Rezensions-Blog 109: Die Werwölfin

Posted April 25th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

was ich euch heute unter dem unscheinbaren obigen Titel wärmstens als Lese­empfehlung ans Herz lege, ist vermutlich ein Buch, das nahezu vollständig aus der allgemeinen Wahrnehmung entschwunden ist – wie ihr merken werdet, fin­de ich, dass das sehr ungerecht ist. Die amüsanten, beunruhigenden und haar­sträubenden Erzählungen des unten dargestellten Kurzgeschichtenbandes sind es wirklich wert, erinnert und wieder gelesen zu werden.

Wie ich auch zugebe, ist das Buch zwar in der alten Terra Fantasy-Reihe von Pa­bel erschienen, hat aber im strengen Sinne nicht wirklich mit Fantasy zu tun. Schwertschwingende Barbaren und archaischer Prunk ist hier nicht beheimatet, es gibt keine Questen zu schlagen, wohl aber wird man mit dem Ungeheuerli­chen und Vorzeitlichen konfrontiert… wobei jedoch der Humor definitiv nicht zu kurz kommt.

Schaut euch das am besten genauer an:

Die Werwölfin

Terra Fantasy Band 69

Herausgegeben von Terry Carr

Pabel Verlag, Januar 1980

160 Seiten, TB

Deutsch von Lore Straßl

Manchmal stößt man auf wahre Kleinode im Bücherregal und fragt sich nach­her, weshalb um alles in der Welt man sie nicht früher gelesen hat. So ging es mir mit diesem Band auch.

Sicher, mein Erklärungsversuch hatte Hand und Fuß: „Ich lese nicht viel Fantasy, und selbst wenn ich die TERRA FANTASY-Reihe einstmals komplett haben woll­te, so hieß das doch nicht, dass ich sie sofort vollständig lesen würde. DARUM stand dieses Buch da noch.“ Aber ein wenig schade war es dennoch.

Die Storysammlung, die Terry Carr als „New Worlds of Fantasy No. 3“ herausge­geben hat und die Lore Straßl ins Deutsche übersetzt hat, enthält 6 Geschich­ten:

Die Werwölfin, die Titelstory von Peter S. Beagle (bekannt von „The Last Uni­corn“) entführt uns nach New York und macht den Leser mit Farrell bekannt, ei­nem recht jungen Mann, dem gewissermaßen eine Werwölfin zuläuft. Sie heißt Lilo und ist eigentlich nur mäßig hübsch, aber offenkundig gut im Bett. Und Far­rell „hatte die erstaunliche Fähigkeit, die Dinge zu akzeptieren, wie sie waren“, anderenfalls hätte sich wohl schon zu Beginn das Drama ereignet. So kommt es erst später dazu, als Lilo nämlich vergisst, ihre Tabletten zu nehmen und Farrell sie durchs nächtliche New York verfolgen muss… Aber warum und was das für abstruse Züge annimmt, das sollte der sehr amüsierte Leser besser selbst erle­ben. Das ist so köstlich, dass man es kaum beschreiben kann.

Der ausgezeichnete Kurzgeschichtenschreiber R. A. Lafferty steuert mit Adam hatte drei Brüder eine bizarre Abwandlung der biblischen Geschichte bei, macht uns mit den „Wracks“ bekannt, einem eigenwilligen Menschenschlag, den wir unter zwielichtiges Gesindel einsortieren würden. Bei den „Wracks“ freilich ge­nießen die besten Halsabschneider und Betrüger einen legendären Ruf. Fragt sich nur, ob jeder, der betrügen kann, auch wirklich einer ist…

Langzahn von Edgar Pangborn macht fast ein Drittel des ganzen Buches aus, dennoch kann man die Story in einem Rutsch durchlesen, so packend ist sie ge­schrieben. Man nehme einen Mittfünfziger als Protagonisten, dessen etwa gleichaltrigen einstigen Schulkameraden und seine dreißig Jahre jüngere Frau, die auf einem abgeschiedenen Bauernhof an der Grenze zu Kanada leben. Es ist Winter, der Wagen des Protagonisten Ben Dane bleibt liegen, und er kann sich mit Mühe und Not durch den beginnenden Blizzard zum Hof seines Freundes durchkämpfen.

Hier macht er seltsame Entdeckungen: die junge Frau Leda hat Angst. Der alte Harp spielt ständig mit seinen Waffen. Der Hühnerstall ist bis oben hin (4 Me­ter Höhe!) mit starken Brettern verschalt. Die Haustür weist innen schwere Rie­gel auf, die der stärkste Sturm nicht aufbrechen könnte. Und dann erzählt Harp von dem rätselhaften Wesen, das stets bei Sturm aus dem Wald kommt und seine Tiere reißt.

Auch bei diesem Sturm kommt es wieder. Nur hat es diesmal eine besondere Beute vor Augen…

Lovecraft hätte sich über eine solche Story wirklich gefreut. Auch beim zweiten Lesen – ich hatte sie schon einmal in der alten Goldmann-Sammlung „Gute Nachbarn und andere Unbekannte“ gelesen – ist der Gruseleffekt noch vorhan­den.

