Rezensions-Blog 96: Der Mensch ist des Menschen Wolf

Posted Januar 25th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

das Zitat ist vertraut, die Quelle weniger. Diese Wendung geht zurück auf den römischen Dichter Titus Maccius und wurde viele Jahrhunderte später durch den britischen Philosophen Thomas Hobbes wieder allgemein ins Bewusstsein zurückgerufen. Von beiden Ursprüngen entfernen wir uns heute mal und reisen in eine äußerst entmenschlichte Zeit um die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück, wo sich Menschen tatsächlich in eine Form von Tieren zurückentwickelt zu ha­ben scheinen, wenigstens – ohne den Tieren zu nahe treten zu wollen – im mo­ralisch verrohten Sinne.

Die mit dem heute zu empfehlenden Buch vorliegende Autobiografie ist des­halb besonders beeindruckend, weil hierin auch eine Art von grundlegender Systemveränderung dokumentiert wird. Janusz Bardach erlebt auf grässliche Weise eine Desillusionierung, wie man sie sich schrecklicher kaum vorstellen kann. Geboren als polnischer Jude im Jahre 1919, gerät er in das mörderische Räderwerk der psychotischen Verfolgung der sozialistischen Sowjetbehörden. Und die Konsequenzen sind für uns Außenstehende beinahe unbegreiflich.

Ein Grund, Bardach zu lauschen, und für mich ein Grund, dieses Buch rund 15 Jahre nach der Lektüre einem allgemeinen Publikum vorzustellen.

Vorhang auf für:

Der Mensch ist des Menschen Wolf

Mein Überleben im Gulag

(OT: Man is Wolf to Man. Surviving the Gulag)

von Janusz Bardach und Kathleen Gleeson

dtv premium 24184

Übersetzt von Margret Fieseler

1. Auflage: Februar 2000

2. Auflage: Oktober 2000

472 Seiten, TB

ISBN 3-423-24184-5

An der weißrussischen Front: Juli 1941

Die Grube, die ich graben musste, hatte exakt die Ausmaße eines Sarges. Der sowjetische Offizier plante sie sorgfältig. Er maß mich mit einem Stock, zeichne­te Linien auf den Waldboden und befahl mir, zu graben. Er wollte sichergehen, dass ich gut hineinpasste…“

So beginnt der Alptraum namens Leben, in das der Leser eintaucht, wenn er dieses Buch in die Hand nimmt und mitgerissen wird von der lebendigen, ein­dringlichen und manchmal unendlich qualvollen Lebensgeschichte des polni­schen Juden Janusz Bardach, der im Zweiten Weltkrieg und in der Folgezeit Din­ge durchmacht, die ihn an Gott, der Welt und allem zweifeln lassen, an das er jemals geglaubt hat.

An den Idealen seiner Familie, an der Gutmütigkeit seiner Mitmenschen, an der visionären Kraft und Gerechtigkeit des großen Arbeiterführers Stalin, der Wohl­stand und Freiheit über alle bringen wird, ja, ihm erwachsen sogar Zweifel an der Rechtmäßigkeit der sozialistischen Doktrin und den marxistischen Gedan­ken, die seine Jugend geprägt haben. Und Janusz lernt, am Leben zu verzwei­feln… oder jedenfalls beinahe.

Janusz Bardach wird am 28. Juli 1919 als jüngster Sohn einer wohlhabenden jü­dischen Familie in Odessa geboren, wächst aber in der kleinen Stadt Wlodzi­mierz-Wolynski in Zentralpolen auf und wird, als die Jugend dort immer stärker in den Bann nationalistischer und antijüdischer Parolen ge­rät, Mitglied der so­zialistischen Jugendbewegung, wo er sich bald in wichtige Positionen behauptet und mit glühendem Eifer an die Gerechtigkeit der marxistischen Internationale glaubt. Für ihn sind die Verlautbarungen der Partei, die Informationen über das Leben in der Sowjetunion, die lautere Wahrheit, und er kann sich nichts Schö­neres vorstellen, als dereinst für den Sozialismus in den Kampf gegen den Fa­schismus zu ziehen.

Im September 1939 scheint es soweit zu sein: die Deutschen beginnen, das pol­nische Territorium zu überfluten und bedrohen Janusz´ Eltern und besonders auch seine heißgeliebte Freundin Taubcia und deren orthodoxe Familie. Doch noch haben sie Glück. Die Rote Armee marschiert von der öst­lichen Seite des Landes ein und besetzt einen Teil Polens, in deren Einflussbereich auch Wlodzi­mierz-Wolynski liegt.

Janusz sieht seinen Traum erfüllt, aber er wird von den Sowjets schlicht igno­riert, als er sich frei­willig zum Befreiungskampf gegen die Nazis einziehen lassen möchte. Niemand hat zu dieser Zeit eine Ahnung vom Molotow-Ribbentrop-Ge­heimabkommen, in dem sich die Nazis mit Stalin über die Teilung Polens geei­nigt haben.

Es kommt noch schlimmer.

