Liebe Freunde des OSM,

Sherlock Holmes, das kann man vermutlich nicht oft genug wie­derholen, ist nach wie vor Kult, und das ist relativ unabhängig von dem Jahrzehnt, in dem man lebt. Sir Arthur Conan Doyle mag seinen exzentrischen Detektiv schon bald nach seiner Er­findung erbittert gehasst haben und versuchte bekanntlich, ihn in den Reichenbach-Fällen zu entsorgen, um danach „ernsthaf­tere“ Werke zu schreiben. Wie erinnerlich, wurde er zur Reani­mierung des Detektivs gezwungen.

Und auch lange nach seinem physischen Ableben lebt Doyles Schöpfung weiter, von diversen Schriftstellern bisweilen bizar­ren Iterationen unterworfen und sehr frei in eigenständigen Abenteuern verwendet oder als Figur (ohne direkte Namensnen­nung) eingesetzt. Vor 8 Wochen besprach ich an dieser Stelle den ersten Sammelband, den Isaac Asimov mit solchen Epigo­nenwerken füllte. Heute folgt also der zweite Band, der in mei­nen Augen nicht ganz so gehaltvoll ausfällt, aber immer noch seine bemerkenswerten Highlights aufweist. Ich deute nur mal auf die Lupoff-Geschichte. Die sollte man echt nicht versäumen. Eine gewisse Breitenkenntnis der populären Helden des ameri­kanischen Pulp-Zeitalters Anfang des 20. Jahrhunderts ist hier definitiv von Nutzen.

Nein, ich glaube, viel mehr sollte ich nicht vorwegnehmen. Ich lüfte stattdessen jetzt den Vorhang und lasse meine Rezension von 2019 sprechen:

Mit Sherlock Holmes durch Zeit und Raum (2)

(OT: Sherlock Holmes through time and space (2))

von Isaac Asimov, Martin Harry Greenburg & Charles Waugh (Hg.)

Ullstein 31141

176 Seiten, TB (1987)

Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton

ISBN 3-548-31141-5

Obgleich ich Cover von Oliviero Berni, die er etwa für Heyne in den 80er Jahren schuf, recht gern sehe, muss ich zu dem Titel­bild dieses Bandes sagen, dass es vollständig unpassend ist. Man sieht einen entsetzt aufschreienden Japaner vor dem Hin­tergrund einer eruptierenden roten Riesensonne, umgeben von einem Godzilla-artigen Ungetüm, einstürzenden Hochhäusern und einem Nuklearexplosionspilz am Bildrand. Es ist evident, dass das Cover ursprünglich für ein Godzilla-Werk geschaffen wurde. Ein irgendwie gearteter Zusammenhang mit Sherlock Holmes oder dem sonstigen Inhalt der Storysammlung existiert nicht. Des Coverbezugs wegen sollte man sich das Buch also nicht kaufen.

Der Inhalt hingegen ist durchaus interessant und der Entde­ckung wert, selbst wenn er – meiner bescheidenen Ansicht nach – hinter dem ersten Teil dieser Storysammlung doch deutlich zu­rückbleibt. In sieben Abenteuern, die den Grenzbereich der Phantastik mehr als nur streifen, begegnen wir hier erneut ver­schiedenen … ja, sagen wir … Variationen von Sherlock Holmes. Und manche davon sind gar nicht übel gemacht. Aber sie erfor­dern vom Holmsianer natürlich einiges an Anpassungsbereit­schaft.

Den Anfang macht Philip José Farmer (seltsamerweise als „Jona­than Swift Somers III“ firmierend) mit der Geschichte „Eine Scharlach-Studie“. Wer bei dem Titel schon gewisse Assoziatio­nen empfindet, wird im weiteren Fortgang darin bestärkt. Denn tatsächlich folgt die Handlungsführung im Wesentlichen der ers­ten Holmes-Geschichte „Eine Studie in Scharlachrot“ von Arthur Conan Doyle. Aber damit enden die Gleichheiten auch schon. Denn unser Sherlock Holmes ist ein aufgerüsteter sprechender Polizei-Wachhund namens Ralph von Wau-Wau, und sein „Ecker­mann“, d. h. Watson, ist Dr. med. Johann H. Weißenstein von der Medizinischen Abteilung der Autobahnpolizei. Auch stolpern wir schnell über den „Hauptkommissar Straße“ (in dem man un­schwer Inspector Lestrade karikiert sieht), und insgesamt trägt die Geschichte durch diese ständigen vergnüglichen Anspielun­gen einen eher satirischen, doch recht unterhaltsamen Charak­ter.

