Rezensions-Blog 297: Der entfesselte Judas (3)

Posted Dezember 1st, 2020 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

mit dem vorliegenden Roman, mit relativ weitem Abstand ei­nem der spannendsten, die ich von Peter F. Hamilton bis dahin gelesen hatte, kehren wir in den Kosmos des menschlichen „Commonwealth“ zurück und in die sich hochdramatisch zuspit­zende Invasionsgeschichte um die „Primes“, die unter der Lei­tung des fanatische MorningLightMountain dabei sind, die Menschheit auszurotten, massiv unterstützt von dem im menschlichen Sternenreich seit langem aktiven Untergrund­agenten, dem legendären „Starflyer“. Zahllose Fäden laufen in diesem Roman zusammen, der die erste Hälfte des voluminösen „Commonwealth“-Schlussbandes „Judas Unchained“ darstellt.

Ein Abenteuer, das sich definitiv nach wie vor lohnt, auch wenn es inzwischen schon mehr als 15 Jahre auf dem Buckel hat. Sagt jemand, der das Buch seither zweimal gelesen hat und immer noch toll findet.

Also, Vorhang auf für die Details, Freunde:

Der entfesselte Judas

Commonwealth-Zyklus Roman 2, Teil 1

(OT: Judas Unchained, Part I)

von Peter F. Hamilton

Bastei 23330, November 2006

800 Seiten, TB; 9.95 Euro

Deutsch von Axel Merz

ISBN 978-3-404-23330-4

Der schlimmste aller möglichen Fälle ist eingetreten: die Aliens von Dyson Alpha haben sich als feindselig und weit über alle vorstellbaren Maßen entwicklungsfähig gezeigt. Statt erst in ei­nigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten das irdische Commonwe­alth anzugreifen, machen sie es quasi sofort und überrennen 23 irdische Welten, später „Lost 23“ genannt und treiben Millionen Menschen in die Flucht. Dank sofortiger Hilfsbestrebungen kön­nen die Flüchtlinge über Wurmlöcher in Sicherheit gebracht werden. Doch danach beginnen die Schwierigkeiten erst:

Den Verantwortlichen der neugeschaffenen konföderierten Navy ist klar, dass die Aliens über einen Brückenkopf verfügen müs­sen, etwa auf halber Strecke zwischen Dyson Alpha und dem Rand des Commonwealth. Doch es gibt nur sehr wenige Schiffe, die die Menschheit in der Eile in Dienst stellen kann. Dennoch wissen die Verantwortlichen sehr wohl, dass ihnen die Zeit davonläuft. Die „Primes“ sind eine extrem effiziente Rasse, die nichts anderes zu tun scheint als ihre Kriegsmaschinerie auf Hochtouren laufen zu lassen. Und die wahren Ziele der „Primes“ sind nach wie vor unklar.

Nun, nicht völlig.

Die Reporterin Mellanie Rescorai, inzwischen aufgestiegen zur Starreporterin und zugleich insgeheim Agentin der SI, der kybernetischen „Supreme Intelligence“, die von der Menschheit einst geschaffen wurde, sich aber längst verselbständigt hat und dabei unklare eigene Ziele verfolgt, schafft es in der End­phase des Kampfes um die Welt Elan, sich in den Datenstrom der Aliens einzufädeln und so Eindrücke der monströsen Hei­matwelt des Hauptinvasors MorningLightMountain zu gewinnen. Etwas, das auch ihr verschlossen bleibt, ist indes die wahre In­tention hinter dem Feldzug: der dringende, brennende Wunsch MorningLightMountains, alles, was nicht Teil seiner Substanz ist, auszurotten.

Was Mellanie im Laufe ihrer weitergehenden Recherchen aber dann auch entdecken muss, sind Spuren des geheimnisumwit­terten Starflyers. Und als sie entdeckt, dass ihre Chefin Alessan­dra Barron zu dessen Agenten gehören muss, gerät sie unver­mittelt in Lebensgefahr – was sie geradewegs ihrer persönlichen Hassperson Nummer Eins in die Arme treibt: Chief Investigator Paula Myo, die inzwischen selbst an die Existenz des Starflyers zu glauben begonnen hat. Ganz wie es ihr genetisches Profil na­helegt, beginnt sie mit aller Akribie und allen Machtmitteln, die ihr zu Gebote stehen, die geheimen Netzwerke des Aliens auf­zufädeln. Doch Myo misstraut Mellanie aus begreiflichen Grün­den, und die Reporterin muss rasch und lebensbedrohlich fest­stellen, dass die SI alles andere als allmächtig ist!

