Rezensions-Blog 266: Die Saat des Cthulhu

Posted April 29th, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

vor ziemlich langer Zeit, ich habe das mal in meinen historischen Blogartikeln des Sonntags-Blogs erwähnt, war ich ausgesprochener Fan der Werke von Ho­ward Phillips Lovecraft und seinen Epigonen. Das war zu der Zeit, als ich gerade ins Fandom gestartet war, also gegen Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhun­derts. Damals gründete ich in eifriger fannischer Begeisterung den Lovecraft-Club LOVECRAFTS ERBEN, und zu den ersten Mitgliedern zählte ein nicht minder enthusiastischer Fan namens Frank Festa.

Frank ist inzwischen seit sehr langer Zeit mit einem eigenen Verlag unterwegs und hat auch zuvor schon im Blitz-Verlag diverse Storysammlungen zu Lovecraft publiziert. Dies hier ist eine der frühen Ausgaben, die – wie die relativ zeitnahe Rezension belegt, die ich vor 18 Jahren schrieb – noch mehr durch Elan als durch kritisches Lektorat auffällt. Dennoch möchte ich damit Franks Eifer auf keinen Fall schmälern.

Zwar bin ich schon ziemlich lange aus dem Lovecraft-Dunstkreis herausgedrif­tet, auch ist LOVECRAFTS ERBEN in den 90er Jahren still eingegangen, doch ste­he ich definitiv zu diesem Teil meiner biografischen Vergangenheit. Und gele­gentlich bereitet es mir immer noch Vergnügen, Geschichten aus dem Umfeld des Cthulhu-Mythos zu schmökern, wenn auch sehr viel seltener als einst. Ich bin heute doch sehr viel stärker im Science Fiction-Milieu verankert und küm­mere mich mit dem Oki Stanwer Mythos (OSM) um mein eigenes Universen-En­semble.

So kritisch also meine unten wiedergegebene Rezension auch klingen mag und so vergriffen die einstmalige Ausgabe sein mag – ich fand sie doch so ausgewo­gen und interessant, dass ich mir dachte: zeig sie doch mal meinen Lesern, die vielleicht weniger von Lovecraft wissen oder dieses Werk selbst nicht auf dem Schirm haben.

Schaut euch einfach mal an, was ihr von den besprochenen Geschichten haltet, und macht euch im Zweifelsfall auf die Suche nach dem Werk selbst:

Die Saat des Cthulhu

von Frank Festa (Hg.)

Blitz-Verlag Nr. 2602

176 Seiten, Paperback, 2000

ISBN 3-932171-99-3

Wie belebt man einen alten Mythos neu, der in der Gegenwart mehr und mehr in den Status eines Randphänomens abzurutschen beginnt? Indem man, wie in diesem Fall, eine Storysammlung von sogenannten Epigonen des Schöpfers die­ses Mythos herausgibt und zeigt, dass nach wie vor ungebrochene Kraft in den zentralen Strukturen liegt.

Der Cthulhu-Mythos (manche nennen ihn auch ein wenig komplizierter YSCOM – „Yog-Sothoth-Mythen-Zirkel“) des amerikanischen Schriftstellers Howard Phil­lips Lovecraft (1890-1937) ist solch ein Mythos, der nach Edgar Allan Poe die amerikanische Horrorliteratur in den 20er und 30er Jahren grundlegend auf­mischte. Mit seinen beklemmenden Alptraumgeschichten einer von den Ster­nen herabgesickerten Rasse ungeheuerlicher und uralter Wesenheiten dämoni­scher Natur, den sogenannten „Großen Alten“, schuf er Topoi, die bis dahin in der eher zahmen Gruselliteratur der Staaten und der Welt kaum existent waren. Infolgedessen war auch die Wirkung, die Lovecrafts meist posthum veröffent­lichtes Schriftgut ausstrahlte, enorm. Viele namhafte Schriftsteller sind bis heu­te davon intensiv beeinflusst, aber die Glanzzeit seiner Epigonen reicht etwa bis zur Mitte der 80er Jahre, dann flaute die Energie seiner Nachfolger merklich ab.

