Rezensions-Blog 123: Akte Atlantis

Posted August 2nd, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ihr wisst, ich mag Clive Cussler und seine Bücher. Die meisten von ihnen sind auch wirklich äußerst lesenswert. Zum Nachteil für den Autor bin ich aber auch studierter Historiker mit einem soliden Abschluss in Neuerer Geschichte. Und ein bisschen Allgemeinwissen besitze ich ebenfalls… für die Lektüre des vorlie­genden Bandes war das reines Gift, wie ihr sehen werdet. Vor einigen Jahren, als ich ihn in die Finger bekam und wie gewohnt zu verschlingen begann, hätte ich mir jedenfalls fast eine Magenverstimmung eingehandelt.

Klingt nicht nach einer netten Rezension? Na ja, das kann man sehen, wie man will. Ihr kennt mich inzwischen gut genug, hoffe ich, um zu verstehen, dass ich jemand bin, der sehr ungern etwas Negatives über Bücher schreibt. Und dass ich eine Engelsgeduld besitze, ist ebenfalls bekannt. Beides hat nicht gereicht.

Hier kommt der Grund dafür. Urteilt selbst und lest weiter:

Akte Atlantis

(OT: Atlantis Found)

von Clive Cussler

Blanvalet 35896

576 Seiten, TB, 9.90 Euro

Übersetzt von Oswald Olms

Dieses Buch gehört in die Kategorie der Thriller, und normalerweise könnte man sagen: nichts für Historiker. In diesem Fall wäre das allerdings weit gefehlt, auch wenn der legendäre Name „Atlantis“ im Titel hier – leider – gänzlich falsche Erwartungen weckt. Und das kommt so…

Am 30. September 1858 ist der Walfänger Paloverde im Eis der Antarktis gefan­gen und kommt nicht frei. Die Besatzung macht während ihres Zwangsaufent­haltes die Bekanntschaft mit einem anderen Wrack, das hier eingefroren ist – ein alter Ostindienfahrer namens Madras, der bereits Jahrzehnte zuvor gefan­gen wurde und seither in der ewigen Umklammerung des Eises steckt. An Bord dieses Schiffes finden die Walfänger sehr zu ihrem fassungslosen Staunen einen ganzen Laderaum voll fremdartiger, uralter Skulpturen, darunter auch einen schwarzen Menschenschädel, der vollkommen aus Obsidian gearbeitet wurde und von der Frau des Kapitäns der Paloverde gerettet werden kann, bevor das Eis birst und die beiden Schiffe voneinander getrennt werden. Die Madras ver­schwindet spurlos im Eis.

Am 22. März 2001 entdeckt ein Hobby-Geologe, der in einer verlassenen Mine Colorados schürft, unerwartet eine unglaublich sorgfältig behauene Felskam­mer, die über und über mit rätselhaften Glyphen und Bildern bedeckt ist. Auf einem Vorsprung liegt ein schwarzer Obsidianschädel. Als er Experten zu Rate zieht, namentlich die Linguistin Patricia O’Connell, verschließt auf einmal eine Explosion den Stollen, und sie sind in der Tiefe gefangen. Schlimmer noch: das Grundwasser steigt rapide und wird sie ertränken.

Es ist allein einer zufällig in der Gegend weilenden Expeditionsgruppe der Na­tional Underwater and Marine Agency (NUMA), die unterirdische Wasserläufe untersuchen soll, zu verdanken, dass Pat und ihre beiden Kollegen nicht ertrin­ken. Ein athletischer Mann namens Dirk Pitt rettet die drei in einen trockenen Stollen. Damit ist die Gefahr allerdings nicht gebannt – motorisierte Killer de­monstrieren nachdrücklich, dass die Sprengung des Stollens keineswegs ein Zu­fall war und sie alles daran setzen, das Geheimnis der „Amenes-Kammer“ zu wahren. Jeder, der die Kammer gesehen hat, soll sterben. Wieder ist es Dirk Pitt, Cusslers mariner James Bond, der die Bedrängten rettet.

Dabei erfahren die Bedrängten, dass die Killer von einer Organisation auf sie an­gesetzt worden sind, die das „Vierte Reich“ erwarten, und wer jetzt hier unbe­hagliche Assoziationen mit dem „Dritten Reich“ spürt, liegt vollkommen richtig.

