Rezensions-Blog 136: Sherlock Holmes und die Drachenlady

Posted November 1st, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

und ja, es ist wieder einmal an der Zeit, dass wir uns um den legendären bera­tenden Detektiv aus der Baker Street in London kümmen. In dem vorliegenden Band jüngsten Datums wird von Epigonen wieder eine Reihe von „unveröffent­lichten“ Fällen des Sherlock Holmes ausgebreitet. Mir fiel dieser schöne Band in die Hände, als ich auf dem Buchmesse-Con in Dreieich bei Frankfurt anno 2016 weilte. Es war nahezu unvermeidlich, dass ich umgehend mit der Lektüre des Bandes beginnen musste… und er las sich zügig und sehr unterhaltsam.

Was genau erwartete mich bzw. erwartet den Leser, der sich von dem Titelbild, dem Titel oder eben Sherlock Holmes selbst anziehen lässt? Nun, folgendes:

Sherlock Holmes und die Drachenlady

von Klaus-Peter Walter (Hg.)

Blitz-Verlag 3007

Windeck 2014

254 Seiten, TB

ISBN 978-3-89840-387-0

Preis: 12,95 Euro

Sherlock Holmes ist Kult. Dies zu bestreiten, würde den Legionen von Produk­ten, die alljährlich zum Leben des (fiktiven) berühmtesten Detektivs der Welt erscheinen, Hohn sprechen. Zahlreich sind auch die Werke, die Sherlock Holmes in Verbindung bringen mit vielfältigen, bisweilen skurrilen literarischen anderen Erfindungsgestalten, die beispielsweise dem Kosmos eines Howard Phillips Lovecraft entstammen und den Ermittler aus der Baker Street in Tuchfühlung mit dem Übernatürlichen und Unheimlichen bringen, dem er zeitlebens abhold war – ganz im Gegensatz übrigens zu seinem ursprünglichen Erfinder, Arthur Conan Doyle, der begeisterter Anhänger des Spiritismus war und sich bis zum Lebensende davon nicht abbringen ließ.

Die vorliegende Storysammlung, in der der Herausgeber Klaus-Peter Walter acht „neue“ Fälle des Sherlock Holmes präsentiert, zwei davon aus eigener Fe­der, weicht, wie er selbst sagt, mit Bedacht von dem übernatürlichen Pfad ab und kehrt zu den „Basics“ zurück. Besonders sollten sie „ganz viel messerschar­fe Detektion“ enthalten, und das tun sie dann wirklich.

Weswegen ich das „neue“ oben in Anführungszeichen setze, erklärt sich ein we­nig aus der zweiten Geschichte von Franziska Franke in diesem Band, da dort in­direkt auf ein Ereignis rekurriert wird, das schon in mehreren Ausarbeitungen der Öffentlichkeit präsentiert wurde – nämlich die Geschichte mit der Riesen­ratte von Sumatra. Doch fangen wir vorn an.

Peter Jackob eröffnet den Reigen der Fälle mit „Der verschwundene Diplomat“. Der britische Diplomat Lionel Preston ist verschwunden, und zurückgeblieben ist lediglich sein Koffer in einem Eisenbahnabteil. Er sollte einen wichtigen Brief überbringen, der ebenfalls verschwunden ist. Der Koffer ist nun im Besitz von Sherlock Holmes, und es geht um Leben und Tod, mit dem Koffer als einzigem „Zeugen“…

