Wochen-Blog 329: Charakterisierungen für Todgeweihte?

Posted Juni 23rd, 2019 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

das hört sich jetzt vielleicht melodramatisch an, aber wenn ihr mir heute auf diesem Pfad der Argumentation folgt, werdet ihr etwas entdecken, was euch vermutlich nicht gefällt. Aber seid beruhigt – mir gefällt das heutzutage auch nicht mehr, und es ist ein gutes Zeichen dafür, dass ich mich im Laufe der ver­gangenen gut 35 Lebensjahre gründlich als Schriftsteller entwickelt habe. Well, ich würde nicht so weit gehen zu sagen, ich sei inzwischen das, was man einen routinierten, guten Autor nennt – dafür bin ich erkennbar noch zu sprunghaft und intuitiv, zu wenig planerisch denkend – , doch in diesem Punkt habe ich mich deutlich weiter entwickelt.

Wenn man einen alten Fehler immer wieder in seinen eigenen Texten vorfindet und vor allen Dingen als ebensolchen erkennt, dann zeigt das meiner Ansicht nach schon, dass man einen mentalen Schritt weiter ist als zu dem Zeitpunkt, als ich die erwähnten Texte schrieb.

Heute möchte ich mal ganz außer der Reihe etwas über Personencharakterisie­rung in der Frühzeit des Oki Stanwer Mythos (OSM) erzählen. Und dazu, warum ich damals ganz offenkundig der Auffassung war, dass manche Leute (die meis­ten, wenn ich ehrlich sein soll) so überhaupt kein Profil bekamen.

Ich habe jüngst mal wieder zwei alte OSM-Episoden abgeschrieben und kom­mentiert. Die eine stammte aus dem Sommer 1985, die andere aus dem Herbst des Jahres 1990. Beide enthielten dieselbe strukturelle Fehlerquelle, und beide Male habe ich das einigermaßen gallig kommentiert, weil ich einfach nicht an­ders konnte. Und jenseits meiner traditionellen „Fehlerlese“ ist es, denke ich, mal an der Zeit, diesen ganz speziellen „Fehler“, den ich damals natürlich nicht als solchen erkennen konnte, zu thematisieren.

Lasst mich also zwei Textauszüge bringen, und dann schauen wir uns an, was ich da strukturell falsch gemacht habe. Aus begreiflichen Gründen kann ich euch die Detailstellen nicht nennen. Beim Auszug 1 (1985) geht es deshalb nicht, weil ich damit deutlich den „Close Up“-Artikeln vorgreifen würde. Wir kommen noch zu dieser Folge, versprochen. Im Fall des zweiten Zitats (1990) würde ich euch zu viel Informationen über den Fortgang des KONFLIKTS 12, also der Serie „Oki Stanwer – Bezwinger des Chaos“ geben, wenn ich präzisierte, wo genau diese Stelle im Serienkontext zu finden ist.

Kommen wir zu Zitat 1 (1985). Es lautet wie folgt:

GEGENWART:

„Die Entropie-Werte steigen an!“(,) rief Xanor-Ert1 erregt. Die Lichtfestung war zerstört, aber dort war ein violettes Loch im Kosmos entstanden, das sich laufend ausweitete. Und die violetten Schwaden, die dort herauskamen2, trie­ben auf Tohl III zu. Dort aber stand das Entropie-Tor nach TOTAM!

„Wir müssen es sofort aktivieren“, sagte Trann-Lors.3

„Lassen wir die Raumer gleich hineinfliegen?“

„Nein, sie sind zu groß. Wir müssen einzeln hindurchgehen. Das Reich stirbt, wir aber werden das Ewige Reich errichten. Beeilt euch mit der Durchsage. Alle DIGANTEN sollen sich dort auf Tohl II und Tohl III einfinden.“

So geschah es.

Und dann haben wir Zitat 2 (1990), das so aussieht:

Jheakon:

„Und der andere Posten ist verschwunden?“, fragte der Militärkommandant Rhylant.4

„Ja, Kommandant“, sagte der Wissenschaftler, der hier die Leitung des Trans­mitterkomplexes hatte.5 „Es handelt sich sicherlich nicht um Fahnenflucht…“

„Nein, wahrscheinlich nicht. Aber auch nicht um einen Angriff, denn dann hätte der Unbekannte oder die Unbekannten weitergemacht.“

Die beiden Sargoy gingen durch das dreieckige Schott und den langen gold­farbenen Gang in den Transmittersaal mit seinen acht schwarzen, riesenhaften Trapezwänden. Sie sahen unheimlich aus, weil keiner sie auf Dauer kontrollieren konnte. Keiner konnte sagen, wohin all diese Tore führten. Sechs von ihnen wa­ren erforscht, sie führten zu anderen Transmitterwelten.

