Liebe Freunde des OSM,

und wieder sind ein paar Wochen ins Land gestrichen … okay, ein paar Monate, eingestanden. Das gilt zumindest für euch, nicht für mich – denn ebenso wie den vorherigen Teil (Blogarti­kel 607!) dieser Artikelreihe schreibe ich diesen Beitrag am glei­chen 1. März 2025. Das hat damit zu tun, dass die Gedanken zurzeit wunderbar fließen und ich diesen Moment entsprechend zu nutzen gedenke.

Während ich im letzten Beitrag der Reihe doch eher politisch-skeptisch unterwegs war, möchte ich heute einen anderen Ge­danken ventilieren. Und natürlich hat er mit dem Autoren-Nach­lassarchiv-Projekt zu tun, selbstverständlich.

Schon vor vielen Monaten begegnete mir im Gespräch mit ei­nem Autor ein Standpunkt, der mich etwas konsternierte und der mich zum Nachdenken brachte. Und je länger ich darüber sinnierte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass es sich um ein kurzsichtiges Statement handelt, das verschiedene Ursa­chen haben kann und das gründliches Durchdenken angebracht erscheinen lässt.

Es ist doch so: Wir begegnen ständig antagonistischen Weltsich­ten, wenn wir Gespräche mit anderen Menschen führen. Uns mag ihre politische Einstellung vielleicht nicht gefallen, mögli­cherweise ist unsere Haltung zu allgemeinen Themen nicht kon­gruent, vielleicht ecken sie oder wir damit im Gespräch an. So etwas kommt vor. Widersprüche muss man aushalten können, mit Kritik sollte man als erwachsener Mensch umgehen können, als gestandener Demokrat sowieso.

Von Denkverboten halte ich in dieser Hinsicht wenig. Das führt in der Regel zu engstirnigem, dogmatischem Denken, verstei­nert die Weltsicht und hat üblicherweise eine unangemessene Polarisierung im Gefolge. Nicht selten führt das auch politisch zu falschen Wahlentscheidungen, wie wir beispielsweise in der US-Wahl oder unserer vorgezogenen Bundestagswahl erkennen können. Doch nein, darauf möchte ich aktuell nicht herumrei­ten. Bis dieser Blogartikel im Sommer 2025 erscheint, sieht die Welt vielleicht schon wieder ein wenig heller aus … auch wenn, zugegeben, derzeit wenig dafür spricht.

Ich sollte beim Thema bleiben. Was war das für ein Standpunkt, von dem ich sprach? Nun, ich versuchte im Jahr 2024 verschie­dentlich, Autoren für die Idee eines Autoren-Nachlassarchivs zu begeistern. Eine Antwort hat mich dabei ziemlich vom Kurs ab­gebracht. Der gefragte Autor meinte sinngemäß: „Alles, was ich schreibe, wird auch veröffentlicht. Was ich nicht veröffentliche, kann nach meinem Tod ruhig vernichtet werden. Kümmert mich nicht weiter.“

Ich denke, ihr versteht, dass ich da erst mal schlucken musste.

Das Statement an sich ist eindeutig und nicht irgendwie unklar. Ich hielt es dennoch für falsch. Aber es dauerte lange Monate, bis ich mir darüber klar wurde, wo hier vermutlich das eigentli­che Problem liegt. Es ist vielschichtig, und ich gebe vorab schon zu, dass das, was folgt, lediglich meine eigene Mutmaßung ist und vielleicht nicht wirklich den Kern trifft. Aber das sind so die Gedanken, die mir dazu durch den Kopf gingen:

Der erste Punkt ist der der individuellen Wertschätzung des Schöpfungswerkes des jeweiligen Autors.

Der zweite Punkt ist die Frage der allgemeinen Wertigkeit jen­seits des individuellen Horizonts.

Der dritte Punkt betrifft dann die Frage, ob solch eine Position zu verallgemeinern ist und ob nicht vielmehr der Literaturbe­trieb durchaus antagonistisch dazu unterwegs ist.

Schauen wir uns die Punkte mal der Reihenfolge nach an:

Erstens – generell haben kreative Geister eine abweichende Einstellung zur Qualität ihres Werkes. Ich kenne das von einer befreundeten Künstlerin, deren Werk ich wirklich bemerkens­wert finde … sie selbst stuft es indes als „Gebrauchsgrafik“ ein und wertet es ab. Damit demontiert sie meiner Ansicht nach auch ihr eigenes Selbstwertgefühl. Meiner Ansicht nach völlig zu Unrecht.