Der sowjetische Geheimdienst NKWD ist nun natürlich im besetzten Polen prä­sent und beginnt mit einer Verhaftungswelle von „Kapitalisten“ und „Ausbeu­tern“. Alle Besitzer von Grund und Boden, alle Leute, die Vermögen angehäuft haben, geraten ins Visier des Geheimdienstes, darunter auch Ja­nusz´ Vater und der Rest der Familie.

Der junge Janusz versucht, das Schlimmste zu verhindern, indem er an die loka­len Gremien der Partei appelliert. Doch statt Erfolg zu haben, wird er einer un­vergesslichen Tortur unterzogen: der NKWD rekrutiert ihn als „zivilen Zeugen“ der Verhaftungen, und so bekommt er die Gräuel, die der von ihm eigentlich bewunderte sozialistische Geheimdienst unter seinen persönlichen Bekannten und Freunden in seiner Heimatstadt anrichtet, inklusive von Misshandlungen und Vergewaltigun­gen, hautnah mit. Zutiefst schockiert gerät sein Glaube erst­mals ins Wanken.

An seinem 21. Geburtstag wird er von der Roten Armee zwangsrekrutiert und in die Ukraine ver­legt, um dort ausgebildet zu werden. Er lernt heruntergekomme­ne Kasernen, schikanöse Vorgesetz­te, sadistische Ausbilder, brutale Schlägerei­en und Vergewaltigungen unter den Soldaten kennen und muss rasch begrei­fen, dass sein Bild von der Sowjetunion (mindestens von den unteren Militär­rängen und dem Geheimdienst) offenkundig völlig falsch war. Beklommen wird er eingefangen von einer Atmosphäre des permanenten Misstrauens, der De­nunziation und der fast alltäglichen Folter. Und Janusz muss schockiert erken­nen, dass Antisemitismus unter den Soldaten der Roten Armee weit verbreitet ist. Sehr weit verbreitet.

Doch noch immer denkt er, der Genosse Stalin wisse von alledem nichts, und wenn man ihm Be­scheid gäbe, würde der fast absurd vergötterte Führer der Sow­jetunion mit diesem „Schlendrian“ aufräumen und die perversen Elemente der Armee allesamt hart bestrafen für das, was sie tun.

Doch das Klima der Angst ist ansteckend. Nur durch den Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Jahre 1941 entgeht er einer intensiveren Verflechtung in sozia­listische Organisationen. Janusz wird Panzerfahrer, der mit einem modernen Kampffahrzeug gegen die Nazis antreten soll.

Bei einer Überführung der Fahrzeuge an die Front kommt es zu einem folgen­schweren Unfall, bei dem der Panzer im Wasser versinkt. Janusz kann sich gera­de noch retten und muss mit seinen Ka­meraden bald darauf den Panzer wieder instandsetzen. Als „Dank“ dafür wird er der Sabotage an­geklagt und nach § 193.15, Absatz D, zum Tode verurteilt.

Nur ein Zufall hilft ihm, dieses Urteil in eine fünfzehnjährige Haftstrafe mit schwerer körperlicher Arbeit umzuwandeln. Doch er hat keine Ahnung, wohin ihn sein Weg führen wird: in monatelangen Eisenbahntransporten, in ViehwagKg­ons, in denen die Verurteilten zu Dutzenden sterben und Janusz zu seinem Un­verständnis auch verurteilte hochrangige NKWD-Offiziere und Majore der Roten Ar­mee trifft, die nach wie vor treu ans System glauben, wird ihm langsam klar, dass etwas schrecklich falsch ist. Entweder am System oder an seinem Glauben.

Oder an beidem.

Er lernt Transitlager wie Burepolom kennen, wird zur Zwangsarbeit eingesetzt, führt verstohlen Ge­spräche mit Mitgefangenen und entdeckt ungläubig, dass Kriminelle in manchen Lagern und Haft­anstalten wie Könige herrschen und sich die örtlichen NKWD-Funktionäre mit ihnen fraternisieren. Es existiert, so kommt es bald heraus, ein reich innerhalb des sozialistischen Reiches, und das Herz­stück davon ist der schlimmste Ort der Sowjetunion: Kolyma.

Bete darum, dass du nicht nach Kolyma kommst“, sagen Janusz viele Mitgefan­genen, die aus der umgekehrten Richtung kommen und unterwegs sind in an­dere Lager. Sie haben den Archipel Gulag überlebt und sind aufs „Festland“ zu­rückgekehrt. Aber Janusz, der naive, jüdische Soldat der Roten Armee, der nichts mehr weiß von seinen Angehörigen, der vielfach brutal misshandelt und gefoltert wird und beinahe den Glauben an alles verliert, er hat keine Wahl: Der Zug hält erst in Wladiwo­stok, und von hier aus geht ein gigantischer, Tausende von Gefangenen umfassender Sklaventrans­port zur See hinauf in den Gulag von Kolyma, wo auf alle harte Arbeit in Goldgräbercamps, Bleimi­nen oder beim Straßenbau und Holzfällen wartet.