Edward Wellen schickt ebenfalls einen mit Biochips aufgerüste­ten Hund, diesmal einen mit Cockney-Akzent sprechenden Co­ckerspaniel namens „Ich Rase“ (!), in den Kampf, um Sherlock Holmes und einen verwirrend minderjährigen John H. Watson ins Gefecht gegen eine bizarre jenseitige Stimme aus dem Nichts zu senden. Und es ist eine eigenartige Welt, in der „Die Stimme aus dem Nichts“ spielt. London ist im Zuge des Klimawandels weitgehend untergegangen, Umweltkatastrophen machen Schutzanzüge beim Begehen der Außenwelt erforderlich, und auch sonst hat diese zukünftige Schreckenswelt diverse Überra­schungen parat. Wie passen Holmes und Watson und der Co­ckerspaniel da ins Bild? Nun, das gehört zur Auflösung der Ge­schichte, und vertraut meinen Worten: die Umweltprobleme werden nicht umsonst so thematisiert, sie sind in Wahrheit es­sentiell wichtig für die Lösung dieses Falles.

Fred Saberhagen steuert leider mit der kürzesten Geschichte dieses Bandes, „Das Abenteuer des metallenen Mörders“, nur eine Vignette bei, aber eine durchweg interessante. Um sie in vollem Umfang inhaltlich zu begreifen, sollte man freilich ein bisschen mehr über Saberhagens „Berserker“-Universum wis­sen. Meine Erinnerungen daran sind schon ziemlich angestaubt, aber soviel erinnere ich mich noch: in der fernen Zukunft stößt die zu den Sternen aufgebrochene Menschheit zwischen den fremden Sonnen auf Hinterlassenschaften eines gigantischen Krieges. Eine dieser Fraktionen waren die so genannten „Ber­serker“, monströse Kriegsmaschinen, eine Art kosmischer Ter­minator-Armee, mit der sich die Menschheit eine Reihe von blu­tigen Auseinandersetzungen lieferte.

In der vorliegenden Geschichte beschließen die „Berserker“, mit Hilfe eines Zeitsprungs die Menschheit auszuschalten1, aber die ebenfalls nun über die Zeitreisetechnologie verfügenden menschlichen Agenten der Zukunft sind auf der Hut und folgen der Mordmaschine (da lässt der „Terminator“ dann definitiv grü­ßen, auch wenn Saberhagens Geschichte schon 1979 erschien und die Kausalkette vermutlich eher umgekehrt läuft). Der menschliche Agent landet am Ende des 19. Jahrhunderts, hat aber die Spur der angeschlagenen „Berserker“-Maschine verlo­ren. Da bedarf es dann einer gewissen Pfiffigkeit, die Fährte wie­der aufzunehmen. Und irgendwo dort in der Geschichte ist dann auch der „hochgewachsene Mann“

Gene Wolfes Story „Silbersklaven“ passt dann natürlich in eine Storysammlung, die von Isaac Asimov herausgegeben wird, wie die Faust aufs Auge: eine Robotergeschichte.

Wie jetzt? Eine Robotergeschichte. Holmes als Roboter? Nein, nein, gar so simpel ist es dann doch nicht. Hier heißt Holmes March B. Street und ist etwas, das man als „deklassierten Men­schen“ bezeichnet. Und sein Watson hört auf den Namen „Westing“, der von sich sagt: „Der alte ‚Westinghouse’ war nicht in Mode, als ich zusammengesetzt wurde.“ Von Beruf gibt Westing „Biomechaniker“ an, also das, was man früher Ärzte nannte.

