Rezensions-Blog 284: Der Dieb der Zeit

Posted September 1st, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

zugegeben, es ist wirklich schon geraume Zeit her, dass ich mich im Rahmen des Rezensions-Blogs um diesen Autor, den Briten Peter F. Hamilton, kümmerte.1 Das hatte nichts zu tun mit dem Gedanken, er habe seither keine Romane von Bedeutung mehr geschrieben (weit gefehlt) oder ich hätte keine davon mehr in meinem Regal stehen gehabt (auch falsch) oder sie vielleicht einfach noch nicht gelesen (das trifft allerdings auf ein paar seiner Werke definitiv zu2).

Es war vielmehr eher eine Art von Gourmet-Gedanke. Das sollte ich vielleicht genauer ausführen: Es gibt Autoren, die wie am Fließband ständig neue Romane produzieren. Leute wie etwa Wolfgang Hohlbein, Bernd Robker alias Robert Corvus oder Clive Cussler … und dann gibt es die Autoren, die bisweilen Jahre be­nötigen, ehe sie ihr nächstes Opus vorlegen. Zu dieser Art von gründlich und langsam arbeitenden Verfassern gehört Hamilton.

Und die Wirkung, die er mit seinen Büchern entfaltet, gibt ihm und seiner Arbeitsweise Recht: Ich kenne bislang keinen „schwachen“ Hamilton-Roman. Aber sie sind eben durchaus rar. Was wäre also damit gewonnen, wenn ich sie ebenso rasch re­zensierte, wie ich sie üblicherweise verschlinge? Und das muss man wohl so nennen, weil sich selbst achthundertseitige Schmöker aus seiner Feder fast wie von selbst lesen.

Gleichwohl habt ihr auch mit dem Gegenargument Recht: Ich hätte längst schon wieder etwas von Hamilton rezensieren sol­len. Und so mache ich also heute den Einstieg in das Universum seines Commonwealth-Zyklus, der insgesamt 12, vielleicht auch dreizehn Bände umfasst (drei der erwähnten Romane habe ich noch nicht gelesen, deren Rezensionen kann ich also wohl frü­hestens Ende 2021 nachreichen).

Den Anfang macht jedenfalls dieser durchaus exotische und sehr kurzweilig zu lesende erste Band, der unbedingt vor dem formalen Roman „Der Stern der Pandora“ gelesen werden sollte, da er die Vorgeschichte dazu erzählt und die Grundlage für die Commonwealth-Zivilisation legt. Auch wenn meine Re­zensionsworte vielleicht etwas bärbeißig und möglicherweise abschreckend klingen mögen … der Roman ist durchaus defini­tiv empfehlenswert, wenn auch vielleicht sehr gewöhnungsbe­dürftig, was den Inhalt angeht.

Und ja: ihr dürft Jeff Baker hassen. Er wird euch im „Commonwealth-Zyklus“ nicht mehr über den Weg laufen. Denn der spielt, wie unten erwähnt, 350 Jahre später.

Und nun legen wir mal richtig los:

Der Dieb der Zeit

Das zweite Leben des Jeff Baker

(OT: Misspent Youth)

von Peter F. Hamilton

Bastei 23274, August 2004

512 Seiten, TB

Deutsch von Winfried Czech

ISBN 3-404-23274-7

Der ewige Traum des Menschen ist wohl der eines verlängerten Lebens, nach Möglichkeit verlängert bis in alle Ewigkeit, dabei aber befreit zu sein von den Gebrechen des Alters, bar der bio­logischen Ketten, mit denen die Genetik uns alle naturgemäß fesselt.

Nun, etwa im Jahre 2044 ist dieser Traum in erreichbare Nähe gerückt: ein europäisches Team von Biologen unter Dr. Sperber hat eine Therapieform entwickelt, zahllose Milliarden Euro teuer und noch nicht erprobt, mit der es möglich ist, einen einzelnen Menschen binnen 18 Monaten sensationell zu verjüngen, weit über die Grenzen der üblichen Genomproteintherapie hinaus, die inzwischen weltweit zur Verfügung steht und eine ständige Einnahme von Anti-Aging-Substanzen notwendig macht.

