Rezensions-Blog 256: Das Blut der Schande

Posted Februar 19th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es ist nichts Ungewöhnliches daran, wenn sich amerikanische Schriftsteller an Sherlock Holmes versuchen, das hat durchaus Tradition, und zwar seit vielen Jahrzehnten. Mal gelingt es besser, mal eher mäßig. Aber üblicherweise haben wir es meist mit recht geschickten Geschichten zu tun, die nur in der Struktur den einen oder anderen Makel aufweisen.

Ganz in die nämliche Richtung geht das vorliegende Buch, das vom amerikani­schen Autor Caleb Carr verfasst wurde, der sich von Vorgängerromanen her schon gut in der Zeitepoche auskannte. Dass dann die Story etwas zu sehr inter­pretierend auf Arthur Conan Doyles spätere Obsession des Spiritistischen ab­hebt und grundsätzlich etwas zu viele ausschmückende Details enthält (schwei­gen wir von der Schwatzhaftigkeit der eigentlich doch mehr sehr wortkargen Protagonisten), ist vielleicht dem generellen Thema geschuldet, aber ein wenig zu selbstverliebt kommt das alles dann doch herüber.

Dennoch – wer sich gern mal im Edinburgh des späten 19. Jahrhunderts und auf Holyrood Palace ebendort herumtreiben und auf Mörderjagd (nicht Geister­jagd!) gehen will, der sollte an diesem Werk gewiss nicht vorbeigehen. Er würde ein durchaus interessantes Stück Epigonenliteratur verpassen.

Worum geht es im Detail? Nun, hierum:

Das Blut der Schande

(OT: The Italian Secretary)

von Caleb Carr

Heyne Hardcover

München 2006

356 Seiten, geb.

Aus dem Amerikanischen von Robert Brack

ISBN 3-453-40457-2

Caleb Carr ist uns Europäern eigentlich bekannt geworden durch seine histori­schen Kriminalromane „Die Einkreisung“ und „Engel der Finsternis“, doch hier hat er ein interessantes Stück Literatur vorgelegt, das zwar in einem ähnlichen Zeitfenster spielt, doch sich zugleich in eine ganz andere Ecke des Literaturgen­res einschreibt.

Reden wir über Mr. Sherlock Holmes und seinen Adlatus und treuen Freund, Dr. John Watson, denn mit diesen beiden Herren bekommt es der Leser in diesem Buch zu tun. Das Nachwort von Jon Lellenberg macht deutlich, dass die vorlie­gende Geschichte eigentlich als Bestandteil einer Anthologie von Holmes-Epigo­nen-Geschichten gedacht war, die unter dem Titel „Ghosts of Baker Street“ 2006 erscheinen sollte. Dummerweise wucherte Caleb Carrs Geschichte auf er­staunliche Weise, nachdem er die Gelegenheit gefunden hatte, Holyrood Palace in Edinburgh zu besuchen (die Begeisterung Carrs über diese Location spürt man in der zweiten Hälfte des Romans überall, das macht alles ein wenig „läng­lich“).

Holyrood Palace ist ein berühmter Ort der britischen Monarchie… wenn auch eines Zweiges der Monarchie, über den man heutzutage außerhalb Schottlands nicht mehr gern redet. Er ist verbunden mit der Dynastie der Stuarts, also den Jakobiten des 16.-18. Jahrhunderts. Und speziell in diesem Roman geht es um einen Mord desselben Jahrhunderts. Der „italienische Sekretär“ David Rizzio, Tanz- und Musiklehrer am Hofe Maria Stuarts im Jahre 1566, wurde hier im Westturm auf brutale Weise vom Leben zum Tode befördert. Und es geht das Gerücht um, er spuke noch immer in diesen Mauern …

Gewiss, haltloser Aberglauben.

Aber als Sherlock Holmes in der Baker Street 221B ein chiffriertes Telegramm erhält, das höchste Dringlichkeit signalisiert und ihn und seinen Gefährten Wat­son flugs nach Edinburgh dirigiert, da scheint an dieser jahrhundertealten Schauergeschichte durchaus etwas dran zu sein. Während die Königin Victoria sich auf Schloss Balmoral aufhält, sind in den Mauern des Holyrood Palace über den Dächern von Edinburgh zwei honorige Männer auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen.