Und hier beginnt Janusz Bardachs Alptraum erst richtig, der Alptraum, der Le­ben heißt und der aus Menschen Tiere oder noch Niedrigeres macht, der ihr Herz versteinern lässt und Mitmenschlichkeit zu einem sehr raren Gut macht. Hier, wo Leben nichts mehr bedeutet, wo der Mensch dem Men­schen ein Wolf ist, schälen sich die letzten Reste seines treuen Glaubens an die sozialistischen Idea­le ab, und hier muss Janusz hart werden wie die anderen – und doch versu­chen, sich einen Funken Anstand und Güte zu erhalten, Hoffnung auf ein Da­nach, das in unendlich weiter Ferne zu liegen scheint…

Diese Autobiografie Janusz Bardachs, der zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Buches 76 Jahre alt war und in Iowa in den USA als international anerkannter plastischer Chirurg lebt und arbeitet, hat es mit seinen Worten auf eindringli­che, beispiellose Weise verstanden, mich in den Bann einer Welt zu ziehen, die ich – seit ich den Band 1 von Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ fand – im­mer einmal besuchen wollte, wenigstens in Form eines Leseeindrucks.

Wenn man wirklich gebannt dem Lesefluss lauscht und folgt, so ist es fast un­möglich, sich aus dem Bann dieses Buchs wieder zu lösen. Mir erging es so, und ich habe es innerhalb von nicht einmal zehn Tagen ausgelesen. Nur an manchen Stellen, wo es gar zu düster wurde, musste ich pausieren.

Man sollte meinen, dieses Werk sei erfüllt von intensiven Darstellungen der Grausamkeiten des Ge­heimdienstes, vielleicht von Zorn, Hass auf die einstigen Peiniger, stellenweise unmöglich zu lesen, weil sich dem Leser der Magen um­dreht… doch weit gefehlt. Zwar wird in diesem Buch eine Men­ge an beispiello­sen Grausamkeiten geschildert, doch Janusz vollbringt das unglaubliche Kunst­stück, dem Leser klarzumachen, dass die Funktionäre des Systems selbst eigent­lich „nur“ Menschen wa­ren, ebenfalls Räder im Getriebe, und dass glühender Patriotismus und Pflichterfüllung keineswegs halfen, um diesen Mühlen des Gu­lag zu entkommen. Das System selbst war es, das die Entmensch­lichung verur­sachte, weniger die Menschen, die ausführende Organe darstellten.

In den Zeiten Stalins wurden mehr als zwanzig Millionen Sowjetbürger also mehr als ein Achtel al­ler Männer, Frauen und Kinder, durch Erschießungskom­mandos umgebracht oder im Gulag drang­saliert, viele unschuldig, andere durch Denunziation wegen kleinster Vergehen zu langjährigen, oft­mals tödlichen Ar­beitslagerstrafen verurteilt. Und die Verurteilenden, die NKWD-Offiziere, die Oberste, Brigadeführer, Verhörspezialisten und Politbüromitglieder sowie deren Familien, sie waren häufig die nächste Gruppe, die ihren Opfern in den Gulag folgten – verurteilt durch einen paranoi­den Verfolgungswahnkomplex Stalins, verhaftet, weil einfach ein paar tausend „Verräter“ verhaftet und in die Lager geschickt werden mussten… einfach so. Schuld war unbedeutend, wenn der Plan ein bestimmtes Soll an Verrätern vorsah, die zu deportieren waren…!

Es ist Janusz Bardach hoch anzurechnen, dass er in all dieser Kaskade grauen­hafter Vorkommnisse und ungeheuerlicher Schilderungen seine Menschlichkeit bewahrt hat. Dass er Dankbarkeit kennt, den Nächsten helfen möchte, dass er es versteht, Gleichgesinnte zu finden, Freunde, sogar ein we­nig Liebe. Auf diese Weise bringt er uns „Normalsterblichen“, die sich solch ein Leben gar nicht ein­mal annähernd vorstellen können, zu Bewusstsein, dass solch ein System, das sich überall eta­blieren kann, wie auch der Faschismus überall aufblühen könnte, doch eins letzten Endes nicht ver­mag: die wirklich an das Gute im Menschen glaubenden und hoffenden Männer und Frauen völlig zu zerbrechen. Selbst als Janusz Bardach alles verloren zu haben scheint, was ihm das Leben le­benswert macht, gibt es dank seiner Art und Weise, selbstlos zu helfen und einfach menschliche Wärme zu leben, Personen, die zu ihm halten und wieder aufrich­ten. Selbst im Gulag, der eine Höl­le auf Erden darstellt, wenn es jemals eine ge­geben hat.

Wer immer intensive, menschliche Autobiografien lesen mag, sollte an diesem Buch nicht vorbeige­hen. Er wird es später bereuen.

© by Uwe Lammers, 2002/2016

Harter Stoff, meine Freunde? Das will ich euch gerne glauben. Aber in der kom­menden Woche könnt ihr – dem Kontrastprogramm entsprechend, das ich euch gern biete – wieder etwas entspannen. Dann reisen wir noch mal rund 150 Jah­re weiter zurück und kümmern uns einmal mehr um geschichtliche Hinter­grundbildung in Hinblick auf das alte Ägypten.

Was das genau bedeutet? Schaut einfach wieder rein, wenn ihr mehr wissen wollt.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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