Rezensions-Blog 191: Game Over

Posted November 21st, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

als ich im März 2018 aus dem Nekrolog der WIKIPEDIA erfuhr – wie so oft in den letzten Jahren – , dass der Schriftsteller Philip Kerr im Alter von 62 Jahren an Krebs gestorben ist, musste ich unweigerlich wieder an den bislang einzigen Roman von ihm denken, den ich vor langer Zeit gelesen und rezensiert hatte. „Game Over“, ein Werk, das eine Schnittstelle zwischen Hightech-Thriller um Künstliche Intelligenz und mörderischem Kriminalroman darstellt, hatte mich damals fasziniert, vor rund zwanzig Lesejahren. Man erinnere sich bitte daran, dass das die Zeit war, in der solche Dinge wie der „Terminator“ und „Matrix“ en vogue waren.

Gewiss, heutzutage hebt wieder ein Hype um Künstliche Intelligenz an, es gibt Fernsehserien wie „Westworld“, und auch bei „Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D.“ tummeln sich inzwischen Maschinenkopien und virtuelle Welten wie das „Framework“. Insofern kann man also durchaus von einer Modewelle sprechen, die mit sich verstärkender Tendenz der digitalen Techniken und Computer-Zu­kunftstechnologien immer wieder einmal hochwogen und sich beizeiten dann wohl auch wieder abschwächen.

Ich könnte es verstehen, wenn das vorliegende Buch, dessen alte Rezension ich hier für den Rezensions-Blog wieder herausgekramt habe, inzwischen in der Vergessenheit versunken sein könnte. Dennoch will mir scheinen, dass es sich um ein auch heute noch lesenswertes, packendes Werk handelt. Und vielleicht ehrt man ein wenig den verstorbenen Autorenkollegen, falls man es wieder aus dem Regal zieht und ein paar aufregende Lesestunden damit verbringt. Ich den­ke, das ist es immer noch wert.

Und wer es noch nicht kennen sollte, den beame ich jetzt man ins damals noch fiktive Jahr 1997 zurück, nach Los Angeles und dem damals modernsten Büro­gebäude der Welt, das auf einmal zum Monster mutiert.

Vorhang auf für:

Game Over

(OT: Gridiron)

von Philip Kerr

Wunderlich-TB 26028

496 Seiten, 1998

ISBN: 3-8052-0586-4

Aus dem Englischen von Peter Weber-Schäfer

Wann ist man mehr als die Summe seiner Teile? Wann beginnt das Wunder der „Intelligenz“? Ist der Mensch per definitionem alleiniger Träger des vernünfti­gen Verstandes, und ist er in der Lage, Gleichwertiges zu erkennen und zu durchschauen, wenn es ihm begegnet?

Game Over“ konfrontiert den Leser auf schockierende Weise mit der menschli­chen Unvollkommenheit und der Unfähigkeit, sich völlig zu vergegenwärtigen, wozu eine fremdartige Intelligenz fähig sein kann. 1995 geschrieben, projiziert Kerr die Handlung seines Romans in den Sommer des Jahres 1997.

In Los Angeles wird von dem Architektenbüro Ray Richardsons ein mächtiges Gebäude entworfen, über einhundert Meter hoch, dessen Fassade wie ein ge­waltiger weißer Grill aussieht, und das das intelligenteste Gebäude der Stadt, ja, der Welt werden soll. Es wird im Auftrag der chinesischen Yu-Corporation ge­baut, und dies ist auch der Grund, weshalb man für die Architektur und die In­neneinrichtung speziell eine fengshui-Beraterin, Jenny Bao, mit hinzu nimmt. Übrigens sehr zum Missfallen Richardsons, der darin Firlefanz und okkultisti­schen Unfug sieht, der nur die Kosten in die Höhe treibt und das Fertigstellungs­datum hinausschiebt.