Die Spuren dieser kriminellen Gruppe führen über eine gottverlassene Insel im Südpazifik, wo sich eine weitere „Amenes-Kammer“ findet, bis nach Argentini­en. Dort, wohin sich in den Endtagen des Zweiten Weltkrieges hohe Nationalso­zialisten via U-Boot geflüchtet haben, hat sich der milliardenschwere Konzern „Destiny Enterprises“ des herrischen Karl Wolf etabliert, der über einen großen Clan gebietet. Und diese Familie, die sich verdächtig aus dem Rampenlicht her­aushält, ist äußerst gespenstisch: nicht nur, dass in der Antarktis ein deutsches Nazi-U-Boot versenkt wird und Dirk Pitt die tote Kommandantin – eine Angehö­rige des Wolf-Clans, wie sich rasch herausstellt – bergen kann, nein, die Ge­schwister gleichen einander auch noch auf derart frappierende Weise, dass man an Klone denken kann. Eiskalte, unnahbare Schönheiten, wie aus den Sport-Propagandafilmen des nationalsozialistischen Regimes entstiegen…

Während die Entzifferung der rätselhaften Amenes-Zeichen (inzwischen weiß man, dass „Amenes“ der Name des untergegangenen Volkes ist, das vor rund 9000 Jahren verschwunden sein muss) voranschreitet, muss sich Dirk Pitt mit seinen Gefährten immer mehr mit den Wolfs herumschlagen. Und mit einer Prophezeiung, die er einfach nicht glauben kann: angeblich ist vor rund 9000 Jahren ein Komet in die Hudson Bay eingeschlagen und hat die Amenes-Kultur zerstört. Und die Amenes haben prophezeit – in etwa 9000 Jahren, also im Jah­re 2001, wird der Zwillingskomet des damaligen Todesboten erneut vorbeikom­men und die Menschheit auslöschen. Und die Wolfs, die inzwischen eine mo­derne Arche Noah geschaffen haben, sind felsenfest davon überzeugt, dass es sich genau so verhält. Aus der Asche einer sterbenden Welt soll das Vierte Reich auferstehen. Dabei kann man den Tod von sieben Milliarden Menschen schon mal in Kauf nehmen.

Für Dirk Pitt und seine Mitstreiter hat ein Wettlauf mit dem Tod begonnen…

Es könnte ein faszinierender Roman sein, in dem das Atlantis-Rätsel mit der kei­menden Gefahr einer neuen nationalsozialistischen Bedrohung und auch den Wundern der Gentechnik und Nanotechnologie gemischt wird. Ja, es könnte. Wenn Cussler es in diesem Roman nicht in jeder nur erdenklichen Weise über­treiben würde und seine Idee der Lächerlichkeit preisgäbe.

Cusslers Held Dirk Pitt ist nicht eben erst seit gestern aktiv. Seine Abenteuer in wenigstens fünfzehn Romanen reichen bis in die 70er Jahre zurück, und er hat schon so einiges Relevantes (und Unmögliches) erreicht. Er hat beispielsweise die TITANIC gehoben1, den gläsernen Sarg von Alexander dem Großen ent­deckt2, das Rätsel um den verschollenen Frachter Cyclop (real existent) gelöst3, verschollenen Atom-U-Booten in einem pazifischen „Bermuda-Dreieck“ nachge­spürt4, ein konföderiertes U-Boot in der Wüste wiedergefunden5 und die Reste des Peking-Menschen von neuem ans Tageslicht befördert.6 Mal ganz zu schweigen davon, dass er die verschwundenen Schätze der Inka in ihrem Ver­steck aufgespürt hat.7

Und nun ist eben Atlantis dran.

Die grundsätzliche These, und Cussler ist so dumm, das in seinem Dank am Schluss auch noch anzugeben, verdankt der Verfasser dem amerikanischen Sachbuchautor Graham Hancock, namentlich seinem Buch „Die Spur der Göt­ter“.8 Nun wäre das grundsätzlich kein Problem, wenn sich das, was er schriebe, auch nur halbwegs mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Paläon­tologie, Geologie oder Archäologie vereinbaren ließe. Aber das ist nicht der Fall. Cussler leistet sich so gravierende Schnitzer jenseits seiner sauberen Thriller­handlung, dass man als jemand, der ein wenig mehr Allgemeinwissen besitzt als der Durchschnittsleser, nur voller Entsetzen die Hände über dem Kopf zu­sammenschlagen kann.

