Rezensions-Blog 105: Anti-Eis

Posted März 29th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

als mir meine liebe Brieffreundin Babette diesen vorliegenden Roman zum 31. Geburtstag schenkte, also vor rund 20 Jahren – man glaubt es eigentlich kaum, wie die Zeit dahinrast – , da hatte ich von Stephen Baxter wirklich noch keine sehr große Ahnung. Erst recht nicht davon, wie unglaublich produktiv er noch sein würde und was für ein Regal an Werken er bis heute mit erstaunlicher Energie vorlegen würde.

Irgendwie spielte das auch überhaupt keine Rolle, weil der Roman einen emp­findlichen Nerv bei mir getroffen hatte, der schon seit Jahrzehnten aktiv und sensitiv war: die Lust am Fabulieren in kontrafaktischen Welten und den paral­lelen Wirklichkeiten des „Was wäre, wenn…“ Es ist wohl keine Überraschung, wenn ich sage, dass diese Faszination bis heute ungebrochen anhält.

Selbst wenn ich heutzutage gegenüber Baxter ein wenig kühler reagiere, ist doch das ausgesprochen positive Fazit des unten stehenden Romans immer noch aktuell. Und ich bin überzeugt davon, dass Phantasten, die sich heute nach wie vor an den Werken des großen Franzosen Jules Verne begeistern, in diesem Buch sehr auf ihre Kosten kommen werden.

Machen wir uns also auf in eine Welt, in der – ganz im Gegensatz zum „Brexit“ der heutigen Zeit und der „kleinen“ Empire-Lösung des 21. Jahrhunderts Groß­britannien eine globale Großmacht wird, ausgelöst durch den Fund einer rätsel­haften außerirdischen Substanz namens Anti-Eis…

Anti-Eis

(OT: Anti-Ice)

von Stephen Baxter

Heyne-TB 4891

12.90 DM, August 1997

Aus dem Englischen von Martin Gilbert

320 Seiten

Was ist das doch für eine schöne neue Welt, in der man bequem mit den Ein­schienenbahnen zügig die Britischen Inseln bereisen kann und auch mit komfor­tablem Luxus die Hauptstadt Manchester zu erreichen imstande ist. Es gibt so­gar die Pontonbrücken, mit denen die Schwebebahnen nach Frankreich hin­überreisen können. Die britische Hegemonie beherrscht weitgehend die Welt und kann sich zurücklehnen, wenn andere Mächte auf dem Kontinent sich zan­ken, wo noch „Mittelalter“ zu herrschen scheint, beispielsweise im Heiligen Rö­mischen Reich Deutscher Nation, das de facto seit 1806 nicht mehr besteht, wo aber immer noch alles in eine Vielzahl von kleinen Staaten zersplittert ist.

Jedenfalls meinen die Engländer, sich zurücklehnen zu können, um die neuen technischen Wunder zu genießen. Bis sie leider selbst in einen Konflikt hinein­gezogen werden, der auf der Schwarzmeerhalbinsel Krim tobt…

Eine Fiktion der nahen Zukunft? Mitnichten. Man schreibt das Jahr 1855, und das britische Empire ist durch den Fund einer außerirdischen Substanz nahe dem Südpol, die man Anti-Eis nennt und eine unglaubliche Energiequelle ist, zur weltbeherrschenden Supermacht aufgestiegen. Der geniale Wissenschaftler Josiah Traveller, verantwortlich für eine Vielzahl von Anti-Eis-Erfindungen, ist es auch, der den Gedanken hat, die erfolglose Belagerung von Sewastopol relativ unblutig zu beenden, indem er sich eine spezifische Eigenschaft von Anti-Eis zu­nutze macht: Die Substanz ist nahe dem absoluten Nullpunkt supraleitend und wird ständig von magnetischen, hochfrequenten Feldern durchströmt. Sobald man diese Substanz geringfügig erhitzt, brechen die Felder unter unvorstellba­rer Energieentfaltung zusammen. Leider verschätzt sich Traveller, und die An­ti-Eis-Granate ebnet Sewastopol mit einer nuklearen Explosion ein, was ihn zeitle­bens traumatisiert.