Frank Festa, einstmaliger LOVECRAFTS ERBE und nun Leiter eines eigenen Verla­ges, zum Erscheinen dieses Buches noch Mitherausgeber im Blitz-Verlag, ent­schied sich dazu, die Kraft des Cthulhu-Mythos wieder zu beschwören, indem er sieben namhafte und auch weniger bekannter Epigonen aus Deutschland und den Staaten mit neuen Geschichten in diesem Band zusammenfasste. Gehen wir ins Detail:

Ramsey Campbell, alter Kämpe der Lovecraft-Epigonen, eröffnet den Reigen mit der Story „Schriftlich“, in der ein Sammler von abseitiger Literatur sich in ein Antiquariat verirrt, in dem es nicht so ganz mit rechten Dingen zugeht – und schließlich erhält er ein Angebot, das ungeheuerlich ist. Aber ob es überhaupt noch möglich ist, es zurückzuweisen …?

Christian von Aster entführt den Leser in der Geschichte „Yamasai“ nach Neu­guinea zu dem unbekannten Volksstamm der N’che-guee, die ein absonderli­ches Stammesgeheimnis hüten sollen, ein Fabelwesen namens Yamasai, das die ethnologisch motivierte Expedition enorm neugierig auf das macht, was sich dahinter verbirgt. Mit einigen Schwierigkeiten erreichen sie auch schließlich das Ziel, doch was sie entdecken, erschüttert ihr Weltbild grundlegend

Thomas Wagner schildert in „Die Farben der Tiefe“ eine Besessenheit, die fa­natische Suche nach einem verschollenen Maler, der auf rätselhafte Weise in der Südsee vor vielen Jahrzehnten verschwand und dessen Bilder inzwischen sensationelle Preise erzielen. Obgleich es scheinbar überhaupt keinen Sinn macht, sucht der Kunstauktionator Velten in der Biografie des verschwundenen Konrad Hatteras schließlich nach dem Fixpunkt, und der findet sich auf Neville Island, wo Hatteras verschwand. Na ja, oder was man eben so gemeinhin „Ver­schwinden“ nennen möchte …

Frank Festas Einleitung zu der Story „Der große Fisch“ von Kim Newman über­treibt wahrlich nicht: „Nun erwartet Sie eine der verrücktesten Cthulhu-Ge­schichten, die je geschrieben wurden …“ Womit er recht hat. Man nehme Ray­mond Chandlers Bay City und Lovecrafts düstere Mythologie, verknüpfe sie mit dessen Kurzroman „Shadows over Innsmouth“, und man erhält eine völlig irre Story. Kurz gesagt geht es um einen Privatdetektiv, der in seiner schnoddrigen Art und Weise mit einem Suchauftrag losgeschickt wird, über in Badewannen ertrunkene Tote stolpert, Seetang und einen obskuren Kult untermeerischer Wesen… es ist wirklich atemberaubend, haarsträubend, und – so seltsam das klingen mag – zwerchfellerschütternd! Allein diese Geschichte ist den Kauf des Bandes wert …

Thomas Ligottis Werk „Harlekins letzte Feier“ führt dann wieder von der West­küste der Vereinigten Staaten fort in den Mittelwesten, wo ein Experte für Eth­nologie und Feste auf den Spuren seines alten Mentors Professor Thoss (man achte auf die Aussprache!) schließlich die seltsam zweigeteilte Stadt Mirocaw entdeckt. Sein ursprünglicher Plan, sich selbst als Clown unter die Bevölkerung zu mischen, wird nicht aufgegeben, aber da es in Mirocaw auch zwei ARTEN von Clowns bei dem Fruchtbarkeitsfest am 19. bis 21. Dezember gibt, wählt er die interessantere Art Clown aus. Eine Entscheidung, die unerhörte Konsequenzen nach sich zieht …

Von dem „Hügel von Yhth“ hat der Protagonist von Jens Schumachers gleichna­miger Geschichte noch nie etwas gehört, als er auf der Suche nach einem okkul­ten Buch San eine heruntergekommene Stadt namens Barath an der Westküste der Vereinigten Staaten erreicht. Sie ist wirklich wenig einladend, die Leute sind wortkarg und verschlossen, ja, irgendwie degeneriert. Die hiesige Bibliothek er­weist sich als seit Jahrzehnten geschlossen, aber nicht verschlossen. In dem staubigen Chaos darin forscht der mutige Protagonist, wird aber nicht fündig. Stattdessen stößt er auf ein anderes Geheimnis, das mit dem Buch San ver­knüpft ist – der „Hügel von Yhth“, der sich draußen in regelmäßigen Abständen auf dem Meer hochwölbt und von etwas aus großen Tiefen erzeugt zu werden scheint. Als er schließlich die Möglichkeit erhält, sich selbst von dem Phänomen zu überzeugen, gefriert ihm schier das Blut in den Adern …

