Rezensions-Blog 27: Der Neutronium-Alchimist (4)

Posted September 30th, 2015 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

und damit sind wir ein weiteres Mal zurück im Armageddon-Zyklus von Peter F. Hamilton. Wie ihr den unten stehenden Zeilen entnehmen könnt, wird die Ge­schichte nun endgültig dramatisch und bleibt doch immer noch enorm überra­schend. Wenn man bedenkt, dass mit dem vorliegenden Taschenbuch der zwei­te Band der ursprünglichen Trilogie schloss, kann man sich lebhaft denken, wie sehr wohl die englischen Leser nach Publikation dieses Romans an ihren Finger­nägeln gekaut haben und sich fragen mussten: wie, um Gottes Willen, kommt Hamilton aus solchen verfahrenen Situationen wieder heraus?

Nun, in der Tat werden die Dinge immer schlimmer, und dennoch deuten sich in diesem Band allmählich so etwas wie langfristige Zusammenhänge an, deren frühe Fäden im ersten Band „Die unbekannte Macht“ bereits erwähnt wurden, die man damals aber mangels Hintergrundkenntnissen einfach nicht realisieren konnte. Man denke da nur an diesen Ruinenring der Laymil… das wird jetzt auf haarsträubende Weise begreiflich. Ebenso wie eben die Sache mit Dr. Alkad Mzu und ihrem „Alchimisten“. Doch schaut lieber selbst:

Der Neutronium-Alchimist

(The Neutronium Alchemist, Part II)

Armageddon-Zyklus, 4. Roman

von Peter F. Hamilton

Bastei 23228

896 Seiten, TB

September 2000, 9.90 Euro

Übersetzt von Axel Merz

Die Konföderation steht mit dem Rücken zur Wand.

Nachdem die Aufzeichnungen der Reporterin Kelly Tirrell, die sie im Kampfein­satz auf dem Dschungelplaneten Lalonde machte, in geschnittener Version die Konföderation durcheilt und für Entsetzen, Panik und Glaubenskrise sorgt, wird bei einer Sitzung des Konföderationsrates noch eine Nebenwirkung sichtbar, die niemand erahnt hat. Die Menschheit hat partnerschaftliche Kontakte mit zwei friedfertigen exoterrestrischen Völkern, den völlig phantasielosen, pragmati­schen Tyrathca, einer insektoiden Spezies, und den riesenhaften, ein wenig an Manatis erinnernden Kiint. Von letzteren lebt eine kleine Familie auf dem Habi­tat Tranquility (und ihr „Baby“ Haile ist einfach zuckersüß, das muss man erle­ben!).

Die Tyrathca brechen nun, als sie (fälschlich!) „erkennen, dass die Menschen Formwandler sind“, den Kontakt mit ihnen kategorisch ab und ziehen sich aus der Föderation zurück. Die Verantwortlichen der Konföderation müssen so auf bestürzende Weise erkennen, dass beide extraterrestrischen Völker das Jenseits und die Verlorenen Seelen kennen – und beide haben diesen Kontakt überlebt, ganz im Gegensatz zu der Spezies der Laymil, von denen nur der Ruinenring im Heimatsystem des Habitats Tranquility zurückblieb. Die Laymil zogen den kol­lektiven Suizid der dauerhaften Unterjochung durch ihre Verlorenen Seelen vor. Dies ist freilich für die Menschheit keine sinnvolle Option.

Die Kiint geben nur rätselhafte Bemerkungen von sich, denen zufolge jede Ras­se ihren Lösungsansatz selbst finden müsse. Sie behaupten, hier nicht helfen zu können und sorgen damit für eine ernsthafte Verstimmung zwischen ihrem Volk und der Menschheit. Und die Tyrathca sind unzugänglich, obwohl gerade sie vor Jahrtausenden eine interstellare Begegnung mit etwas hatten, was sie den „schlafenden Gott“ nannten. Er könnte die Lösung darstellen, nur was soll ein „schlafender Gott“ sein…? Zumal für eine so völlig atheistische Rasse wie die Tyrathca?