Auch bei dem Autor, der dieses Statement von sich gab, könnte man so argumentieren: sein Selbstwertgefühl, was das Ge­schriebene angeht, mag bezüglich fertig gestellter und veröf­fentlichter Werke solide ausgeprägt sein, aber hinsichtlich der nicht vollendeten Texte ist es offenkundig unterentwickelt. Da­mit einher geht offenbar ein Verdikt, alles, was nicht zur Publi­kationsreife entwickelt werden konnte (aus welchem Grund auch immer) in Bausch und Bogen zu verwerfen und für wertlos zu halten.

Ihr kennt mich: Das ist nicht mein Standpunkt.

Zweitens – Auch hier beziehe ich mich, partiell zumindest, auf die grafische Kunst, aber ebenso auf die schriftstellerische Schiene. Ich habe es oft selbst erlebt, dass etwa Brieffreunde, die selbst nicht schreiben konnten, fasziniert waren von dem, was ich schrieb und veröffentlichte. Ebenso erging es mir oft in Lesungen.

Damit wurde deutlich, dass Leser bzw. Gäste von Lesungen ge­genüber den Verfassern/Künstlern gewissermaßen mit verschie­denen Qualitätsmaßstäben operieren. Das kann mich inzwi­schen nicht mehr überraschen. Was für die Künstler selbst viel­leicht nur zu 70 oder 80 Prozent oder weniger „gelungen“ er­scheint, wird vom Publikum, das nicht über die Basisqualifikati­on verfügt, solches zu erschaffen, grundsätzlich sehr viel höher veranschlagt.

Ich denke, hiermit ist offensichtlich, dass der individuelle Künst­ler-Tunnelblick, wie ich ihn mal nennen möchte, wenig geeignet ist, die Wertigkeit der eigenen nicht beendeten Werke zu beur­teilen. Im Zweifelsfall steht dem Künstler sein hoher Perfektions­anspruch im Weg, weswegen womöglich im Fall der Fälle schlussendlich von seiner Seite mehr an Restwerken vernichtet wird, als es tatsächlich sinnvoll ist.

Schauen wir hierzu nur mal zu Künstlern wie van Gogh oder Franz Kafka … wäre tatsächlich alles, was sie nicht zeitlebens veröffentlicht haben, vernichtet worden (wie es bei Kafka expli­zit gefordert wurde!), wäre viel wichtiges Kulturgut verloren ge­gangen.

Solchen kurzschlüssigen Gedanken kann ich mich deshalb nicht anschließen.

Drittens – auch ganz allgemein und bezogen auf den Literatur­betrieb scheint mir ein solches Diktum wenigstens problema­tisch zu sein. Wir brauchen uns hierzu nur anzuschauen, wie viele Werke nach dem Ableben von Autoren noch das Licht der Welt erblicken. Dazu brauche ich gar nicht viele Namen zu nen­nen, ein paar exemplarische mögen völlig hinreichen: Umberto Eco etwa liegt schon lange unter der Erde, Stephen Hawking, J. R. R. Tolkien, Robert Ludlum und Clive Cussler ebenso. Dennoch sind ihre Namen bei Buchveröffentlichungen nach wie vor pro­minent.

Gewiss ist es in vielen dieser Fälle so, dass prominente Namen einfach auf Bücher gedruckt werden, die allenfalls noch ein paar Gedanken oder namhafte Protagonisten des Verstorbenen mit neuen Abenteuern fortführen. Kein Zweifel, so verhält es sich fraglos. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass viele Werke aus nachgelassenen Fragmenten zu Ende entwickelt werden.

Bezogen auf meine eigenen Werke würde ich sagen, dass das meiste von dem, was ich bislang geschrieben habe, noch nicht veröffentlicht worden ist, das bezieht sich besonders auf die großen Weltentwürfe des Oki Stanwer Mythos, des Archipels, der Horrorwelt oder des Erotic Empire.

Werden diese Werke je zu meinen Lebzeiten veröffentlicht wer­den? Das kann ich nicht beurteilen. Aber sollen diese Gedanken nach meinem Ableben eine kurze Restexistenz in einem Papier­container und dann auf einer Mülldeponie fristen? Das ist zu­mindest für mich eine ziemliche Horrorvorstellung, und ich kann mir gut denken, dass das manch anderem Literaten, der diese Zeilen hier liest, sehr ähnlich gehen wird.