Auch sonst ist die Welt, in der die Geschichte handelt, gewöh­nungsbedürftig – es gibt etwa Menschen- und Roboterrechte, deren Populationen annähernd gleichberechtigt nebeneinander leben. Die Menschen scheinen dabei zunehmend schlechter ab­zuschneiden, sozusagen „deklassiert“ zu sein. Und als es dann in einem Fall der beiden darum geht, dass Roboter aus einem Lager verschwinden, geraten sie bei der Aufhellung des Mysteri­ums rasch in Lebensgefahr …

Vollends aberwitzig wird die Handlung dann in der nächsten Ge­schichte. Unter dem bizarren Titel „Der Gott des Nackten Ein­horns“, worunter man sich nun wirklich kaum etwas vorzustel­len wagt, schreibt ein Mann namens Richard Lupoff „als Ova Hamlet“. Meiner bescheidenen Erinnerung zufolge ist aber schon Richard Lupoff ein Pseudonym, nämlich für Norman Spin­rad, der für surreale Einfälle in der Science Fiction bekannt ist (man entsinne sich nur mal an die Skandalgeschichte „Der stäh­lerne Traum“, in der Adolf Hitler als exilierter Science Fiction-Au­tor in den USA seine rassistischen Phantasien auf dem Papier auslebt – was dem jüdischen Autor Spinrad übrigens Antisemi­tismus-Vorwürfe eintrug … ich meine, noch wahnwitziger geht es wirklich nimmer!). Warum man sich hinter einem doppelten Pseudonym verschanzen muss, um diese Geschichte zu veröf­fentlichen, entzieht sich meiner Kenntnis.2 Aber sei’s drum.

Die Hauptperson der Geschichte ist ein sozial ziemlich herunter­gekommener John Watson. Holmes hat sich schon nach Sussex zur Bienenzucht zurückgezogen, so dass der Zeitpunkt deutlich nach 1914 zu setzen ist und Watson dementsprechend schon alt und klapprig sein dürfte. Nachdem auch seine letzte Ehe den Bach heruntergegangen ist und seine Praxis schlecht geht, hat er sich in eine Absteige zurückgezogen, wo er auf einmal Be­such von Der Frau bekommt.

Irene Adler, wie die Leser sofort begreifen, die sich im Holmes-Universum auskennen. Aber das ist nicht die gesamte Wahrheit. Irene, inzwischen mit einem böhmischen Monarchen verheira­tet, setzt auf Watson, weil man den „Gott des Nackten Ein­horns“ gestohlen hat, das Nationalheiligtum ihres Heimatlan­des, und sie engagiert ihn, zu helfen. Von dem Moment an, wo er ihr folgt, wird die Story zunehmend unfasslicher. Nicht nur, dass sich Irene Adler mit einem Helikopterflug geradewegs zum Nordpol begibt und Watson mitschleift, nein, hier befindet sich ein nicht minder unglaubliches Bauwerk, das „die Festung der Einsamkeit“ genannt wird, bewohnt von einem bronzehäutigen Hünen, der die ankommende Frau mit „Patricia“ (!) anredet und sich Watson als „Clark Savage jr.“ vorstellt, er könne ihn aber „Doc“ nennen!3

Und das ist wirklich erst der Anfang eines aberwitzigen Crossovers, in dem uns beispielsweise auch noch Captain Future, Tarzan und diverse andere Pulp-Helden über den Weg laufen. Ein Abenteuer der ganz besonders ausgefallenen Sorte, fürwahr …

James Powell gibt mit „Tod in der Weihnachtsstunde“ dem The­ma Sherlock Holmes noch eine ganz andere Wendung. Nach­dem wir uns schon mit Aliens, die Holmes nachahmen (Bd. 1), diversen Tieren und Robotern abgaben, haben wir es nun mit Holmes als Spielzeug zu tun, das in der Weihnachtsstunde zum Leben erwacht und, natürlich, einen Mordfall zu lösen hat. Eine wirklich überraschende, vergnügliche Vermischung von Sherlock Holmes, Märchen und Weihnachtsgeschichte, die man so auch nicht wirklich erwartet.