Die meisten Menschen haben derzeit drängendere Probleme als diese. Sie kämpfen ums Überleben.

Trotz einer konföderationsweiten Quarantäne für interstellare Raumschiffe jen­seits militärischer Einheiten breiten sich die Besessenen immer weiter aus. Das ist möglich, weil es – handelsbedingt – Blockadebrecher gibt oder auf manchen Welten zu spät reagiert wird. Wie etwa auf der Welt Ombey, wo nachhaltig de­monstriert wird, zu was drei einzelne Besessene, die dem Zugriff entkommen, imstande sind. Am Ende haben die Besessenen die Halbinsel Mortonridge besetzt und zwei Millionen neue Possessoren bevölkern Ombey.

Andernorts werden durch die Quarantäne die Dinge glücklicherweise verzögert. So gerät der finstere Quinn Dexter, der inzwischen immer neue energistische Fähigkeiten an sich entdeckt und mit menschenverachtender Brutalität daran geht, weitere Menschen zu versklaven und sich zu unterwerfen, in eine exis­tenzbedrohende Situation, als er versucht, die Erde direkt anzusteuern. Er muss die Flucht ergreifen und sucht den Hinterwäldlerplaneten Nyvan auf. Hier be­lauern sich zahllose kleine Nationen mit hochgerüstetem Nuklearwaffenarsenal, Invasionspsychosen sind hier an der Tagesordnung. Damit stellt Nyvan einen Abglanz der Erde im Zeitalter des „heißen“ Kalten Krieges dar. Und Dexter, der nur einen Weg zur Erde sucht, legt eine „Pause“ ein und beschließt jovial, die Finsternis für immer über diesen Planeten zu bringen.

Auch drei andere Reisende werden durch die Quarantäne behindert, nämlich die Flüchtlinge Louise Kavanagh, ihre Schwester Genevieve und ihr Beschützer, der Possessor Fletcher Christian. Letzterer meint inzwischen erkannt zu haben, dass es sein göttlicher Auftrag ist, Quinn Dexter aufzuhalten, und Dexter ist an­erkanntermaßen unterwegs zur Erde. Doch wie soll man zur Erde gelangen, noch dazu als Besessener? Mit unglaublichem Glück schaffen sie es wenigstens bis zum irdischen Mars. Von Louises eigentlichem Reiseziel, Tranquility, sind sie aber weiter denn je entfernt, und damit auch von dem Mann, der Louises unge­borenes Kind gezeugt hat – von Joshua „Lagrange“ Calvert. Denn eigentlich un­ternimmt Louise diese Reise nur seinetwegen.

Dieser Joshua Calvert wird indessen von Ione Saldana darauf angesetzt, die Furcht erregendste Waffe zu finden, die je gebaut worden ist: den Neutronium-Alchimisten. Einstmals von der garissanischen Physikerin Alkad Mzu geschaffen, sollte sie eingesetzt werden, um die Sonne des verfeindeten Sonnensystems Ombey zu zerstören, doch dazu kam es nie. Mzu tauchte Jahre nach der Ver­nichtung von Garissa auf und wurde als „permanenter Gast“ auf Tranquility matt gesetzt. Ohne ihr Geheimnis preiszugeben, das dreißig weitere Jahre lang im Dunkel blieb. Nun aber gelang ihr die Flucht. Da sie die einzige ist, die das Versteck des Alchimisten kennt, darf sie auf keinen Fall ihr Ziel erreichen. Und, wie man inzwischen begriffen hat, darf sie auch nicht sterben. Das macht die Lage reichlich verfahren.