Das Glas mit dem Magenbitter“ scheint bei Wolfgang Schüler, der Sherlock Holmes und Dr. Watson in einem Mordfall ermitteln lässt, zunächst eine reine Nebensache zu sein. Der Waffensammler Sir William Arthur Gore ist mit einem Stilett seiner eigenen Waffensammlung ermordet worden, und die Sache ist reichlich mysteriös, wie stets. Aber der Bruder des Ermordeten ist ein alter Stu­diumskollege von Sherlock Holmes, und vielleicht macht das die Angelegenheit einfacher… so denkt wenigstens der Detektiv. Doch zunächst kann er sich gar nicht um diesen Fall kümmern, sondern um das rätselhafte Verschwinden von Papieren und den Fund von Juwelen auf dem Grundstück einer Klientin – seltsa­merweise ihre eigenen Juwelen, von deren Verschwinden sie erst nach Fund der „neuen“ Kenntnis erlangte. Eigenartige Dinge gehen hier vor, soviel ist sicher, aber das ist ja das Reizende an Sherlock Holmes-Geschichten. Holmes´ grübelnder Verstand arbeitet auf Hochtouren, und das geht auch dem Leser so…

Christian Endres steuert mit „Die zweiundvierzig Napoleons“ eine bizarre Ge­schichte um die Baker Street Irregulars bei, die einen Massenmord annoncie­ren, den inmitten der Großstadt gleichwohl niemand bemerkt haben soll – ein köstliches kleines Vergnügen, wie man schnell bei der kurzweiligen Lektüre merkt…

Schraubflächen mit geneigter Erzeugungslinie“ ist ein eigenwilliger Titel für eine Sherlock Holmes-Geschichte, aber Klaus-Peter Walter gibt rasch Aufklä­rung: Dies ist der Titel eines Sachbuches, das laut einer nervösen Bibliothekarin, die Holmes´ Rat sucht, der Schlüssel sein könnte für das rätselhafte Verschwin­den ihres Verehrers. Dass das in Wahrheit gar nicht der Fall ist und es sehr viel mehr um Bilder geht und um Betrug, das kristallisiert sich erst deutlich später heraus. Und anfangs sieht es sowieso sehr danach aus, als interessiere Holmes sich so überhaupt nicht für diese „Herzensangelegenheit“…

Auch „Dornröschenschlaf“ hat auf interessante Weise mit Kunst zu tun. Fran­ziska Franke, die sich mit einer Reihe von Sherlock Holmes-Romanen einen Na­men gemacht hat, die in der Interimszeit nach Holmes´ vermeintlichem Tod in den Reichenbachfällen spielen – inzwischen gibt es fünf davon, die noch meiner Lektüre harren – , nimmt uns mit auf eine kleine Ermittlung im legendären Dio­genes-Club in London. Einer der dortigen Gentlemen möchte doch tatsächlich, dass sich Holmes mit ihm privatim trifft und etwas bespricht… doch als der De­tektiv mit seinem Adlatus der Einladung nachkommt, findet er den noch war­men Leichnam des Rufenden vor – und ein Mysterium, das mit deutschen Mär­chen zu tun hat…

Karsten Eichner, dessen Sherlock Holmes-Fälle sämtlich in Deutschland spielen, konfrontiert den Leser in „Der Rheingauer Prinzenraub“ mit dem rätselhaften Verschwinden eines jungen Prinzen, für dessen Wiederauftauchen schon ein horrendes Lösegeld gezahlt wurde. Der Prinz bleibt indes verschwunden, und der ermittelnde Kommissar Cornelius ist in Nöten und bittet Holmes um infor­melle Amtshilfe. Was dann ans Tageslicht kommt, ist alles andere als das Erwar­tete…

Die Drachenlady“ aus der Titelstory der Sammlung, die einmal mehr Klaus-Pe­ter Walter beisteuert, heißt Bian und ist eine so genannte „Exotin“, die von dem Impresario Harvey Barker gesucht wird. Sie sei eine seiner „Weibsen“ in dem von ihm betriebenen Mae’s Famous Royal Midgets Panoptikum und sei ihm un­dankbarerweise einfach so davongelaufen. Sie ist, und daraus resultiert der Ti­tel der Story und Bians Beiname, eine tätowierte asiatische Schönheit und lässt sich üblicherweise von Neugierigen in einem Käfig in Barkers Etablissement be­starren. Nun ist sie verschwunden, und alles, was zurückblieb, sind offensicht­lich eine Handvoll Bambussamen. Dass die Dinge sehr viel schlimmer stehen, kommt für Holmes und Watson bald zutage, und die Angelegenheit wird äu­ßerst grässlich…

