Rezensions-Blog 165: Der Reiz des Verbotenen

Posted Mai 23rd, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

dass meine erst jüngst im Dezember 2017 gründlich reorganisierten Bücherre­gale voller ungelesener Bücher stecken und in ihnen gelegentlich tolle Werke auftauchen, die ich zwar gesammelt und archiviert, aber noch nicht goutiert habe, das sollte niemanden verblüffen. Als ich im Frühjahr 2017 daran ging, meinen recht umfangreichen Bestand an Mira-Büchern genauer zu durchfors­ten und zu schmökern – zumeist Werke von 400 Seiten aufwärts – , da entdeck­te ich dieses interessante und aufregende Kleinod, das ich nicht erwartet hatte und das nun verstärkt meinen Fokus auf die Autorin Sharon Page richtete.

Erotische Romane, die im frühen 19. Jahrhundert spielen, sind in meinem Be­stand doch recht selten, und dieses hier ist alles andere als schlicht gestrickt. In der historischen Kulisse steckt sowohl ein gutes Stück Untergrundkultur der vorviktorianischen Zeit verborgen als auch ein dramatischer Kriminalfall, der le­bensgefährliche Ausmaße für die Protagonisten annimmt – von der obligatori­schen Liebesgeschichte, für die man schon ein gewisses Faible mitbringen muss, mal ganz zu schweigen.

Wer sich also ins Jahr 1818 aufmachen möchte, um eine dreihundertseitige Or­gie und, mitten im Zentrum des lustvollen Sturms, eine Jungfrau und ihren Be­schützer wider Willen zu begleiten, der sollte jetzt weiterlesen:

Der Reiz des Verbotenen

(OT: Sin)

Von Sharon Page

Mira 35020

432 Seiten, TB (2008)

ISBN 978-3-89941-488-2

Aus dem Amerikanischen von Ira Severin

London, April 1818

Der Sieg über Napoleon Bonaparte ist noch frisch in Erinnerung, als London von einem Skandal erschüttert wird. Marcus Wynham, Earl of Trent, sieht sich einer moralischen Erpressung gegenüber, die mit den erotischen Umtrieben seines verstorbenen Vaters zu tun hat. Um seine Schwester Minerva, Lady Ravenwood, vor Schaden zu bewahren, sucht er die Quelle des Problems auf – die Kurtisane Lydia Harcourt, die über ihre Eskapaden mit hohen Herren des Empire ein aus­führliches, kompromittierendes Tagebuch führt, in dem sich auch Marcus´ nebst seinem Vater befindet. Aber das kristallisiert sich erst im Verlauf des Ro­mans heraus.

Zunächst wundert man sich als Leser, weshalb der junge Earl die zweite Haupt­person des Romans aufsucht. Dabei handelt es sich um die bezaubernde Venetia Hamilton, die uneheliche Tochter des Malers Rodesson. Dieser ist das eigentliche Problem für Marcus – denn Rodesson ist Schöpfer zahlreicher Bild­bände mit erotischen Bildern, und dummerweise sieht man auf vielen dieser Bilder einen jungen Mann unter anderem in zügellosen Orgien, der sehr dem Earl of Trent gleicht. Das ist kein Wunder, denn er ist es tatsächlich. Marcus Wynham steht im Ruf eines raffinierten Verführers, und er hat inzwischen ent­deckt, dass Rodessons Bilder seit einiger Zeit offensichtlich nicht mehr von ihm selbst geschaffen werden, ihr Stil hat sich subtil verändert.

Die Malerin, die er nun kennen lernt, ist eben Venetia Hamilton, der er nun ri­goros unter Strafandrohung untersagt, weiter solche Bilder zu erschaffen. Damit erzeugt er allerdings ein dramatisches neues Problem – denn auch Venetias Va­ter Rodesson, den sie abgöttisch liebt, wird von der Erpresserin Lydia Harcourt unter Druck gesetzt. Die einzige Chance, sich freizukaufen, besteht in Venetias Augen darin, eben weitere Bildbände mit Erotika zu schaffen. Allein so vermeint sie, kann verhindert werden, dass Lydia gefährliche Details, die sie im Bett mit Rodesson gewonnen hat, ans Licht der Öffentlichkeit zerrt und so Venetias Schicksal und das ihrer beiden jüngeren Schwestern ruiniert.

Und nun kommt Marcus Wynham und untersagt ihr das!

Er zerstört ihrer aller Leben!