Ein paar Beispiele:

Die Ausgangshypothese ist der im Jahre 7120 vor Christus in der Hudson Bay einschlagende Komet. Zweifellos ist die Hudson Bay durch einen meteorischen Einschlag entstanden, doch der liegt ebenso zweifellos schon Millionen von Jah­ren zurück, das ist geologisch inzwischen geklärt. Cussler nimmt diese Aufprall­wucht zum Ausgangspunkt für „bis zu 15 Kilometer hohe Wellen“. Mit dieser Maßlosigkeit – man vergleiche dazu bitte Frank Schätzings Bestseller „Der Schwarm“9 – verurteilt sich der Autor selbst zu Spott und Gelächter. Die Wogen, die Schätzing mit vernichtender Wucht beschreibt, haben rund 30 Meter Höhe. „Nur“ 10 Meter Höhe reichten aus, um im Dezember 2004 in Indonesien grauenhafte Verheerungen anzurichten und Hunderttausende Menschen zu töten. „Fünfzehn Kilometer hohe Wellen“ sind naturwissenschaftlicher Nonsens.

Als Konsequenz, so fabuliert Cussler in äußerst freier Auslegung von Hancocks selbst schon zweifelhafter Vorlage weiter, als Konsequenz dieses Einschlages „verschiebt“ sich die Antarktis einfach so „um dreitausend Kilometer nach Süden“, woraufhin, wieder frei fabuliert, „sofort die Eiszeit endet“ und gewissermaßen als Nebenprodukt die in der Antarktis beheimatete Amenes-Kultur untergeht.

Bei dieser Katastrophe werden natürlich „ganze Kontinente verschoben“, weiterhin werden „Millionen von Quadratkilometern unter einer bis zu dreihundert Meter hohen Schicht aus glutflüssiger Lava“ begraben (im Ernst, so steht es im Roman!), Mammute „werden durch den Kälteschock tiefgefroren“. Fernerhin werden so viel Staub und Asche in die Atmosphäre geblasen, „dass nahezu ein Jahr lang kein Sonnenstrahl hindurchdrang und die Temperaturen auf der in Dunkelheit gehüllten Erde unter den Gefrierpunkt sanken…“

Ignorieren wir mal einfach geflissentlich, dass bei solchen Verhältnissen garan­tiert eine Eiszeit nicht ENDET, sondern ganz sicherlich neu beginnt und sich noch ein paar Jahrzehntausende lang halten würde.

Toll, denkt man sich sonst, schönes Endzeit-Szenario. Kleiner Planungsfehler: für diese Angaben haben Naturwissenschaftler definitiv keine Belege gefunden, je­denfalls nicht in Sedimentschichten vor rund 9000 Jahren. Also: Nonsens. Aber es wird noch schlimmer.

In einem Roman, in dem es um untergegangene Kulturen geht und viel um Physik und Paläontologie, da ist natürlich die Anwesenheit von Wissenschaft­lern unumgänglich. Und hier begeht der Autor wohl die schlimmsten Fehler: er legt einfach seinen Wissenschaftlern sein eigenes Halbwissen in den Mund, und es kommen dann Aussagen heraus wie die folgende (S. 295): „Vor neuntausend Jahren war das heutige Mittelmeer eine fruchtbare Tiefebene…“ Was natürlich falsch ist. Das Mittelmeer ist seit gut vier Millionen Jahren überflutet, das ist in­zwischen schon lange erforscht.

Der Fehler, den Cussler hier begeht, ist einfach eine geografische Verwechslung. Es gibt nämlich die Hypothese, dass der Durchbruch des Marmara-Meeres zum Schwarzen Meer etwa vor neuntausend Jahren erfolgte und dass hier die Vor­lage für die biblische Sintfluttheorie zu finden ist. Auch der renommierte Ozea­nologe Robert D. Ballard, der schon 1985 die TITANIC entdeckte, ist dieser Auf­fassung und forscht derzeit an versunkenen Schwarzmeerkulturen, wie in NA­TIONAL GEOGRAPHIC nachzulesen war. Cussler indes schmeißt das Schwarze Meer und das Mittelmeer völlig durcheinander, dramatisiert die Geschehnisse, beschleunigt sie durch einen fiktiven Kometeneinschlag und gibt sie so der Lä­cherlichkeit preis.