Der Jungbrunnen scheint entdeckt, doch wer um alles in der Welt soll das Vorrecht genießen, ihn auszuprobieren? Wem soll man ein neues Leben schenken? Einem Politiker? Einem der zahllosen Superreichen und Industriellen? Oder vielleicht einem Wissenschaftler?

Die Wahl der Europäischen Forschungskommission fällt auf den Briten Jeff Baker. Baker, verheiratet mit dem ehemaligen Model Sue, das Jahrzehnte jünger ist als er, Vater des gemeinsamen Sohnes Tim, ist kein unbeschriebenes Blatt. Er geht stramm auf die 80 zu und ist mit Abstand der berühmteste Mensch der Welt, allerdings auch – zu Recht – einer der am meisten gehass­ten überhaupt. Der Grund dafür liegt Jahrzehnte zurück.

In der Frühzeit des 21. Jahrhunderts entwickelte Baker einen re­volutionären Speicherchip, der zur Grundlage der allgemeinen Datasphäre wurde, einer Weiterentwicklung des Internet. Da­durch, dass Baker diesen Speicherchip nicht patentierte, son­dern zur allgemeinen freien Verwendung freigab, verhinderte er zwar, dass er zum Multimilliardär aufstieg (was sein Sohn Tim lange nicht verstehen konnte), aber zugleich unterhöhlte er die internationalen Copyrightstandards, trieb die Film-, Musik- und Verlagsbranche weltweit in den Ruin und krempelte die gesam­te Unterhaltungsindustrie um.

Außerdem arbeitet Baker nun an einer neuen revolutionären Technologie, die er ganz gewiss erst dann zur vollen Reife entwi­ckeln kann, wenn man ihm ein paar zusätzliche Lebensjahrzehn­te einräumt. Die europäischen Politiker entscheiden deshalb über die Köpfe der europäischen Bevölkerung eigenmächtig, dass es Baker sein wird, dem diese Therapie zugute kommen soll. Also wird er 18 Monate lang einer Gentherapie unterzogen, und sehr zum Unglauben und bald zum Schrecken seiner Ehe­frau und seines Sohnes kehrt der 78jährige Wissenschaftler als 20jähriger, draufgängerischer Mann zurück, bei dem insbeson­dere eines äußerst intakt ist – sein sexuelles Verlangen. Das be­kommt zunächst seine selbst nicht sonderlich treue Ehefrau Sue zu spüren … und dann die Schulkameradinnen seines Sohnes Tim, inklusive dessen eigener Freundin Annabelle. Und damit fangen die Probleme erst richtig an – denn natürlich möchte Jeff Baker, egoistisch, wie er ist, sein neues Leben in vollen Zügen genießen, mit allen Frauen, die ihm über den Weg laufen …

Sehen wir einmal davon ab, dass das Titelbild mit dem Inhalt nichts zu tun hat, sehen wir auch davon ab, dass der Titel doch reichlich irreführend ist und ebenso davon, dass die Kapitel für Peter F. Hamilton-Leser ungewöhnlich kurz sind (59 Kapitel auf gut 500 Seiten ist fast schon abenteuerlich. Zum Vergleich: sein neuer Roman „Der Stern der Pandora“ besitzt auf über 700 Seiten davon nur 14), dann beginnt man als Leser recht schnell die Bemerkungen zu verstehen, die Hamiltons Testleser ge­macht haben und die der Autor dem Buch voranstellt. Beispiels­weise ist da „Graham, der die meisten Figuren am liebsten um­gebracht hätte“ oder „Colin, der sich gewünscht hätte, den Fi­guren wäre mehr Gewalt angetan worden“.

Das hört sich unangenehm an, und das ist es auch. Das Buch ist, würde ich mal vorsichtig formulieren, nicht eben das, was man sich als moralische Richtschnur für sein eigenes Verhalten wünschen sollte, geschweige denn das seiner Mitmenschen. Es ist eher so, dass die Hauptperson so ziemlich alle moralischen Regeln, die wir kennen, herzhaft mit Füßen tritt und damit auch noch (meist) davonkommt.

