die Kom­passsäule ist umgestürzt, das Deckglas zerstört. Das Steuerru­der ist nicht befestigt, das Ruder selbst aber offensichtlich völlig in Ordnung. Einige Unordnung herrscht in der Takelage, das Bei­boot fehlt. Im Schanzkleid gibt es einige seltsame, unerklärliche Einschnitte, auch außen am Schiffsrumpf ist das der Fall.

Unter Deck finden sie ungemachte Betten, aber keinerlei Hin­weise, die auf ein Verbrechen schließen lassen. Einige Navigati­onsinstrumente fehlen, aber keine Vorräte, der Safe ist unange­tastet, die Ladung intakt. Die letzte Eintragung des gewissen­haften, streng christlichen Kapitäns betrifft den 25. November 1872. Das Wetter war an diesem Tag ausgezeichnet, das Meer äußerst ruhig. Es gibt keine Hinweise auf Unregelmäßigkeiten oder Katastrophen. Was immer geschehen ist, muss die Besat­zung förmlich überwältigt und in Panik von Bord vertrieben ha­ben. Aber niemand kann sich vorstellen, was das gewesen sein mag.

Alles in allem ist der Vorfall völlig unerklärlich.

Kapitän Morehouse bemannt das Geisterschiff mit einer Prisen­besatzung und lässt sie nach Gibraltar segeln, wo auch sein Zielhafen liegt. Doch statt den ersehnten Finderlohn zu erhal­ten, werden sie hier prompt arretiert und geraten unter den un­geheuerlichen Verdacht, sie hätten die Besatzung der Mary Ce­leste heimtückisch gemeuchelt, um das Geld zu kassieren.

Zwar lässt sich der gelegentlich hysterische Züge annehmende Verdacht des Generalstaatsanwalts Frederick Solly Flood auch in den nächsten Jahren nicht erhärten, doch da die Mari­neuntersuchungsakten volle 70 Jahre (!) unter Verschluss blei­ben, geraten nur die wirrsten und widersprüchlichsten Erkennt­nisse und Gerüchte an die Presse. Die Journalisten und Schrift­steller sowie Möchtegern-Schriftsteller stürzen sich nur zu be­reitwillig auf diese Story.

Da gibt es die Version, die Mary Celeste sei während ihrer Über­fahrt in die Nähe eines mordlüsternen Riesenkraken geraten, der einen Seemann nach dem nächsten über Bord gerissen habe. So ließen sich auch die Einschnitte am Schanzkleid erklä­ren – verzweifelte Beilhiebe der Matrosen, die das Ungetüm ab­zuwehren versuchten.

Eine andere Version berichtet von einem Piratenüberfall, der von geflüchteten Sklaven durchgeführt worden sei, die darauf­hin das Schiff an die afrikanische Küste gesteuert, die Besat­zung gemeuchelt oder entführt und das Schiff wieder freigege­ben hätten. Dass sich das überhaupt nicht mit dem Logbuch oder dem unberührten Schiffssafe verträgt, wird ignoriert. In ei­ner 1913 aufgegossenen Neuversion der Überfallgeschichte werden aus den Schwarzen Sombrero tragende, bärtige Gesel­len, die man unschwer als eine hysterische Kopie aus dem ame­rikanisch-mexikanischen Krieg erkennen kann, der erst kurze Zeit zurück liegt.

Dann wieder spekuliert man auf ein jähes Unwetter (was aber die auch damals schon zugänglichen Wetterberichte schlagend widerlegen), religiöser Wahnsinn wird zur Ursache erklärt, letzt­lich werden noch unterseeische Vulkanausbrüche, giftige Gase und vieles andere als mögliche Erklärung des Rätsels angeführt. Vielleicht hat ja auch die Frau an Bord Unglück gebracht? Frau­en auf Schiffen bringen, einem uralten Aberglauben zufolge, stets Unglück …

Doch je mehr man spekuliert, desto nebulöser und rätselhafter wird die Geschichte. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Journa­listen und Schriftsteller – darunter ein damals noch relativ unbe­kannter Arthur Conan Doyle – munter Details erfinden, um die Geschichte zu dramatisieren (etwa noch dampfendes Mit­tagessen oder Kaffee). Munter erfinden die sensationslüsternen Interpretatoren fiktive Besatzungsmitglieder, blinde Passagiere und ähnliches. Einer Lösung kommen sie alle nicht näher.