Aber zwei waren unerforscht.

Und in dem Moment, als die beiden Sargoy alleine in dem Transmitterraum standen, fuhr hinter ihnen auf einmal das Transmitterschott herunter, das man von innen nicht öffnen konnte. Jedenfalls wussten sie beide nicht, wie es ging.

Die beiden bärenartigen Riesen aus dem Volk der Sargoy gerieten zumindest in Nervosität. Sie rannten zum Schott zurück. „Wie macht man das auf, Kal­jeoor? Sie müssen das doch wissen…!“

„Ich… ich… so etwas ist nie vorgekommen…“, stammelte der Wissenschaftler.

Dann hörten sie die Geräusche hinter sich.

TAUCHTEN JETZT DIE BAUMEISTER AUF?

Grauen ließ den beiden Sargoy die Haare zu Berge stehen. Dann drehten sie sich um und sahen die silberhäutigen Yesvaa aus dem Transmitterkanal 7 stei­gen, einem der beiden unerforschten.

Rhylant riss seine Waffe heraus, aber lange bevor er sie auslösen konnte, durchbohrten ihn vier Todesstrahlen der silberhäutigen Humanoiden.

„Bitte… bitte… nicht… ich ergebe mich…“, stammelte Kaljeoor wimmernd. Er war kein Held.

„Wir brauchen ihn nicht“, entschied ein Yesvaa gefühlskalt.6

Die Strahlen töteten auch den Wissenschaftler, der an dem geschlossenen Schott herabsank.

Ein großes Gerät wurde hereingeschoben aus dem schwarzen Transmitterka­nal.

„Wollen wir es wirklich einsetzen?“, flüsterte ein Yesvaa schaudernd. Er frös­telte.

„Wir müssen! Dies ist die ultimate Waffe. Und nun komm, Taloos.7 Wir müs­sen zurück. In wenigen Momenten aktiviert sich die Waffe. Wir wollen nicht, dass sie nach beiden Seiten losgeht.“

Sie traten in das schwarze Wallen, das einen Moment später starr und glatt wurde.

Das Schott fuhr wieder hoch, und die alarmierten Sargoytruppen stürmten herein. Sie sahen die Leichen der beiden Vorgesetzten und erlebten mit, wie sich das Addjh-Feld bildete.

Es war das Letzte in ihrem Leben, was sie sahen…

Was genau lernen wir daraus? Nun, Folgendes: Wie ihr erkennen konntet, wer­den zwar jede Menge Namen genannt, auch gelegentlich Rangpositionen, aber sonst fehlt im Grunde genommen jedwede Charakterisierung. Nicht nur optisch werden sie nicht beschrieben, sondern auch sonst nicht – und man kann nicht behaupten, dass DIGANT, Sargoy oder Yesvaa (aus diesen Völkern stammen die erwähnten Personen) in irgendeiner Weise erschöpfend wäre. Das würde so sein, als würde ich x-beliebige Protagonisten nur als „Menschen“ beschreiben und der Auffassung sein, damit seien sie hinreichend charakterisiert.

Jeder Leser merkt sofort, dass das Nonsens ist.

Ich hatte damals zwei falsche Vorstellungen in meinem Kopf, die zu einer ziem­lich verengten, schematischen Personendarstellung führten. Zum einen malte ich mir offensichtlich aus, dass Alienvölker, die grundsätzlich nicht menschen­ähnlich seien, allein schon durch ihre Fremdartigkeit gewissermaßen „homo­gen“ seien, was es mir erschwerte, den Personen individuelle Züge zu verleihen. Besonders schwer fiel mir das etwa bei den Cranyaa, Insektoiden mit einem starren Chitinpanzer, die notwendigerweise keine Mimik aufwiesen. Sie zu beschreiben, war… schwierig. Also beschränkte ich mich dort in der Regel darauf, Rang und Namen zu nennen und es dabei zu belassen. Heute würde ich das anders machen.

Dummerweise dehnte ich das auf andere OSM-Völker aus. Die Allis oder Tasva­ner sind in KONFLIKT 12 ein recht prägnantes Beispiel… aber gerade bei ihnen bin ich ziemlich lernfähig gewesen, wie ihr aus dem E-Book „BdC 1: Im Feuer­glanz der Grünen Galaxis“ ersehen könnt. Ich würde sagen, dort bekommen die Tasvaner schon ordentliches individuelles Profil.

