Rezensions-Blog 356: Der Quantenfisch

Posted Juni 15th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wer mich kennt und diesem Blog schon ein Weilchen gefolgt ist, weiß um meine Neigung zu Parallelweltgeschichten, den „was wäre, wenn…“-Szenarios, den Zeitreisen und ähnlichen Werken, die von dem zum Teil erheblich abweichen, was wir als die gän­gige, sagen wir, „kanonische“ Zeitgeschichte kennen. Und im­mer, wenn ich auf ein solches Werk stoße, frage ich mich ein­gangs, was mich wohl erwarten mag.

Oft trifft man auf sehr vertraute Topoi: da geht jemand um ein Pferd herum und ist auf einmal für die Zeitgenossen verschwun­den, derweil er in Wahrheit in eine andere Welt abgetaucht ist. Oder man bekommt einen Hieb auf den Kopf und wacht bei Kö­nig Artus‘ Rittern wieder auf. Dann gibt es den gängigen Topos von Zeitmaschinen, die manchmal nicht in andere Zeiten, son­dern in parallele Wirklichkeiten entführen.

Und dann gibt es Geschichten wie die vorliegende, die aus dem Einheitsbrei gründlich herausstechen und so skurril sind, dass man immer wieder mit den Augen zwinkert. Ich meine, auf die Idee zu kommen, einen die Quantenebene wechselnden Fisch als Vehikel zu verwenden, in eine total abgefahrene Parallelwelt abzutauchen … auf diese Idee muss man erst mal kommen. Der arme Nigel, unsere Hauptperson, tat mir sehr schnell sehr leid, denn die Zumutungen, denen er sich nun gegenübersah, waren, vorsichtig gesprochen, extrem.

Doch Nigel Donohoe ist nicht nur ein hilfloser Spielball der Ge­schichte, sondern er entwickelt sich im Laufe der Handlung und läuft zu großer Form auf … das ist unglaublich amüsant und er­staunlich, kaum berechenbar und ein tolles Leseabenteuer. Doch macht euch gefasst, es ist ein bisschen wie einst bei den „Illuminatus!“-Bänden: Ein wilder Trip, der euch voll mitreißen wird, wenn ihr euch darauf einlasst.

Ihr denkt, ihr seid dafür bereit? Nun gut, ich habe euch gewarnt. Werft einen Blick in den Abgrund des Chaos:

Der Quantenfisch

(OT: The Weird Colonial Boy)

Von Paul Voermans

Heyne 5541, 1996

368 Seiten, TB

Aus dem australischen Englisch von Jürgen Langowski

ISBN 3-453-11885-5

Um es vorweg zu nehmen: Der Titel verspricht etwas, was der Roman nicht hält … oder wenigstens nach Seite 50 nicht mehr, insofern ist er etwas unglücklich gewählt. Die Folge ist, dass Fi­sche, abgesehen von einer gewissen Makrele, nach dieser Seite quasi keine Rolle mehr spielen. Aber vielleicht sollte ich von vor­ne anfangen. Die Geschichte wird noch konfus genug.

Der junge Nigel Donohoe lebt im Australien am Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts und ist eigentlich ein recht durch­schnittlicher, nur mäßig angepasster junger Mann. Komplexbe­laden, vom weiblichen Geschlecht in der Regel ignoriert, häufig stotternd und tagträumend, hat er sich seine eigene kleine Er­satzwelt geschaffen, in der Musik und die Zucht tropischer Fi­sche die Hauptrolle spielen. Das ist es auch, was ihm zum Ver­hängnis wird … oder fast.

Alles beginnt mit den Schwertträgern – was übrigens farbenfro­he tropische Fische sind. Sie sind Nigels Ein und Alles, und sein ganzer Stolz ist ein Weibchen namens Carmen, das er ganz frisch erstanden hat. Bis es verschwindet. Und dann wieder da ist.

Anfangs denkt Nigel, er habe etwas an den Augen. Dann wittert er eine revolutionäre Innovation der Evolution und organisiert findig einen trickreichen Mechanismus, mit dem er das Ver­schwinden seiner süßen Carmen verfolgen kann. Und tatsäch­lich – der tropische Fisch entschwindet offensichtlich in eine an­dere Quantenrealität … und das nächste, was von dort wieder mitkommt, ist ein Taschentuch mit dem Monogramm CAS. Als Nigel noch etwas neugieriger wird, reißt ihn der Fisch mit sich in die fremde Welt und entfleucht.