Den Schluss macht ebenfalls ein Altmeister des Horrors, F. Paul Wilson, unter anderem bekannt geworden durch Horrorschocker wie „Das Kastell“, die deut­lich lovecraftschen Einfluss spüren lassen. Seine Geschichte „Hinter dem Schlei­er“ kehrt in die ostenglischen Gebiete zurück, in die unendlich großen, fast un­berührten Pinienwälder, in hinterwäldlerische und scheinbar inzestuöse Ge­meinden, wo die Zeit im 19. Jahrhundert stehengeblieben zu sein scheint. Auf der Suche nach dem „Teufel von Jersey“ erinnert sich Jonathan Creighton seiner alten Studienkollegin und Geliebten Kathleen McKelston, die aus dieser Gegend stammt, und ehe sie sich versieht, steckt sie mit Creighton im tiefsten Schlamas­sel.

Nicht nur, dass er offenbar den „Teufel von Jersey“ nur als Vorwand verwendet, um etwas ganz anderes zu suchen, er sagt auch in andererlei Hinsicht nicht die Wahrheit. Und als sie schließlich mitten in der Wildnis über die geheimnisvollen „Pinienlichter“ stolpern, ahnt „Mac“, dass die Schwierigkeiten erst anfangen. Womit sie recht hat. Wohin all das führt, kann sie freilich nicht einmal ahnen …

Die Wiederbelebung eines Mythos geht oft einher mit Innovationen und Verän­derungen. Das war schon bei Lovecrafts frühen Epigonen so. Lin Carter, um ein Beispiel zu nennen, erfand zahlreiche weitere Gestalten wie Zoth-Ommog, um sie in die „Mythologie“ einzufügen. Lovecrafts erster Nachlassverwalter August Derleth verband beispielsweise indianische Mythologie mit dem Cthulhu-My­thos (z. B. in „Das Grauen vor der Tür“), was eigentlich eher ungenießbar war.

Die jetzigen Veränderungen sind anderer Natur und reizvoller. Neben den „alt­backenen“ Topoi wie den nach Wissen jagenden und dann – meist – in den Ab­grund stürzenden fanatischen Wissenschaftsadepten oder Büchersammlern bei Campbell, Schumacher und Wilson finden wir faszinierende andere Ansätze. Ei­ner davon ist die Verlagerung des Schauplatzes aus dem typisch lovecraftschen Neuengland-Milieu beispielsweise an die Westküste, wo man so etwas nicht un­bedingt erwartet. Eine weitere ist die Verquickung mit anderen Genres (genial in „Der Große Fisch“!). Wilson schließlich macht etwas, was Lovecraft so wohl nie gewagt hätte: sein Protagonist und Erzähler ist eine FRAU! Und das tut der Geschichte durchaus gut!

Dies sind die eigentlich spannenden Neuigkeiten im Cthulhu-Mythos, die auch diese Auswahl so interessant machen. Dabei kann man über Schnitzer und Un­zulänglichkeiten dieses Bandes hinwegsehen. An manchen Stellen fällt auf, dass mit der heißen Nadel gestrickt wurde und mehr Begeisterung als Fachwissen manchmal am Werke war. Ein paar Beispiele?

Die Namen seiner Autoren sollte man schon richtig schreiben können. So ist es eine unangenehme Entdeckung, auf der Rückseite des Covers „Kim Newmann“ zu entdecken. Es verlockt zum Schmunzeln, zu bemerken, dass der Name „Cthulhu“ selbst dem Herausgeber manchmal Probleme bereitet (Seite 47).

Ärgerlicher als diese Flüchtigkeitsfehler sind wirklich unangenehme Sachen.

So findet sich am Anfang von Jens Schumachers Story ein Satz, der dem gesun­den Menschenverstand Hohn spricht und der einfach durchs Lektorat so nicht hätte gehen dürfen: „Da der menschliche Geist in seinen Reaktionen jedoch am ehesten zum Weg des geringsten Widerstandes tendiert, liegt es nahe, die ra­sche Flucht in das endgültigste aller Vergessen als am wahrscheinlichsten vor­auszusetzen: den Absturz in unwiederbringlichen Irrsinn.“

Ich gebe zu bedenken, dass wohl das Gegenteil gemeint war, nämlich die Flucht in den Irrsinn, und es ist fraglich, ob man es als erstrebenswert ansieht, Irrsinn „wiederzubringen“. Dies impliziert nämlich, dass Irrsinn die normale menschli­che Geisteshaltung ist. Sicherlich … angesichts der allgemeinen Weltlage über­kommt mich manchmal eine ähnliche Vermutung, doch hier hat entweder der Autor geschlampt oder der Lektor, oder aber beide. So etwas macht keinen guten Eindruck. Sorry.