Der Fluchtweg der Physikerin führt zunächst zu den so genannten Dorados, wo sie mit garissanischen Exilanten in Kontakt kommt, und hier spürt sie auch bei­nahe ihr Verfolger, Joshua Calvert, auf. Leider ist er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr der einzige Verfolger: der edenitische Geheimdienst, der Konföderations-Geheimdienst und die Besessenen um Al Capone jagen sie gleichfalls. Und dann führt Mzus Fluchtroute geradewegs zu einem unbedeutenden Randsystem der irdischen Einflusssphäre… zu einer Welt namens Nyvan, wo sie geradewegs ins Inferno rast, zusammen mit all ihren Verfolgern…

Es ist schwer, die zahlreichen, miteinander eng verflochtenen Handlungsstränge dieses Romans aufzudröseln, ohne in hohem Maße unfair gegenüber einzelnen zu werden. Dennoch stellt das oben Beschriebene nur einen kleinen Teil der Handlung dar, und wichtige Dinge fehlen völlig. Auch wer diese Rezension liest, wird sich von Roman ständig weiter überraschen lassen können. Das ist der un­bestreitbare Vorteil eines solchen „large canvas“, wie es an anderer Stelle bezo­gen auf ein anderes Epos einmal in der englischsprachigen Presse hieß. Der un­glaubliche, faszinierende Detailreichtum, gepaart mit der Dichte an schönen, le­bendigen Charakterdarstellungen.

Zwei Dinge sollten dennoch hier Erwähnung finden, weil sie für den Fortgang des noch zweibändigen Zyklus von Bedeutung sein werden: zum einen tauchen ziemlich unvermittelt in einer Hightech-Landschaft reale Geister auf und berei­ten den Leser darauf vor, dass hier gleich einer Schichttorte die jenseitige Sphä­re etwas breiter aufgefächert wird. Und dann gibt es offenkundig so etwas wie Unsterbliche, die seit Jahrtausenden ahasvergleich durch die menschliche Welt­geschichte wandern und einfach nur beobachten. Ob es sich hierbei um Men­schen handelt oder um was auch immer, alleine die Existenz dieser Beobachter ist bemerkenswert.

Während die Menschheit gegenwärtig dabei ist, die Konfrontation mit den Be­sessenen herbeizuführen – ob nun im System des Habitats Valisk, ob auf dem Planeten Ombey oder wenn es darum geht, die Flotte Al Capones zur Entschei­dungsschlacht zu stellen – , gehen die individuellen Konfliktlinien weiter und verwirren sich auf beinahe schon zur Verzweiflung bringende Weise mit den großen Problemen. Dabei ist durchaus nicht klar, ob eine militärische Konfron­tation das Problem der Besessenen auch nur ansatzweise zu lösen versteht. Es sieht nicht danach aus, aber eine bessere Lösung ist nicht in Sicht. Noch nicht.

Und als wenn das alles noch nicht genügen würde, wird zwischendurch dann auch der (man möchte meinen: lange überfällige) Befehl erteilt: Liquidieren Sie Joshua Calvert!

Spannung garantiert!

© by Uwe Lammers, 2005

Wahrhaftig ein Schluss für schlaflose Nächte… ich hatte freilich den großen Vor­zug, dass der gesamte Zyklus schon veröffentlicht vorlag und ich gleich weiterle­sen konnte. Drum bin ich eigentlich auch nicht davon überzeugt, dass es von Le­serklugheit zeugt, wenn man sofort nach Veröffentlichung eines neuen Romans seines Lieblingsautors in die Buchhandlung stürzt und den Roman schier ver­schlingt. Ganz besonders wenig empfiehlt sich das bei Romanzyklen und Auto­ren wie Hamilton, die den Leser – wie etwa im vorliegenden Roman geschehen – am Ende mit einem richtig üblen Cliff-hanger zurücklassen.

Dennoch – lohnen tut sich das Buch unbedingt, und das gilt auch für die restli­chen Bände des Zyklus. Lasst euch nicht vom Umfang abschrecken.

In der nächsten Woche tauchen wir mal zur Abwechslung in die Tiefen unserer irdischen Ozeane ab. Inwiefern das? Nun, lasst euch da mal überraschen und schaut wieder rein.

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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