Monströse Weise, das träfe es besser, wie die beiden Freunde bald erkennen müssen. Behindert von schottischen Nationalisten und Bomben mit brennen­den Zündlunten erkennen sie rasch den Ernst der Lage und müssen gewärtigen, dass womöglich das Leben der Königin selbst in Gefahr ist. Im Palast visitieren sie den Körper des letzten Opfers, das am Fuß der Mauern gefunden wurde – und dem armen Kerl wurde buchstäblich jeder Knochen im Leib gebrochen, was nicht einmal der Sturz vom Dach des Gebäudes bewirkt hätte.

Dann hören Holmes und Watson von dem rätselhaften, niemals verschwinden­den Blutfleck in den Gemächern der glücklosen Maria Stuart, vernehmen ges­pensterhafte Schritte und italienische Musik … und fast beginnt der gute Doktor Watson tatsächlich an den Geist des glücklosen italienischen Sekretärs zu glau­ben. Indes, da ist noch der skeptische Sherlock Holmes, der einwendet, warum wohl ein Geist des 16. Jahrhunderts eine solche Vorliebe für Giuseppe Verdi he­gen sollte.

Doch es vergeht einiges an Zeit, eine ganze Reihe von Menschen kommt auf grässliche Weise zu Tode, ehe klar wird, worum es hier wirklich geht und wie skrupellos der Verstand ist, der hinter all dem steckt …

Das Blut der Schande“ ist ein für meinen Geschmack sehr gemächlicher Ro­man, der vom Duktus am ehesten mit „Der Hund der Baskervilles“ zu verglei­chen ist, wobei die erste Hälfte allerdings äußerst betulich beginnt. Wer rasche Action erwartet, ist hier fehl am Platze, ganz eindeutig. Auch macht Caleb Carr wenigstens zu Beginn unseren guten Holmes außerordentlich schwatzhaft, was seiner Natur im Grunde nicht entspricht. Sein hier ebenfalls auftauchender Bru­der Mycroft steht ihm nicht nach (und das passt zu ihm dann erst recht nicht). Die Handlung entwickelt sich eher träge und zögerlich, und hat man das Buch einmal ganz gelesen, fragt man sich ein wenig bedauernd, ob Carr nicht viel­leicht fünfzig Seiten hätte einsparen können. So ungern ich das zu einem Hol­mes-Roman auch sage: hier hätte es gestimmt, dass weniger mehr gewesen wäre.

Irritierend bleibt außerdem zum Schluss das leicht penetrante Insistieren auf ei­nem metaphysischen Seitenpfad. Sicherlich kann man das als eine Art später Verbeugung vor Arthur Conan Doyle verstehen, der bekanntlich selbst in Spiri­tistenkreisen verkehrte und an Geister, Feen und dergleichen glaubte. Und in ei­ner gewissen Weise macht es Sinn, wenn Carr diese Neigung nun dem alter Ego Doyles, Dr. John Watson, andichtet. Dennoch fand ich es ein wenig … nun … unpassend.

Gründlich irritiert wird der Leser durch den deutschen Titel, der nun wirklich auf Abwege führt (der englische ist nicht sehr viel besser, meiner Ansicht nach). Vielleicht wäre „Mord im Holyrood Palace“ prägnanter und dem Inhalt ange­messener gewesen – doch das wissen allein das Lektorat und der Verlag.

Sei’s drum … man kann dieses Buch, wenn man wenig Zeit hat, in sieben Tagen durchschmökern, und ich gestehe, es gibt wirklich langatmigere Werke. Einen Hochspannungspreis würde ich dem vorliegenden Buch gleichwohl nicht zuer­kennen. Als Epigonenroman, noch dazu von einem Amerikaner geschrieben, kann ich meine Anerkennung nicht verwehren.

Eine nette Geschichte – nicht nur für die Hardcore-Holmes-Fans geeignet. Eine Straffung hätte ihr indes nicht geschadet.

© 2016 by Uwe Lammers

Ja, in der Tat ist manchmal weniger mehr … ich bekenne mich dazu, hier auch manchmal nicht das rechte Maß zu finden. Das ist so das Problem mit Autoren, die sich in ihre eigenen Texte verlieben – das kann man Caleb Carr also nicht vorwerfen, ich schon gar nicht. Aber doch, etwas kürzer hätte es schon sein können, um konzentrierter zu wirken. Gleichwohl ein lesenswerter Roman.

In der nächsten Woche irren wir wieder in die Gegenwart ab und widmen uns dem ersten Teil einer verblüffenden Liebesgeschichte, die bis heute die Gemü­ter erhitzt und die Meinungen polarisiert. Ich selbst stehe auf der Seite der Be­fürworter, das sollte ich vorwegnehmen.

Zieht am besten euer eigenes Fazit in sieben Tagen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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