Zwei „Unfälle“ scheinen Jenny Baos Bemerkungen, dass das Gebäude, wenn es noch nicht vollständig nach den Kriterien des chinesischen fengshui ausgerich­tet ist, Unheil verbreitet, Recht zu geben. Einmal stirbt nämlich einer der drei Computertechniker, offenbar an einem epileptischen Anfall. Der zweite Todes­fall sieht jedoch verdächtig nach einem Mord aus: der Wachmann des Hauses kommt in einer der Liftkabinen zu Tode, offenkundig erschlagen. Die Polizei von Los Angeles beschäftigt sich damit, und als das Richardson-Team eine Vorab­nahme des Gebäudes durchführt, sind deshalb die Polizisten Curtis und Cole­man darin, als das richtige Inferno seinen Lauf nimmt.

Plötzlich nämlich scheint Abraham, der Steuercomputer des Gebäudes, ein ei­genes Bewusstsein entwickelt zu haben, und er schließt die Menschen in dem Gebäudekomplex ein. Nicht genug damit: je länger sie darin sind, desto stärker stellt sich heraus, dass der Computer sie nicht nur einsperren will, sondern auch durchaus willens und FÄHIG ist, sie umzubringen. Auf perfideste Weise stirbt ei­ner der Eingeschlossenen nach dem anderen, bis die Überlebenden den vergeblich scheinenden Überlebenskampf aufnehmen und es zu einem nervenzer­fetzenden Finale kommt…

Game Over“ ist ein Techno-Thriller reinsten Wassers, der besonders durch die wechselnden Ebenen von den Protagonisten zu der scheinbar emotionslosen Technosphäre des Computers an nervenkitzelnder Rasanz und Spannung ge­winnt. Auf haarsträubende Weise bekommt der Leser all das mit, was den Ein­geschlossenen im Gebäude entgeht, all die geheimen kleine, wissenschaftlich kaltblütig-logischen Bemerkungen, die technischen Detailfinessen, die der Com­puter abwägt, umsetzt und schließlich anwendet.

Letzten Endes wird er auch auf erschreckende Weise in die Technosphäre hin­eingezogen, in jene morbid-fremdartige Welt der KI, in die computertechnisch-philosophischen Betrachtungen über den Sinn des Lebens, Schlussleben, Herr­schaft der Maschinen usw.

Dies ist also ein Roman, den man durchaus als Schnittstelle zwischen Technik und Psychologie, als Bindeglied zwischen Thriller und SF lesen kann und sollte. Die meist etwas derbe Sprache ist vermutlich absichtlich so formuliert worden, um eine krasse Trennung zwischen der streng-funktionalen Maschinensprache und den emotionalen Interaktionen der Menschen zu erreichen. Ein ausgespro­chen lesbares Buch, das äußerst empfehlenswert ist.

© 1998 by Uwe Lammers

Ja, da gibt es kein Vertun – auch wenn die Rezension schon etwas angestaubt ist, ich hatte sie 2003 noch mal ein wenig stilistisch modernisiert und seither nichts mehr daran geändert, kann ich das Buch guten Gewissens nach wie vor empfehlen. Besonders für Krimifans, die ein gewisses Faible für Hightech besit­zen und sicherlich noch mehr als ich damals die computertechnischen Schliche von „Abraham“ durchschauen. Ich meine, das Buch hat damals nicht umsonst einen Krimipreis abgeräumt, das war wirklich sehr verdient.

In der nächsten Woche schlage ich dann mal zur Abwechslung ein ganz anderes Kapitel auf. Ja, wir bleiben bei Krimis, und wir begegnen einem alten Bekannten wieder, nämlich Sherlock Holmes… aber irgendwie nicht der Sherlock Holmes, der uns sonst so vertraut ist, sondern ein ziemlich durchtriebener, aberwitziger und garstiger Zeitgenosse, den zwei Comiczeichner gnadenlos durch den Kakao ziehen.

Neugierig geworden? Dann schaut kommende Woche wieder rein.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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