Schlimmer noch: Venetia hat ihn ja schon nach den Vorlagen in Rodessons älte­ren Bänden und unter Einfluss ihrer lebhaften erotischen Phantasie auf zahlrei­chen Bildern verewigt und ihn damit immer stärker zu einer Traumfigur ihrer jungfräulichen Sehnsucht stilisiert. Und nun steht er auf einmal vor ihr! Zwar weiß sie von ihrem Vater und den Bildwerken, dass Marcus ein gefährlicher Verführer ist, aber wie gefährlich, das wird ihr erst nach dem ersten Kuss mit ihm deutlich.

Von dem Mann muss man sich dringend fern halten, ist daraufhin ihre Devise. Zu dumm, dass ihr Herz irgendwie völlig anderer Meinung ist!

Außerdem beschließt sie, dass sie dringend mit Lydia Harcourt sprechen muss, um sie irgendwie von ihren erpresserischen Plänen abzubringen! Aber wie um alles in der Welt soll sie das machen? Sie ist nicht daheim, und Venetia völlig unerfahren in den gefährlichen Welten der Intrigennetze… doch es scheint sich ein Lichtschimmer aufzutun, als sie durch einen Zufall von einer Festivität des Lord Chartrand auf dem Land erfährt. Dorthin ist Lydia Harcourt unterwegs.

Dies scheint die Gelegenheit zu sein, die Kurtisane zu treffen – es gibt nur ein fundamentales Problem dabei: Lord Chartrands Feier ist eine Orgie mit zügello­sen sexuellen Ausschweifungen, wie sie Rodesson einst gemalt hat. Und Vene­tia Hamilton ist sowohl ohne eigene physische Kenntnisse dieser Art von Event, zweitens ist sie noch ahnungslose Jungfrau, und drittens besitzt sie keinen Für­sprecher, in dessen Begleitung sie dort auftauchen könnte.

Ungeachtet der Problematik, die sich daraus unweigerlich ergibt, fällt Venetia nur eine einzige Person ein, an die sie sich wenden kann, die ihr Zutritt zu die­sem Kreis verschaffen könnte – den jungen Earl of Trent, Marcus Wynham. Denn sie geht davon aus, dass er als bekannter Lebemann sicherlich eine Einla­dung dorthin erhalten haben würde.

Dies erweist sich als zutreffend… aber ihr ist durchaus nicht klar, dass sie sich hiermit in Lebensgefahr begibt. Denn Lydia ist nicht zum Vergnügen auf diesen Landsitz gefahren, sondern um ihre erpresserischen Aktivitäten in Geld umzu­münzen. Es wimmelt dort von Männern, die sie kompromittieren könnte. Und auch Marcus Wynham ist fest entschlossen, dort mit der Kurtisane zu reden, um sich von ihren gefährlichen Geheimnissen freizukaufen.

Auf einmal hat er noch ein ganz anderes, sehr viel pikanteres Problem: die auf­regende Malerin Venetia, deren Identität er unbedingt schützen will und die ihn schon längst in ihren sinnlichen Bann gezogen hat. Doch zugleich möchte er auch verhindern, dass sie ihrem intensiven Drängen vorschnell nachgibt, näm­lich ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, da es sie unendlich danach gelüstet, all die sinnlichen Freuden zu fühlen, die ihr Vater in so hitzigen Bildern dargestellt hat und die sie längst selbst imaginiert und malt. Und obgleich sie weiß, dass das an Wahnsinn grenzt, sehnt sich Venetia danach, dass ausgerechnet Marcus ihr erster Mann sein soll.

Aber eine Jungfrau im Zentrum einer Orgie? Marcus Wynham mag sich über­haupt nicht vorstellen, was passieren wird, wenn ihr Zustand bekannt wird. Zu­gleich aber erregt sie ihn auf unanständige, süße Weise – und so beschließt er, ihrem Wunsch zu entsprechen und sie auf die Orgie zu begleiten, allerdings nicht als ihr Liebhaber, sondern vielmehr als Tugendwächter. Sie soll ihm nicht von der Seite weichen, derweil er ihr verspricht, alle sinnliche Wonnen zu zei­gen, die sie genießen kann, ohne ihren Stand der Jungfräulichkeit zu verlieren. Denn schließlich möchte er nicht ihre Chance auf eine reguläre Hochzeit zunich­te machen.