Dann folgte die überraschende Geschichte um „Die Riesenratte von Sumatra“, deren Fall ich eigentlich längst von Rick Boyer (1976) aufgearbeitet glaubte. Im Nachwort des Herausgebers erfuhr ich zu meiner nicht geringen Überraschung, dass es noch mehrere weitere Ansätze dazu gab, und nun steuert Franziska Franke eine weitere Facette des Falles bei. Seltsamerweise scheint die „Matilda Briggs“ in ihrer Geschichte in der verkehrten Richtung unterwegs zu sein, näm­lich gen Indien – was der Tatsache natürlich Rechnung trägt, dass dies Teil des fünften Holmes-Romans aus Franziska Frankes Feder ist, der „Sherlock Holmes in Indien“ heißt. Was genau in der kurzen Episode Violetta Tristram, ihrem Gat­ten David Tristram und dem vorgeblichen Gemahl Sigerson (alias Sherlock Hol­mes) an Bord der „Matilda Briggs“ widerfährt und welche Rolle die legendäre Ratte dabei spielt, sollte man selbst entdecken.

Ein Nachwort des Herausgebers rundet diesen Band dann ab, gefolgt von einer Reihe von Kurzvitae der Verfasser, in denen zahlreiche interessante Werke für das angeregte Interesse benannt werden. Für weitergehendes Lesefutter aus dem Sherlock Holmes-Kosmos ist auf diese Weise ganz gewiss gesorgt.

Alles in allem liegt mit „Sherlock Holmes und die Drachenlady“ eine schön gemachte und sorgfältig edierte Anthologie vor, die den Holmes-Kosmos um eine ganze Reihe angenehm lesbarer Geschichten erweitert, wobei an vielen Stellen die akkurate Kenntnis der Zeitgeschichte und der Holmes-Historie be­sticht. Natürlich fehlen weder das Geigenspiel noch Watsons Sorge um Holmes´ Drogenkonsum, es fehlt nicht der obligatorische Revolver und erst recht nicht die gewünschte „messerscharfe Detektion“.

Ich habe mich bei dem Band ausgesprochen gut unterhalten gefühlt und bin der Auffassung, ihn guten Gewissens als Lektüre-Leckerbissen für Holmsianer und solche, die es werden wollen, empfehlen zu können… indes empfehle ich den Neueinsteigern, vielleicht zunächst die Ursprungswerke von Arthur Conan Doyle zu schmökern, beginnend mit „Eine Studie in Scharlachrot“, um die zahl­reichen Anspielungen in diesen Geschichten angemessen würdigen zu können. Und insbesondere bei den Werken von Franke und Schüler empfiehlt es sich gewiss, zunächst ihre vorher erschienenen Holmes-Romane zu goutieren. Dann ist das in den obigen Geschichten auftretende Personal hinreichend vertraut, um gleich weiterzuschmökern.

Es bleibt eigentlich nur zu wünschen, dass dieser Anthologie möglichst bald weitere folgen mögen, die mindestens dieselbe Qualität aufweisen. Unbedingte Leseempfehlung!

© 2016 by Uwe Lammers

Doch, es gibt auch wirklich mal Fälle von Romanen und Anthologien, die ich un­eingeschränkt empfehlen kann. Ich bin durchaus nicht immerzu „Kritikaster“, sondern absolut zu positiver Beurteilung fähig. Wie überall in der Welt sind je­doch sehr gute Bücher wirklich spärlich gesät, und es gibt der Stolperfallen gar viele, je mehr pro Autor, je belesener sein Rezensentenpublikum ist.

Und dann gibt es Bücher, die sich auf groteske Weise fast völlig der Beschrei­bung entziehen – ein solches haben wir nächste Woche auf dem Kieker: den Abschlussband des Illuminatus!-Zyklus. Mamma mia, was für ein wildes Garn… solltet ihr aber dennoch nicht versäumen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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