Dabei sagt schon wenige Jahrzehnte nach dem Vorfall ein Inter­pret völlig richtig, wenn man sich dem nähern wolle, was da­mals wohl wirklich passiert sein könnte, dann müsse man ein­fach mehr Details über die beteiligten Personen wissen. Und als schließlich der freie Journalist und Schriftsteller Eigel Wiese aus Hamburg sich des Mary Celeste-Rätsels annimmt, tut er genau das und findet schließlich nach 130 Jahren die Lösung für das Mysterium …

Als ich selbst das erste Mal auf die Mary Celeste stieß, schrieb man etwa das Jahr 1983 oder 1984. Der Name des Schiffes fiel damals im Zusammenhang mit dem Bermuda-Dreieck und rät­selhaften Ereignissen auf See. Obgleich natürlich das Bermuda-Dreieck nicht bis zu den Azoren reicht, war das besatzungslose Geisterschiff Mary Celeste sozusagen der Prototyp für solches Rätsel. Es ist also verständlich, dass ich sofort darauf ansprang, als ich dieses Buch entdeckte. Und dass ich es innerhalb von anderthalb Tagen „verschlang“.

Die beklemmende Lösung hat vieles für sich, wenngleich sie, für sich genommen, nicht richtig phantastisch ist, schon gar nicht so phantastisch, wie es einst Philip José Farmer in seinem Ro­man „Das echte Log des Phileas Fogg“ (Heyne 3980) dargestellt hat. Einerlei. Die langsame Entfaltung der Details, das Aufdrö­seln der einzelnen Hypothesen und ihr genüssliches Widerlegen durch Herausstellen der Widersprüche hat seinen unbestreitba­ren Reiz. Der Autor Wiese kann solide und packend schreiben, er bringt auch dem Laien die nautischen Fachbegriffe nahe, ein Glossar ergänzt das Buch, desselben Skizzen und Zeichnungen sowie zeitgenössische Fotos von den Protagonisten, sodass man sich ein gutes Bild dessen machen kann, was dort geschah.

Wer einmal erfahren möchte, was Menschen aus einer rätselhaf­ten Begebenheit machen und wie diese sich letztlich durch mehr oder minder phantastische Ausschmückungen zur schein­bar unentwirrbaren Legende verknäult, der ist hier genau rich­tig. Und am Ende sieht man das Meer mit anderen Augen, und natürlich auch das Geisterschiff Mary Celeste

© 2005 by Uwe Lammers

Ich habe oben aus gutem Grund die Lösung nicht geliefert. Eine Rezension soll ja nicht originär dazu führen, dass man sie als Er­satzlektüre für das Buch selbst missbraucht. Aber ich kann euch beruhigen – die Lektüre lohnt sich unbedingt, so desillusionie­rend sie vielleicht auch für den munteren Verschwörungstheore­tiker sein mag. Denn die spannendsten Geschichten schreiben eben nicht jene Leute, die in rätselhafte Ereignisse mystizisti­sche Geheimnisse hineinprojizieren. Die spannendsten Ge­schichten schreibt immer noch das Leben selbst, und damit meine ich dann in der Aufarbeitung der Geschehnisse die realen Fakten, die nach und nach ein dramatisches Bild der damaligen Ereignisse sichtbar machen, das der Fiktion kaum nachsteht.

In der nächsten Woche erleben wir mal wieder ein rasantes Abenteuergarn des Fargo-Schatzsucher-Ehepaars aus der Feder eines Clive Cussler-Epigonen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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