Jeff Baker benimmt sich in seinem neuen Leben auf frappieren­de Weise so, wie man sich das Leben des alternden Playboy-Gründers Hugh Hefner vorstellt (inklusive Viagra), und zweifel­los hat dieses Leben Hamilton erst auf die Idee zu dem Buch ge­bracht. Die Personen des Romans finden viel Vergnügen an Sex mit verschiedensten Frauen, One-Night-Stands, Alkoholexzes­sen, regelmäßigem Drogenkonsum und ähnlichem. Dennoch er­schöpft sich der Roman darin nicht, und das macht ihn dann wieder interessant. Wie in seinen MINDSTAR-Romanen wirft Ha­milton kritische Blicke auf die Macht der Politiker und der Medi­en, wenngleich man ihm natürlich vorhalten muss, dass er dies halbherzig tut.

Viele Dinge, auf die er eigentlich hätte eingehen müssen, um dem Roman ein plausibleres Fundament zu geben, blendet er der Bequemlichkeit halber einfach aus. Beispielsweise die Fra­ge, wie genau Jeff Baker seinen doch recht aufwändigen Le­bensstil finanziert. Es reicht kaum aus, zu sagen, er lebe auf Kosten der Steuer der Bürger innerhalb der Europäischen Union. Auch spürt man deutlich, dass die Interferenz zwischen Wissen­schaftlerdasein und Privatleben eigentlich nur blass skizziert wird. Hamilton ist viel zu beschäftigt, Jeff Bakers zerrüttetes Fa­milienleben und das ausufernde neue Sexleben seines Protago­nisten zu beschreiben, um den WISSENSCHAFTLER Jeff Baker überhaupt in Erscheinung treten zu lassen. Dieser Aspekt des Romans wird dadurch äußerst unglaubwürdig.

Interessant hingegen ist die Instrumentalisierung Bakers durch die Politiker geraten. Und die schroffen Gegensätze zwischen Arm und Reich, die Protestbewegungen im vereinigten Europa der nahen Zukunft (leider auch nur angedeutet, der Wissen­schaftsgipfel in London reicht da definitiv nicht aus) erzeugen im Leser ein dauerhaftes Unbehagen. Dennoch – man ahnt, dass dieses Buch im Oeuvre aller Werke Hamiltons ein wenig aus dem Rahmen fällt. Insbesondere fällt es durch eine gewisse Oberflächlichkeit und permanente Andeutungen auf, die deut­lich signalisieren, dass er viel mehr über diese Zukunftswelt zu erzählen gehabt hätte, es aber einfach nicht tut. Auch in diesem Punkt wirkt der Roman halbherzig. Da allerdings dieses Buch in derselben Welt spielt, in der später der „Commonwealth-Zy­klus“ spielt, ist es einfach realistisch anzunehmen, dass er nicht schon sein „ganzes Pulver verschießen“ wollte. Nicht schon hier. Allerdings ist auch kritisch anzumerken, dass letztgenannter Zy­klus rund 350 Jahre NACH „Misspent Youth“ spielt.

Und schließlich: Ja, wenn man den Titel wörtlich übersetzt, ist Jeff Bakers zweite Jugend wirklich „zu Unrecht verliehen“. Und wie mit allen Häretikern, die sich gegen die Götter vergehen, so ist auch der Sturz des Jeff Baker brüsk und tief.

Der Leser wird es erleben.

© 2006 by Uwe Lammers

Autsch, sagt ihr euch? Was ist denn das für ein abgefahrener Egotrip gewesen? Nun, sicherlich seht ihr nach der Lektüre des Romans selbst ein wenig klarer. Und vertraut mir, in ein paar Wochen werdet ihr die Grundlagen, die dieses Werk für Hamil­tons „Commonwealth-Zyklus“ gelegt hat, deutlicher erkennen – denn sie krempeln die menschliche Gesellschaft wirklich von Grund auf um.

In der kommenden Woche geht alles wieder etwas gemächli­cher zu, weil wir uns ans Ende des 19. Jahrhunderts beamen, um dem großen Detektiv über die Schulter zu schauen. Und auch das wird sich lohnen, glaubt mir.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Genau genommen war das in Rezensions-Blog 71 der Fall, wo ich am 3. August 2016 den Abschlussband seines unten erwähnten „Mindstar-Zyklus“ rezensierte. Für weitere Details schaut euch den Rezensions-Blog 200 an, der am 23. Januar 2019 erschien.

2 Damit meine ich z. B. den ersten Band seines „Salvation“-Zyklus. Der zweite sollte auch schon erschienen sein, bis ihr diese Zeilen lest.

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