Oben jedoch, vor 34 bzw. 29 Jahren, sah das noch deutlich anders aus. Dort in­dividuelle Sargoy oder Yesvaa zu beschreiben, fiel mir unendlich schwer. Da werde ich in der Überarbeitung grundlegende Veränderungen und massive Aus­bauten leisten müssen, damit die zahllosen Protagonisten Profil gewinnen.

Was war der zweite Fehler, den ich damals machte und der sich über Jahre fort­setzte? Ich habe ihn in Fußnote 5 ziemlich klar ausgesprochen: viele der Prot­agonisten, die ich in die Handlung pflanzte, hatten kein langes Leben, sondern waren in der Regel nach wenigen Seiten alle tot. Und ich stand damals (wahr­scheinlich, ich kann es nicht mehr konkret ermitteln) auf dem Standpunkt: Wie jetzt? Ich muss diese Leute charakterisieren? Warum denn? Die sind doch gleich tot. Da kann ich mir das sparen…

Nein, dass das grundfalsch ist, weiß ich sehr wohl. Heutzutage ist mir mehr als bewusst, dass Leser nur mit solchen Personen mitleiden, die sie zumindest ein wenig näher kennen lernen und sie als individuelle Persönlichkeiten begreifen können. Das Mitgefühl und Mitleiden wird erst durch die personelle Nähe er­möglicht, andernfalls sind die Protagonisten austauschbar wie der Inhalt eines stetig wieder aufgefüllten Regals, und die Leser bleiben dann gleichgültig und unbeeindruckt, egal, wie schrecklich die sich anschließenden Handlungen sein mögen.

Wie gesagt, heute ist mir das sehr bewusst, aber 1985 oder auch noch 1990 schob ich die Personen in meinen Geschichten hin und her wie Schachfiguren, und das geschah bisweilen mit ganzen Spezies und Planetenbevölkerungen… wer immer mir damals bei der Lektüre des rudimentären Episoden-OSM brutale Kaltschnäuzigkeit vorgehalten hätte, wäre vollkommen im Recht gewesen.

Heutzutage weiß ich es glücklicherweise besser, und ich nehme meine Perso­nen, die mir im Rahmen der OSM-Geschichten über den Weg laufen, sehr viel ernster als einst. Ihr merkt das in meinen E-Books, dass da immer stärker die Normalität des Alltagslebens Raum findet, und genauso soll das auch sein.

Mögen heute also auch viele meiner Handlungspersonen dem baldigen Tode geweiht sein, so kann ich euch versichern, dass ich sie nicht mehr wie die „Redshirts“ in der Sternenflotte behandeln werde, wo sie üblicherweise auch nur Namen, Gesicht und Rang bekommen, ehe sie den Löffel abgeben… nein, ihr werdet euch auch mit den Leuten anfreunden, die bald darauf nicht mehr da sind. Sie sind ebenfalls vollwertige Handlungspersonen und verdienen es, ernst genommen zu werden.

Versprochen, so werde ich künftig vorgehen. Und der Tod wird gleichwohl seine Ernte einfahren… doch weniger vorhersehbar als bislang.

Soviel für heute zu den Fehlern der Vergangenheit. Nächste Woche erzähle ich euch, was ich im März 2019 alles so geschafft habe.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 …der natürlich wieder nicht beschrieben wird…

2 Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um das entropische Phänomen der Energiewolken, die be­kanntlich alle anderen Energieformen verzehren und am Ende selbst Materie auflösen. Vgl. dazu besonders KONFLIKT 15 „Oki Stanwer“ (1981-1984).

3 …und der wird natürlich auch nicht beschrieben…

4 …der natürlich auch mal wieder nicht beschrieben wird…

5 Hier müsste man natürlich mindestens Kaljeoors Namen nennen und ein wenig zu seiner Person sagen. Aber ich vergesse beides. Der Name wird erst etwas später nachgereicht, aber das ist selbstverständlich un­genügend. Und nein, ich kann mich nicht mit der Erklärung aus der Verantwortung stehlen: „Die sind sowie­so gleich tot und spielen keine Rolle mehr…“ So etwas ist ein schriftstellerisches No-Go, das damals bei mir aber permanent in Gebrauch war. Totale, schematische Unterbelichtung der Personen als Individuen. Muss grundlegend überall geändert werden, selbstverständlich auch bei unseren beiden Todeskandidaten hier.

6 …und auch hier fehlt wieder jedwede Beschreibung der einzelnen Personen… seufz…

7 …der wird natürlich auch nicht beschrieben…

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