Zum Schluss kommt dann noch Isaac Asimov zu Worte mit „Das ultimate Verbrechen“. Aber man sollte wirklich diesen markt­schreierischen Titel nicht zu ernst nehmen, dafür ist die Ge­schichte deutlich zu seicht ausgefallen. Eigentlich fast autobio­grafisch zu nennen. Asimov berichtet in der Einleitung davon, wie schwer es ihm fiel, Mitglied der „Baker Street Irregulars“ zu werden, einer prominenten Sherlock Holmes-Vereinigung. Und in der Geschichte selbst, die eigentlich nur aus einer ausge­dehnten Konversation besteht, geht es um ein Problem, das der neu in der Runde der Holmes-Kenner aufgenommene Ronald Mason hat. Er will, um seine Kenntnisse zu beweisen, einen sherlockianischen Artikel verfassen, in dem es um Professor James Moriarty geht und insbesondere um sein durch Doyles Bemerkung berühmt gewordenes Werk „Die Dynamik eines As­teroiden“. Aber wie man sich denken kann, gibt es dabei Schwierigkeiten, denn das Werk ist bekanntlich nie erschienen und offensichtlich rein fiktiv. Ja, vielleicht … aber je hitziger die Diskussion darum wird, desto deutlicher schälen sich die Umris­se eines Verbrechens heraus …

Es mag sein, dass Asimov ein begnadeter Herausgeber ist. Aber als Autor empfinde ich ihn schon seit sehr langer Zeit – ich bitte um Entschuldigung, Asimov-Fans! – als ausgesprochenen Lange­weiler. Das demonstriert er auch in seiner abschließenden Ge­schichte, die zwar sehr faktendicht und präzise ist, aber eigent­lich jedweder Spannung grundlegend ermangelt.

Sehr viel interessanter und schillernder sind da schon die Ge­schichten von Lupoff, Farmer und Powell, die auf ihre Weise na­türlich gewöhnungsbedürftig, dann aber voll überschießender Phantasie und feinsinnigem Humor sind. Insgesamt vereint die­ser Band also eine Reihe recht überraschender Geschichten, bei denen vielfach der Holmes-Bezug recht künstlich hergestellt bzw. suggeriert wird (am deutlichsten bei Gene Wolfe zu bemer­ken, der ganz ohne die Namen Holmes und Watson auskommt).

Insgesamt fällt diese Storysammlung gegenüber dem gleichna­migen ersten Teil sehr ab, und um eine Reise durch Zeit und Raum geht es diesmal (im Gegensatz zum ersten Band!) über­haupt nicht. Das mag daran liegen, dass in diesem Buch aus­schließlich jüngere Werke von 1975-1984 berücksichtigt wur­den, während im ersten Band auch ältere, durchaus edle Ge­schichten aufgenommen worden sind. Dennoch: für einge­fleischte Holmsianer, zumal solche, die sich nicht leicht von ab­wegigen Formen der Verehrung für Doyle und Holmes vom Weg abbringen lassen oder gar zu den Puristen zählen, ist das hier durchaus eine Horizont erweiternde Lektüre, die ich definitiv empfehlen kann.

© 2019 by Uwe Lammers

Nächste Woche verfolgen wir dann mal wieder die Handlungs­spur eines erotischen Romans. Mehr sei noch nicht verraten.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Ein in der Phantastik übrigens ziemlich geläufiger Topos, dem sich beispielsweise auch das Cyborg-Volk der Borg in dem Star Trek-Kinofilm „Der erste Kontakt“ befleißigt.

2 Inzwischen ist mir bekannt geworden, dass Richard Lupoff durchaus kein Pseudonym war, sondern ein real existierender Schriftsteller. Die obige Verwirrung bleibt jedoch. Der Kontext mit Norman Spinrad ist in meinen Augen nach wie vor verworren und unklar.

3 Wer sich also mit der Doc Savage-Serie auskennt, entdeckt hier perplex, dass Lupoff Sa­vages Cousine Patricia Savage mit Irene Adler gleichsetzt, was historisch kaum möglich ist … aber in dieser Geschichte sollte man sich von den unterschiedlichen Zeitströmen so­wieso freimachen, sonst kommt man in Teufels Küche.

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