Diese andere Welt, in der er nun gestrandet ist, erweist sich ebenfalls als Australien, soviel steht schnell fest, aber es ist de­finitiv nicht Nigels Australien. Auch hier schreibt man das Ende des 20. Jahrhunderts, nur laufen die Dinge hier auf ganz üble Weise anders: Amerika wurde beispielsweise nicht von Kolum­bus entdeckt, sondern von Sir Walter Raleigh (die Konsequen­zen waren nicht besser). Australien ist nach wie vor eine engli­sche Kolonie, und zwar eine Strafkolonie, und in England (nach bösen Gerüchten ein Paradies, in dem wenigstens jeder zweite schwul sein soll) herrscht König Rupert, der im Krieg mit der Eu­ropäischen Union einerseits und mit den amerikanischen Rebel­len unter ihrem selbst ernannten „Präsidenten“ Jimmy Carter andererseits liegt. Denn natürlich ist Amerika auch immer noch eine englische Kolonie …

Schlimmer noch: die katholische Kirche ist zum Teil mit dem Is­lam verschmolzen, und in die Gottesdienste sind beispielsweise obskure Maskentänze eingeflochten (das ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was da wirklich noch passiert). Aberglauben, Inqui­sition, öffentliche Auspeitschungen und Schlimmeres sind in diesem rückständigen, von Strafgefangenen und Sklaven nur so wimmelnden Australien an der Tagesordnung. Und als wenn das alles noch nicht reichen sollte, besitzt Nigel offenkundig einen Doppelgänger, der Reisende ausraubt und mit dem er prompt verwechselt wird.

Die erste Person, die ihn solcherart verwechselt, hat mit seinem Doppelgänger in der nämlichen Eigenschaft schon Kontakt ge­habt – sie wurde beraubt. Eine durchaus hübsche junge Frau na­mens Catherine (soviel zum CAS-Monogramm), in die sich Nigel ebenso prompt wie wohl unvermeidlich verliebt. Der Dank be­steht in der Deportation in eine Strafkolonie – allerdings erst, nachdem er halbtot gepeitscht worden ist. Und dort angekom­men, begnadigt zu lebenslanger Zwangsarbeit, muss Nigel Do­nohoe entdecken, dass die Schrecken erst begonnen haben: je­der in der Kolonie ist offensichtlich schwul oder tut zumindest so, als wäre er es. Was ihn als absolut jungfräulichen jungen Neuzugang schlimmen Gefahren aussetzt …

Doch wie es dann kommt, dass Nigel sich vom rechtlosen Un­derdog und Sträfling zum „wilden Weltverwirrer“ entwickelt (und zum Staatsfeind) und schließlich den Kampf um die Befreiung Australiens beginnt, das ist so wahnsinnig und zugleich so urko­misch, das muss man wirklich gelesen haben.

Der Quantenfisch“ ist tatsächlich ein Buch „von überzeugender Fremdartigkeit“, wie Paul McAuley in den 90er Jahren urteilte, „apokalyptisch und elegant.“ Man kann zwar die Eleganz an manchen Stellen bestreiten, aber apokalyptisch trifft es wirklich. Man kann auch schrill, abgefahren oder dergleichen sagen und das Buch mit einem total schrägen LSD-Trip vergleichen.

Immer, wenn man meint, zu wissen, wohin die Handlung steu­ert, kommt der Autor mit so abstrusen Wendungen, dass man vor Lachen in der Ecke liegt oder vor Mitleid am liebsten heulen möchte. Ob es um fliegende serbische Kriegsgefangene geht (ohne Witz!), um einen Gefangenenwächter mit Herz, der Nigel anfangs um seine Uhr erleichtern möchte, weil er sie ja doch nicht mehr brauchen werde, und ihn dabei unbefangen fragt, ob er schon mal gesehen habe, wie jemand „tanzt“ (also am Gal­gen seine letzten Zuckungen vollführt), um nach einem ordentli­chen Quantum Alkohol dann mit dem Delinquenten Lebensge­schichten auszutauschen und ihn befreien zu wollen; ob es um menschenfressende Straßen geht, menschelnde, homosexuelle Skinheads, die Nigel vor dem Selbstmord rettet; ob Passanten mit Zitronenscheiben belegt werden (um nur das harmloseste Vergehen der „Makrelenbande“ zu nennen) oder Wachpersonal allen Ernstes Nigel die verzweifelte Notlüge glaubt, er sei … ja … ein Wissenschaftler, der anhand von Beulen an den Köpfen von Strafgefangenen Thesen beweisen wolle … das furiose Feuer­werk unglaublicher Ideen geht Voermans wirklich nicht aus.

Es ist eine absolut schrille, verwirrende Welt, aber wer sich mit Cervantes´ „Don Quichotte“ bestens anfreunden konnte (wie ich), der ist hier wirklich richtig. Der Roman ist definitiv keine Mainstream-Kost, aber eine faszinierende kleine Entdeckung. Ein ziemlich farbiger „Peak“ in den Alternativweltromanen, die ich so kenne. Eine klare Leseempfehlung!

© 2010 by Uwe Lammers

Ja, das ist ein echtes Kontrastprogramm zur Vorwoche, ich deu­tete das ja an. In der nächsten geht es munter so weiter: wir wenden uns der jüngeren Zeitgeschichte zu und der Jagd nach einem Terroristen … nein, nicht Osama bin Laden. Der Mann, um den es geht, sagte es damals in Wien ganz unmissverständ­lich: „Mein Name ist Carlos!“

Alles Nähere erfahrt ihr in der kommenden Woche.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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