Deshalb ist mein Gegenstatement zu dem obigen, das mich so konsternierte, völlig klar: Ich mag ja vielleicht unangemessen stark an meinen Skripten hängen, selbst an denen, die noch nicht zur Publikationsreife geschliffen wurden. Aber meiner Mei­nung nach – wohlverstanden, das ist meine individuelle, nicht zwingend zu verallgemeinernde Ansicht – lohnen es die in die­sen unveröffentlichten Werken steckenden Gedanken durchaus, sie für die spätere Zeit zu bewahren und in einem Autoren-Nachlassarchiv zu überliefern.

Denn denken wir einfach mal ein wenig mehr an die Zukunft. Das mag ein unpopulärer Gedanke sein in der Gegenwart, wo so viele Leute in die vermeintlich „gute alte Zeit“ zurückfallen wol­len und politische Zensur und kultureller Backlash zunehmen … aber lasst euch darauf einfach einmal ein. Nehmen wir Abstand von der Eintagsfliegen-Aufmerksamkeitswelt der sozialen Medi­en und betrachten das, was ich als „long range“ bezeichnen möchte.

Wir entscheiden heute und hier, was wir für die Zukunft überlie­fern wollen. Und wie die Menschen von Morgen über unsere Ge­genwart urteilen, die kurzsichtigen, bisweilen stumpfsinnig-ängstlichen Entscheidungen, die wir fällen. Da kluge Gedanken in einem Nachlassarchiv für die Zukunft aufzubewahren, wenn die brodelnde Politik sich wieder etwas abgekühlt hat, scheint mir ein sehr kluger Gedanke zu sein.

Es wäre vielleicht unklug, jetzt solche Geschichten wie die aus meinem Archipel oder dem Erotic Empire zum aktuellen Zeit­punkt zu veröffentlichen, weil sie nicht so recht dem moralin­sauren Mainstream der Gegenwart entsprechen … aber sie dann komplett zu vernichten, ohne ihnen beizeiten die Gelegen­heit zu geben, ihre Wirkung zu entfalten, halte ich für grundver­kehrt.

Es gibt Zeiten für bestimmte Formen von Literatur, die nicht sel­ten auch mit politisch-sozialen Konjunkturen einhergehen. Und vieles hiervon ist in Zeiten wie den jetzigen eher als antizyklisch zu verstehen … aber das bedeutet nicht, dass diese Ideen ab­sterben sollen, nur weil der Autor nicht mehr am Leben ist.

Vielmehr ist ein wesentlicher Gedanke für ein Autoren-Nach­lassarchiv, genau solche Krisenfälle der Zeitläufte durch Erhalt abzupuffern. Mag es sein, dass ein Autor stirbt, ohne einen wichtigen Roman veröffentlicht zu haben. Oder mag er ein Ma­nuskript fertig gestellt haben, das nicht recht zur gegenwärti­gen Verlagspolitik passt und das deshalb in seinem Nachlass überliefert wird. Selbiges gilt möglicherweise für seine/ihre Ta­gebücher, Korrespondenz, Ideenkladden usw.

Diese Dinge fordern die Schaffung eines Autoren-Nachlassar­chivs, um diesen Kulturgutverlust – mag er von der Seite des Schöpfers der Werke selbst ausgehen, mag er von Verwandten oder ignoranten Vermietern ausgehen, die darin nur nutzloses Papier sehen – zu verhindern.

Nein, ich denke, das Statement des Autors oben, das ich sinnge­mäß eingangs wiedergab, entspricht durchaus nicht den Prinzi­pien, die ich selbst einzuhalten gedenke oder die dem Autoren-Nachlassarchiv-Projekt eigen sein werden. Mag sein, dass mein Denkhorizont utopisch und träumerisch-idealistisch ist. Von mir aus.

Die Träume sind frei, und sie sind der Möglichkeitsraum, in dem sich auch das Autoren-Nachlassarchiv-Projekt zurzeit noch be­findet. Ich werde mein Möglichstes tun, beides miteinander in Deckung zu bringen. Und ich hoffe, ihr steht mir dabei zur Seite, Freunde!

Soviel für heute zu diesem Thema. In der kommenden Woche reisen wir zurück ins Jahr 2023.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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