Von da an versucht er, diese Kräfte nur noch friedlichen Nutzungen zuzuführen. Im Jahre 1870 wird der junge Diplomat Ned Vicars, der Fürst Bismarcks Delega­tion in London die Errungenschaften britischer Technik zeigen soll, zufällig in diese Verwicklungen verstrickt. Die Vorstellung des neuesten Wunderwerks, des Landkreuzers PRINCE ALBERT, in Belgien gerät zum Fiasko, weil französische Freiheitskämpfer, die Franktireurs, einen Sabotageakt verüben. Ned Vicars und sein Begleiter Holden kommen nur deswegen mit dem Leben davon, weil sie zufällig auf dem Landkreuzer den genialen Traveller getroffen haben, der ihnen die allerneueste Errungenschaft vorstellt: ein projektilförmiges Gebilde, das er Phaeton nennt: ein Luftschiff. Während er ihnen diesen Prototyp noch zeigt, werden sie jedoch von einem Franktireur entführt und finden sich unversehens in prekärer Lage wieder – im Orbit um die Erde, mit zur Neige gehenden Treibstoffreserven und keiner Möglichkeit, ins Cockpit vorzudringen.

Derweil eskaliert auf der Erde, ausgelöst von der Emser Depesche, der Krieg zwischen Frankreich und Preußen, und er nimmt sehr bald dramatische Formen an. Schlimmer jedoch ist der Existenzkampf im All, weil sich das einzige ansteu­erbare Ziel sehr rasch als menschenfeindlich entpuppt – der Mond…

Stephen Baxter, der neue Shooting-Star der SF in England, hat mit diesem Paral­lelweltenroman ein kenntnisreiches, sehr faszinierendes Buch verfasst, das für mich als Student der Geschichte besonderen Reiz entfaltet, weil viele seiner Prämissen, die er ausdefiniert, zu alternativen Szenarien führen, die von einer bestechenden Plausibilität sind. Es gibt hier und da einige logische Schwächen, zugestanden, im ganzen aber ist es ein beklemmendes Panorama einer Welt, wie sie vielleicht hätte sein können, wenn es diese Substanz oder Traveller bzw. beide je gegeben hätte. Das größte Vergnügen ging für mich weniger von der „Actionhandlung“ aus als vielmehr von dem historischen Umfeld und den liebe­vollen Details. Für Parallelwelt-Fans durchaus ein Gewinn.

Uwe Lammers

© 1997/2005 by Uwe Lammers

Im Vergleich zu den anderen Werken, die ich von Stephen Baxter kenne, mag man dieses Buch hier für eine Art schöne historisch untermauerte Fingerübung halten, das gilt auch für den Umfang. Aber das positive Leseerlebnis reichte un­bedingt aus, um mich neugierig auf weitere Werke seines Verfassers zu ma­chen. Dafür ist „Anti-Eis“ jederzeit geeignet, würde ich sagen.

In der kommenden Woche kümmere ich mich um ein Buch, das ich wirklich in jüngster Vergangenheit gelesen habe und das mich in vielerlei Weise zu überra­schen wusste, weil ich zuvor eigentlich der Auffassung war, die im Zentrum ste­hende Person schon vergleichsweise gut – aus autobiografischer Sicht – zu ken­nen. Der Persönlichkeitsfilter war dort allerdings extrem wirksam, und das hatte im Falle von Patricia Highsmith gute Gründe. Deshalb kommt in der nächsten Woche hier jemand zu Wort, der sich schwer in sie und ihre Eigenheiten verlieb­te.

Seid neugierig, Freunde, das ist eine faszinierende Achterbahnfahrt der Gefüh­le, die euch in sieben Tagen erwartet.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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