In derselben Geschichte muss ich noch eine zweite Nachlässigkeit anmerken, die ebenso gravierend oder sogar noch schwerwiegender ist. Jens schreibt hier (Seite 115) von einem Buch, das im Jahre 1817 gedruckt worden sein soll, in ei­ner „arabesk altmodischen, der Minuskelschrift nachempfundenen Type“. Ich halte es, mit Verlaub, für Quatsch, dass das damals jemand gemacht haben soll­te (Mangel entsprechender Typen und Mangel an Notwendigkeit! Gedruckt wurde, um besser lesbar zu machen, nicht, um künstlich manieriert zu wirken!).

Weiter wird hier von „zahlreichen Fußnoten“ geredet. Wenn Jens sich die Mühe gemacht hätte, Bücher aus dem 19. Jahrhundert, insbesondere aus dem angel­sächsischen Bereich mal genauer anzuschauen, wüsste er, dass Fußnoten dort generell sehr spärlich gesät sind, zu diesem Zeitpunkt vermutlich komplett nicht existent. Fußnoten sind in erster Linie eine deutsche „Plage“ des späten 19. und 20. Jahrhunderts. Lovecraft lässt seine Protagonisten ja oftmals in älte­ren und alten Büchern nachschlagen, aber von FUSSNOTEN habe ich da noch nie etwas erwähnt gefunden. Und Lovecraft wusste wirklich, wovon er schrieb. Er sah die Originale ja noch ein.

Solche Fehler zerstören die Freude am Lesen einer ansonsten interessanten Ge­schichte. Wenn dann noch physikalische Unmöglichkeiten (Fehlen einer Flutwel­le, die durch den Hügel erzeugt werden muss – siehe Tsunamis!) hinzukommen, die nicht mal angedacht werden, dann empfehle ich dringend eine gründliche Überarbeitung der Geschichte VOR Aufnahme in ein solches Buch. Auch wenn jemand Übersetzer von hier vorhandenen Geschichten ist, bedingt das nicht, dass der Herausgeber über solche Schwächen der Story hinwegsieht.

Die Quintessenz aus all diesem lautet in etwa wie folgt:

Innovationen im Bereich des Cthulhu-Mythos sind stets belebend, sofern sie ge­wisse Grenzen nicht überschreiten. Innerhalb eines etablierten Mythos gibt es Akzeptanzgrenzen, die hier aber recht gekonnt eingehalten werden.

Bei den meisten Geschichten in diesem Band ist die Anbindung an den CM nur oberflächlicher Natur, so dass man streng genommen nicht von einer CM-Ge­schichte reden kann (besonders Campbell und Wilson zeigen das nachdrücklich, aber auch Christian von Aster und Ligotti), bei anderen ersetzt Begeisterung und Liebe zum Detail vieles, führt aber auch zu Fehlern (Schumacher).

Das zeigt, dass Liebe zum Mythos und Begeisterung alleine nicht ausreichen, um gute Geschichten zu schreiben oder um solide Storysammlungen vorzulegen, wenngleich der Wille dazu ohne Frage erkennbar ist.

Weitere Anthologien zu diesem Thema werden zeigen, ob und inwiefern noch „Blut“ im alten Cthulhu-Mythos enthalten ist und ob es sich lohnt, in unserer schnelllebigen Zeit von heute weiterhin Geschichten in Lovecrafts Umfeld anzu­siedeln. Was ich im übrigen sehr bedauert habe, war das häufige Fehlen konkre­ter Jahreszahlen der Handlungszeit. Mir drängte sich der Eindruck auf, als wür­den sie mehr oder weniger fast alle in der Gegenwart spielen (vom „Großen Fisch“ mal abgesehen, der ja 1941 spielt, also beinahe in der Lovecraft-Zeit).

Die „antiken“ Lovecraft-Stories spielten ja alle in der damaligen Gegenwart, die mir nach wie vor als die ideale Handlungszeit erscheint. Vielleicht muss ich das als Historiker so sehen. Nostalgisches Flair ist allerdings, wie Kim Newman schlagend beweist, nicht notwendigerweise ein Nachteil für eine Lovecraft-Ge­schichte. Daraus sollten künftige Epigonen Lovecrafts ihre Lehren ziehen …

© 2002 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche schließe ich – vorerst – die Rezension einer Trilogie ab, die in der Gegenwart spielt und irgendwie nach wie vor die Gemüter aufwühlt. Ihr werdet es merken.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>