Doch seine Geduld und Nerven werden auf eine unglaubliche Probe gestellt – und dann legt sich auch noch der Schatten des Todes über das Anwesen von Lord Chartrand, und alle Anwesenden sind dort durch ein Unwetter gefangen…

Der Reiz des Verbotenen“ schlummerte annähernd acht Jahre ungelesen in meinen Regalen und wurde erst jetzt emporgespült und ungeachtet seines Um­fangs binnen von vier Tagen hungrig verschlungen. Zugegeben, am Anfang war ich durchaus skeptisch, als ich der vollmundigen Leseempfehlung der Just Erotic Romance Reviews folgte: „Wie bekommt man einen Orgasmus ohne Sex? Lesen Sie ‚Der Reiz des Verbotenen’ von Sharon Page!“… aber dies ist nicht völlig falsch. Allerdings sollte man auch begreifen, dass man in einem Roman, der im­merhin auf fast 300 Seiten während einer tagelangen Orgie in einem Landhaus nahe London spielt, natürlich auf jede Menge Sex stößt. Allein die schöne Prot­agonistin Venetia hat ziemlich lange zu warten, ehe sie sich endlich auf die landläufig „normale“ Art und Weise einem Mann hingeben darf. Was sie bis da­hin allerdings schon an oralen und analen Genüssen erlebt, äußerst kundig und vielseitig von der Autorin beschrieben, das ist alles andere als „ohne Sex“. Lei­denschaftliche Liebesszenen und erotische Szenarien gibt es auch sonst reich­lich.

Man sollte indes nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass der vorliegende Ro­man sich von anderen erotischen Romanen, die ich in jüngster Vergangenheit las, gründlich dahingehend unterscheidet, dass er überwiegend romantische Strukturen enthält. Wer also glaubt, er würde sich a la Linda Mignani in der BDSM-Szene wieder finden und Fesselspiele und dergleichen erleben, der wird gründlich in seinen Erwartungen getäuscht. Wer allerdings einer äußerst liebeshungrigen, unerwartet starken Frauenpersönlichkeit begegnen möchte und einem Verführer, der nahezu unmenschliche Beherrschung aufbringen muss, um diesem reizenden Wesen nicht zu verfallen, der ist hier richtig. Natürlich sind Venetia und Marcus von der Autorin (oder dem Schicksal oder was auch immer) füreinander bestimmt, dieser romantische Konnex ist ungeachtet der bisweilen dramatischen Wendungen in der Geschichte unausweichlich. Der Weg dorthin ist jedoch äußerst aufregend und sehr kurzweilig.

Sicherlich, es gibt auch hier manche Stelle, wo der gründliche Leser die Stirne runzelt und sich fragt, ob das alles wohl so funktionieren würde… aber sie hal­ten sich sehr in Grenzen. Mir sind zwei Stellen aufgefallen, wo mir schien, dass der historische Kontext offensichtlich eine ältere Geschichtenstruktur überfor­men sollte, die eher in der Gegenwart spielte. Da wird in einem Gespräch die „elektrisierende“ Wirkung einer Frau erwähnt – zu einer Zeit, als Elektrizität ei­gentlich kaum entdeckt war und die ganze Welt noch mit Kerzen und maximal Gaslicht beleuchtet wurde. An anderer Stelle war die Rede von Krawatten, die m. E. erst deutlich nach 1818 erfunden werden. Aber das sind Kleinigkeiten, die diesen Roman und seine Wirkung nicht schmälern.

Schwieriger und unglaubwürdiger ist Venetia Hamiltons Darstellungsfähigkeit auf erotischem Gebiet, ohne dass sie über eigene Erfahrungen verfügt. Hier wird munter und mit breiten Strichen idealisiert, dito bei Marcus Wynhams Standvermögen, das ohne Viagra wohl kaum realistisch wäre… aber es ist ein Roman, eine romantische Phantasie, und als solche sollte man ihr gewisse Frei­heiten dichterischer Natur zugestehen.

Für Leser, die ruhigere erotische Romane schätzen und sogar noch einen darin verborgenen, dramatischen Mordfall, für die ist dieses Buch zweifellos eine in­teressante und unterhaltsame Einstiegslektüre.

© 2017 by Uwe Lammers

Doch, die vier Tage Lesezeit zu investieren (oder weniger, wenn man es nicht so lange aushält, bis zur Vollendung des Leseerlebnisses zu gelangen), das lohnt sich meiner Ansicht nach absolut. Weitere Romane der Autorin stehen noch in meinem Regal und werden alsbald ebenfalls geschmökert werden.

In der kommenden Woche ist einiges historische Wissen über die amerikani­schen Gründerväter gefordert. Ihr könnt ja schon mal den Namen Aaron Burr nachschlagen, um vorbereitet zu sein auf das vergnügliche Leseabenteuer der kommenden Woche.

Neugierig geworden? Gut so – dann bis in sieben Tagen, Freunde!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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