Schlimmer noch: Er spricht von Weichtieren, die „schlagartig versteinert sein müssen“ (S. 296), etwa Quallen (!!!) und Seesterne. Mal ganz davon abgese­hen, dass jeder Paläontologe weiß, wie unrealistisch und unmöglich „schlagarti­ges Versteinern“ ist, ist der Gedanke an versteinerte Quallen doch einigerma­ßen abenteuerlich. Es gibt zwar in chinesischen Schiefern zugegeben Abdrücke von Quallen, aber die Körper der Quallen selbst versteinern definitiv mangels Masse nicht. Wenn ein Wissenschaftler solch einen Blödsinn im Roman von sich gibt, disqualifiziert er sich selbst, und das passiert in diesem Buch ständig.

Auf Seite 418 wird über das Beben, das von dem einschlagenden Kometen ver­ursacht wurde, sehr sachverständig geschrieben, es „folgten gewaltige Erdbe­ben, die sich mit keiner Richter-Skala erfassen lassen…“ Mal ganz davon abgese­hen, dass im Prolog von einem Beben der Stärke 12 gesprochen wurde, ignorie­ren hier sowohl Autor als auch Übersetzer, dass die Richter-Skala nach oben of­fen ist und jede beliebige Stärke erfasst. Es gibt auch nicht mehrere „Richter-S­kalen“, wie hier suggeriert wird, sondern nur eine einzige.

Das sind nur so ein paar Absonderlichkeiten, die diesen Roman zu einem haar­sträubenden, kindischen Leseabenteuer machen, das man sich wohl nur noch als wahrer Clive-Cussler-Fan antun kann. Sehr bedauerlich ist natürlich auch, dass die Entzifferung der Amenes-Schrift im weiteren Verlauf des Romans völlig an Bedeutung verliert, desgleichen die Entdeckung einer im Eis der Antarktis versunkenen Amenes-Stadt, die herrlich viel Stoff zum Beschreiben hergegeben hätte. Aber stattdessen lässt Cussler lieber die Seals und Marines ein Feuerge­fecht mit den ideologisch verbohrten Wolfs und ihren schwarz uniformierten (!) Quasi-SS-Schergen führen.

Danke, dachte ich, das ist dann wirklich das Letzte. Reißerischer Titel, falsches Titelbild (mit griechischem Tempel unter Wasser!), blindwütige Action und hirn­verbrannte „Wissenschaftlichkeit“. Wieso das Ding beim Verlag auch nur zum Druck kam, ist mir völlig schleierhaft. Eignet sich höchstens als Abschreckungs­-Lektüre. Cussler hat bessere Romane geschrieben, und man sollte sich an die halten.

© 2006 by Uwe Lammers

Ach ja… da zieht der wahre Cussler-Fan mit hochrotem Gesicht den Kopf zwi­schen die Schultern, gell? Auch Profiautoren haben mal echt schlechte Tage, und das ist wirklich nicht nur im Heftromanbereich der Fall, wo man das ja als flüchtig lesender Jugendlicher durchaus erwarten kann. Manchmal gibt es auch echte Kracher wie den obigen, im negativen Sinn. Glücklicherweise sind die Ausfallbände bei Cussler nicht häufig. Beim nächsten dieser Art könnt ihr schon wieder aufatmen, versprochen!

In der kommenden Woche geht es dann zu dem bislang eher selten gestreiften Thriller-Metier (wenn wir von Cussler mal absehen), und zu jemandem, von dem ich auch noch zahllose ungelesene Romane in meinen Regalen stehen habe. Ich murmele nur mal einen Namen: Janson.

Nächste Woche mehr dazu.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. Clive Cussler: „Hebt die TITANIC!“ (Rezensions-Blog 87).

2 Vgl. Clive Cussler: „Das Alexandria-Komplott“ (Rezensions-Blog 23).

3 Vgl. Clive Cussler: „Cyclop“ (Rezensions-Blog 34).

4 Vgl. Clive Cussler: „Im Todesnebel“ (Rezensions-Blog 66).

5 Vgl. Clive Cussler: „Operation Sahara“ (Rezensions-Blog 107).

6 Vgl. Clive Cussler: „Höllenflut“ (Rezensions-Blog 119).

7 Vgl. Clive Cussler: „Inka-Gold“ (Rezensions-Blog 111).

8 Vgl. Graham Hancock: „Die Spur der Götter“, Rezension auf www.gibs.info (voraussichtlich für den Rezensions-Blog in Vorbereitung).

9 Vgl. Frank Schätzing: „Der Schwarm“, 2004 (für den Rezensions-Blog in Vorbereitung).

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>