Die Legende des Starflyers ist nur zu real, wie einige rätselhafte Morde auf der Erde (!), nicht zuletzt an einem Senator der regie­renden Großen Familien (!) beweisen, dessen Mörder man nicht fassen kann. Scheinfirmen werden enttarnt, ganze Gruppen von wichtigen Personen verschwinden ins Nirgendwo, offensichtlich von hoher Stelle vorgewarnt über ihre Verhaftung. Und immer klarer wird für Paula Myo, dass selbst die Großen Familien infil­triert sein müssen – und ihr eigenes Pariser Polizeibüro, in dem sie früher gearbeitet hat. Folgerichtig beginnt sie, ihren eigenen einstigen Kollegen subtile Fallen zu stellen, die letztlich bis zur Dschungelwelt Illuminatus führen …

Derweil bereiten sich die Großen Familien selbst mehr oder we­niger heimlich darauf vor, die Brücken zur Menschheit abzubre­chen. Sie fangen damit an, große Evakuierungsschiffe zu bauen, um für den Fall gerüstet zu sein, dass die Menschheit gegen die Primes verliert. Und die Familie Sheldon scheint mit dem Bau dieser Schiffe sogar begonnen zu haben, bevor der Schild um Dyson Alpha fiel …

Dudley Boses Neuklon, ein junger Mann mit der Anhänglichkeit eines jungen Welpen, ist derweil abgöttisch in Mellanie Rescorai verschossen und teilt nach Möglichkeit ihr Bett, was die eher gelangweilte Reporterin indes nicht davon abhält, mittels Sex weitere Informationen bei anderen Männern zu recherchieren. Interessant wird es nur, als Dudley Bose die Position von Ozzie Isaacs Asteroidenhabitat in Erfahrung bringt. Durch dieses Habi­tat hat die SI die Flüchtlinge der „Lost 23“ evakuiert. Und zu­gleich ist diese Tatsache eine Information, die als hochbrisant eingestuft wird (der Rezensent ahnt schon, weshalb, aber das kann er natürlich mit Gewissheit erst in der nächsten Rezension enthüllen) …

Ozzie Isaac, der Miterfinder der Wurmloch-Technologie, ist be­kanntlich im ersten Buch des Zyklus auf dem Planeten Silver­galde auf die Pfade der außerirdischen Silfen geraten und mit dem halbwüchsigen Orion und dem Alien Tochee inzwischen in einem märchenhaften Wasserhalo unterwegs. Nachdem das Floß, das sie sich gebaut hatten, am Ende des vergangenen Ro­mans buchstäblich über den „Rand der Welt“ ins Nichts gestürzt ist, seither ist es mehr ein obskures Raumschiff geworden, und tatsächlich treffen die Schiffbrüchigen in diesem seltsamen Raum auf Silfen, doch sie besitzen eine Erscheinung, die äu­ßerst gewöhnungsbedürftig ist. Und noch andere Rätsel lauern auf die Reisenden …

Auf den von den Primes besetzten solaren Welten führen die ir­dischen Militärs derweil einen Guerillakrieg gegen die Außerirdi­schen, freilich mit recht bescheidenem Erfolg. Und auf einmal treffen sie hier auf eines der Aliens, das sich mit ihnen verstän­digen kann … und dieses Alien erklärt ihnen klipp und klar: es sei Dudley Bose …!

Schweigen wir von der ausufernden Handlung zu den Guardians of Selfhood, von den faszinierenden Querverbindungen zwi­schen den Guardians, dem Waffenhändler Adam Elvin, dem „Agenten“, der Senatorin Justine Burnelli, Oscar Monroe und Ad­miral Wilson Kime … es gibt so viele Facetten der Handlung in diesem Roman, so viele interessante, verblüffende und überra­schende Verbindungslinien, dass man wirklich vor Hamiltons komplexem Sachverstand den Hut ziehen muss. Selbst Leser, die sich diese Rezension zu Gemüte führen, werden in dem Ro­man zahllose Dinge vorfinden, die sich hier nicht mal nähe­rungsweise andeuten ließen.

Das Schöne ist auch, dass sich die Personen durchaus weiter­entwickeln. Die Mutationen von Ozzie Isaacs und Mellanie Res­corai sind da nur zwei, die zu nennen wären. So sind auch längst bekannte Personen für Überraschungen gut, die wirklich überall greifen können.

Der nächste Band wird natürlich mit Abstand der gewalttätigste werden, davon ist auszugehen. Das Problem mit dem unmittel­bar bevorstehenden zweiten Angriff der Primes gilt es zu behan­deln, außerdem sind die Guardians und die Bediensteten des Starflyers dabei, ihre finalen Züge zu machen. Paula Myo und ihre Helfer stehen dicht davor, die Netzwerke auszuheben oder selbst einem massiven Konterschlag zum Opfer zu fallen. Und überall lauern Lügen, Saboteure und Attentäter. Von den Ge­heimnissen, die Ozzie Isaacs auf den Pfaden der Silfen noch ent­decken wird, mal ganz zu schweigen.

Dieser Roman liest sich wirklich so flüssig, als ließe man sich Olivenöl oder erlesenes Eis auf der Zunge zergehen, geschmei­dig, lecker, Appetit auf mehr machend. Es ist zu schade, dass wir nach dem nächsten Roman auf absehbare Zeit Abschied vom menschlichen Commonwealth nehmen müssen. Oder von dem, was davon noch übrig ist, wenn die Primes und der „ent­fesselte Judas“ damit fertig sind …

© 2006 by Uwe Lammers

Ihr merkt, ich war damals nach der Erstlektüre mächtig angetan von diesem Buch, dito nach der Zweitlektüre, die immerhin 5 Jahre später erfolgte. Ein echtes Sahneschnittchen für alle Le­ser, die Space Operas oder Peter F. Hamilton lieben (oder im Idealfall beides). In der nächsten Woche werden wir wieder et­was bodenständiger und schauen uns eine Furcht erregende Dystopie an, deren finsterer Schatten uns aktuell immer noch zu schaffen macht.

Mehr in sieben Tagen an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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