Liebe Freunde des OSM,

ich möchte zwei Dinge vorausschicken, ehe ich euch in diese jüngere Rezension hineinsende. Manches daran könnte viel­leicht sensible Gemüter auf abwegige Gedanken bringen. Und da wir ja heutzutage in Mimosen-Zeiten leben, in denen gewisse Worte unter Sprachverbot stehen, diverse Themen die offenbar zwingende Installation von „Content Warnings“ erfordern (die ich in der Regel für unnötig halte, wenn man nicht aufgeschlos­sene Leser über Gebühr bevormunden möchte), sei diese Be­merkung vorab gemacht.

Ich mag Sherlock Holmes ausgesprochen gern, das gilt in der Regel auch für Epigonenliteratur, die bisweilen auf sehr unter­haltsame Weise den traditionellen Kanon von Arthur Conan Doy­les Werken erweitern. Und ebenso schätze ich Philip José Farmer als einen äußerst intelligenten, versierten Erzähler mit gele­gentlich äußerst innovativen Ideen.

Warum sage ich das vorab, wenn das doch offensichtliche Selbstverständlichkeiten sind? Nun, in dem heute vorzustellen­den Werk, geschrieben von Philip José Farmer, geht es originär um Sherlock Holmes. Was der Grund war, warum ich mir dieses Buch schenken ließ und es neugierig durchschmökerte. Das schlussendliche Fazit der Lektüre fiel leider etwas ernüchternd aus, obwohl der Anfang wahrhaftig sehr viel versprechend be­gann. Es ist ein lesenswertes Experiment, das gleichwohl für hartgesottene Holmes-Kenner eine Zumutung darstellen könn­te.

Wie das? Nun, ich schlage vor, ihr folgt meiner unten stehenden Argumentation, dann werden diese kryptischen Worte etwas transparenter …

 

Sherlock Holmes und die Legende von Greystoke

(OT: The Further Adventures of Sherlock Holmes: The Peerless Peer)

Von Philip José Farmer

Atlantis-Verlag, Stolberg, 2013

134 Seiten, TB

Aus dem Amerikanischen von Ben Sonntag

ISBN 978-3-86402-066-7

Man schreibt den 2. Februar des Jahres 1916, als sich Sher­lock Holmes zur allgemeinen Überraschung seines alten Part­ners Dr. John Watson von seiner Bienenzucht in Sussex losreißt und einmal mehr für die Belange des Empires in die Bresche wirft. Der Grund ist simpel wie frustrierend: Der deutsche Spion Von Bork, mit dem sie beide schon während des Krieges zu tun hatten und den sie dingfest machen konnten, ist entkommen. Schlimmer noch – er hat die Formel für einen mutierten Bazillus geraubt, der unermesslichen Schaden anrichten kann.

Inzwischen, sagt Mycroft Holmes, agiert von Bork von Kairo aus, und um ihn aufzuhalten, werden Sherlock und Watson sich einer neumodischen Mordmaschine anvertrauen müssen – dem Flugzeug! Das allein ist schon Zumutung genug für die beiden recht betagten Herren, aber der Zumutungen gibt es gar viele in dieser Geschichte für sie.

Die nächste ist ihr offensichtlich geistesgestörter, schießwüti­ger Pilot, der bereitwillig das Steuer des Fluggefährts im Stich lässt, um mit Maschinengewehren deutsche Jagdflieger abzu­schießen und dabei das eigene Fahrzeug zu durchlöchern. Bei anderer Gelegenheit glaubt der ständig geisterhaft lautlos auf­tauchende Mann, das Flugzeug werde von Riesenfledermäusen verfolgt.

Als sie nach nervenaufreibendem Flug endlich Nordafrika er­reichen, gehen die stressigen Unterbrechungen in einem fort: sie fliegen in einen ausgewachsenen Sturm, wo sie mit Von Borks Zeppelin kollidieren und in Gefangenschaft geraten. Und schließlich stranden sie weitab der Zivilisation im Urwald Afri­kas, wo ihnen ein unbekanntes Volk begegnet, Watson eine neue Liebe findet und die beiden Freunde die Bekanntschaft machen mit dem so genannten Herrn des Urwaldes, den ein amerikanischer Schriftsteller auf den Namen Tarzan getauft hat. In Wahrheit handelt es sich dabei um Lord Greystoke, einen waschechten Adeligen aus England mit einer zutiefst abenteu­erlichen Geschichte … jedenfalls scheint es so. Holmes jedoch hegt Zweifel daran und sucht unverfroren die Konfrontation …