Als Fritz Leiber Der Innere Kreis schrieb, war er offenbar auf dem Trip. So we­nigstens kam es mir vor. Familie Adler, angeführt von Gottfried Adler, kurz GOTT genannt, macht es sich nach dem Essen im Wohnzimmer gemütlich. Der kleine Junge spielt Raumfahrer und klinkt sich völlig aus der Wirklichkeit aus, die Mut­ter malt naturalistische Bilder, derweil GOTT fantasiert, auf dem leeren Sofa tauchten nacheinander verschiedenartigste Wesen auf, unter anderem eines, das ihn als Mitglied des weltbeherrschenden Inneren Kreises werben will…

Strange stuff.

Ausgerechnet in einem Schachmagazin (!) hat Terry Carr Victor Contoskis Ge­schichte Von Gooms Gambit ausgegraben. Auch wer sich mit Schach nicht aus­kennen sollte – wie ich – wird von der Story gefesselt sein, nehme ich an.

Gleich ganz zu Beginn erklärt Contoski entwaffnend: „Sie werden von Gooms Gambit in keinem der Bücher und Anleitungen über Schacheröffnungen finden.“ Das hat seine guten Gründe. Nicht mal von Goom ist sein wahrer Name, son­dern nur ein Pseudonym. Die Geschichte fängt eigentlich am 5. April 1997 an, als von Goom, der Mann ohne Vornamen, seine Liebe fürs Schachspielen ent­deckt. Eine erfolglose Liebe, wie es scheint, denn jahrelang verliert er wirklich gegen jeden Spieler. Auf allen Tournieren, die er besucht. Schließlich macht man sich bereits lustig über ihn und sieht in dem steinreichen, schrulligen von Goom einen irren Sonderling. Dann aber entwickelt er in endlosen, durchwach­ten und durchgespielten Nächten am Schachbrett eine tödliche Eröffnung für das Schachspiel: von Gooms Gambit. Und das Unheil bricht über die Mensch­heit herein…

Wie das geschieht und was für Effekte dieses Gambit bei seinen Gegenspielern zeitigt, das muss man gelesen haben. Es ist wirklich fast unbeschreiblich.

Den Schluss dieser Sammlung markiert Zenna Henderson mit ihrer kurzweiligen Geschichte Aus den Augenwinkeln, in der eine einfache, ältliche Hausfrau plötz­lich an sich eine erschreckende Gabe entdeckt, die sie zunächst auf ihre Bril­lengläser und dann auf ihren Geisteszustand zurückführt: wenn sie seitlich an den Gläsern vorbeischielt, aus den Augenwinkeln blickt, kann sie neben der normalen Umgebung noch eine andere sehen. Beispielsweise einen Kolonialwa­renladen, der vor Jahrzehnten abgerissen wurde. Oder Menschen, die schon lange tot sind. Und mit der Zeit beginnt sie sogar andere Eindrücke wahrzuneh­men: die Sonne der damaligen Zeit, Gerüche, Geräusche, Gespräche. Und sie scheint immer weiter in diese verschiedenen Zeiten zurückzugleiten, wobei sie irgendwie auf ein Mädchen namens Gayla geeicht zu sein scheint…

Wie schon gesagt, dieser Band enthält eine Reihe von Geschichten, die es rät­selhaft erscheinen lassen, warum ich ihn nicht viel früher las. Besonders ange­tan war ich von Victor Contoski, Peter S. Beagle und Pangborns Story. Mit „Fan­tasy“ hat die Sammlung indes im klassischen Sinne nicht allzu viel zu tun, eher mit allgemeiner Phantastik aus dem Grenzbereich zur Weird Fiction, wobei aber auch der schelmische Humor nicht zu kurz kommt. Es lohnt sich sehr, den Band antiquarisch wiederzuentdecken.

© 2002 by Uwe Lammers

Soweit zu meiner Leseempfehlung, die ich bereits vor fünfzehn Jahren aus­sprach, zu der ich aber nach wie vor stehe. Sonst hätte ich diese Rezension nicht für den Rezensions-Blog ausgewählt. Und ja, zugegeben, als ich diese Rezi vor­hin neu las, da überlegte ich schon, ob ich sie nicht wieder herauskramen sollte, um die eine oder andere Geschichte noch einmal zu lesen.

Eine gute Einstellung, wie ich finde. Vielleicht macht ihr sie euch zu eigen, wenn ihr das Buch mal gelesen und noch im Regal stehen haben solltet. Falls dies nicht der Fall ist, solltet ihr es auf eure antiquarische Suchliste setzen.

Im Rezensions-Blog der kommenden Woche wechseln wir einmal mehr das Genre und pirschen uns in die nebligen Gefilde des Englands des 19. Jahrhun­derts. Und dann ist da der Mann mit der legendären Deerstalker-Mütze und der Pfeife… ich brauche vermutlich gar nicht mehr zu sagen für die Eingeweihten.

Ja, es ist wieder Sherlock Holmes-Zeit in meinem Blog. Nächste Woche an die­ser Stelle.

Nicht verpassen!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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