Man kann dem am 25. Februar 2009 mit mehr als 90 Jahren hoch betagt verstorbenen Farmer vieles nachsagen – nicht je­doch, dass er nicht unterhaltsam zu schreiben versteht. Wenn man diese Geschichte zu schmökern beginnt, setzt ein Effekt ein, den ich eigentlich von Robert E. Howard kenne – man kann aus der Geschichte kaum mehr herausfinden, ehe man sie aus­gelesen hat … was ich als ausdrückliches Qualitätszeugnis ver­standen wissen möchte. Mächtig unterhaltsam ist diese Ge­schichte wahrhaftig. Ich habe sie folgerichtig, gut portioniert, in drei Tagen weggeschmökert. Es wäre auch an einem Nachmit­tag möglich gewesen … aber warum das Vergnügen verkürzen, wenn man es etwas strecken kann?

Philip José Farmer verknüpft hier die Dschungelabenteuer eines Edgar Rice Burroughs mit den älteren Werken von Henry Rider Haggard und Arthur Conan Doyle zu einer Mixtur, die augen­scheinlich Teil seines Wold Newton-Universums ist und in dem so heterogene Wesen wie Solomon Kane (R. E. Howard), Profes­sor Moriarty (der hier bizarrerweise mit Kapitän Nemo gleichge­setzt wird), Phileas Fogg (Jules Verne), Arséne Lupin, Doktor Fu Manchu, Philip Marlowe, James Bond, Doc Savage, Allan Quater­main, The Shadow und zahlreiche weitere prominente und in der Regel fiktive Personen familiär miteinander verknüpft wer­den. Auf diese Weise hat er gewissermaßen ein Fan-Metaverse geschaffen, das einiges an Originalität für sich beanspruchen kann.

Hier nun versuchte er auch, Sherlock Holmes mit einzugemein­den. Ist dieser Versuch gelungen? Ich zögere, das so zu sehen. Es ist, wie erwähnt, ein höchst lebendiger, mitreißender und le­senswerter Roman. Aber Holmes-Puristen wird ohne Frage auf­fallen, dass der große Detektiv vor allen Dingen eins geworden ist: ein quasselndes Sprachrohr des Verfassers, damit dieser sei­ne Informationen unterbringen konnte.

Wer indes den Kanon kennt, weiß zur Genüge, dass Holmes eins mit Sicherheit nicht ist: geschwätzig. Er ist weitaus eher wort­karg und geheimniskrämerisch, und insbesondere in gefährli­chen Situationen neigt er nicht dazu, lange Monologe zu halten. Man schaue sich im Roman dagegen mal die Seiten 91-106 (!) an und vergegenwärtige sich die Lage, in der sich die drei Per­sonen befinden: Holmes und Watson haben einen Baum erklom­men, um von oben einen Blick in ein nach oben offenes Gebäu­de zu werfen, in dem sie ein archaisches Ritual verfolgen. Ohne Frage sind sie von den Personen unten allerhöchstens vier oder fünf Meter entfernt.

Farmer vergisst diese riskante Situation vollständig, in der jedes laute Wort oder längere Unterhaltung ihre Entdeckung heraus­fordern kann, und stattdessen lässt er Holmes lang und breit über Greystokes Abstammungslinie schwadronieren und riskiert halb und halb, von diesem massakriert zu werden …

Am Ende wünschte ich mir wirklich sehr, Farmer hätte weniger prominente und bekannte Protagonisten für diesen Roman ge­wählt. Denn mit Sherlock Holmes konnte ich jenen schwatzen­den alten Herrn nun wirklich kaum in Deckung bringen. Es ist ein interessantes Experiment, keine Frage. Aber ich finde, es ist nur teilweise solide geraten. Und mit dem Sherlock Holmes des Arthur Conan Doyle hat dieser hier nur wenig mehr als den Na­men gemein, den Duktus des Kanons hat Farmer leider deutlich verpasst.

© 2024 by Uwe Lammers

Wer hier jetzt doch einigermaßen ernüchtert ist und vielleicht von der Lektüre des vorgestellten Romans Abstand nimmt … ich rate nicht dazu. Aber die Ansprüche an Holmes-Epigonenroma­ne sollte man an dieser Stelle durchaus etwas drosseln. Tut man dies, hat man ein recht unterhaltsames Abenteuergarn vor sich, das zumal für Tarzan-Fans vielleicht noch mehr Spaß macht.

Ob das Abenteuer von Kurt Austin und seinen Mannen von der NUMA, über das ich in der kommenden Woche berichten werde, so angenehm verläuft, darf man getrost bezweifeln. Aber dazu sage ich dann an in sieben Tagen an dieser Stelle mehr.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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