Rezensions-Blog 364: Hohlwelt

Posted August 10th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Phantastik ist etwas Wunderbares – sie ist ein außerordentlich reichhaltiges, vielgestaltiges Genre und bietet uferlose Möglich­keiten für die verrücktesten Genremischungen. Ob sich dabei Reales und Fiktives mischt, ob diverse erdachte Welten oder Protagonisten verschiedener Autoren miteinander unvermittelt interagieren oder die Genregrenzen zwischen Science Fiction, Fantasy und Horror durchlässig werden: immer kann man unver­mittelt auf unerwartete Überraschungen stoßen.

Natürlich ist es hier wie in jedem Genre: auf ein paar erlesene Perlen kommen zahlreiche Möchtegern-Versuche, die mitunter so schief gehen, dass man sich als Fan mit Grausen abwendet. Und auch das Einflechten historischer Personen kann manches Mal zur problematischen Gratwanderung werden. Das hier ist so ein Beispiel, wo eine solche Gratwanderung versucht wird.

Die Geschichte startet im Jahre 1836, und eine der Hauptperso­nen heißt Edgar Allan Poe. Dass sich dahinein dann auch noch massive Anspielungen auf den literarischen Kosmos von Howard Phillips Lovecraft hineinmischen (der ja erst 100 Jahre später lebte) und sich das alles mit der bizarren Hohlwelttheorie mixt, erzeugt ein Leseabenteuer der ganz besonderen Art. Und ich versichere euch, die Hauptperson, der unbedarfte Mason Rey­nolds erlebt auf diese Weise das Abenteuer seines Lebens.1

Ob er es auch überlebt? Das sei hier nicht verraten. Aber worum es im Detail geht, das lest ihr hier:

Hohlwelt

(OT: The Hollow Earth)

von Rudy Rucker

Heyne 5887, September 1997

384 Seiten, TB

Übersetzt von Kurt Bracharz

ISBN 3-453-12663-7

Eigentlich soll der junge Mason Reynolds, der von der väterli­chen Farm in Hardware/Virginia aufbricht, um in Lynchburg ei­nen Handel für seinen Vater zu tätigen, nicht hinaus in die Welt. Er ist noch nicht reif dafür. Doch als er mit seinen Whiskyfässern und dem Schwarzen Otah in Lynchburg ankommt, geht alles so gründlich schief, wie es nur schiefgehen kann: erst wird Mason unter Preis bezahlt. Dann verliert er bei einer Dirne sein Geld, das man ihm gegen Schrauben austauscht. Das Mädchen, auf das Mason sonst ein Auge geworfen hat, entpuppt sich als schon von einem schneidigen Offizier „entehrt“ – und beim Zu­rückholen des Geldes kommt es überdies zu einem Feuerge­fecht, bei dem Mason einen Stallburschen erschießt.

Nun herrschen in Virginia im Jahre 1836 rauhe Sitten, und wenn man sich mit den Herrschenden angelegt hat und zudem noch Mörder ist, winkt rasch der Strick

Mason befindet sich also unvermittelt auf der Flucht, zusammen mit dem Sklaven Otah und ihrem Hund Wuff, und mitten in ei­nem Abenteuer, wie es von Mark Twain hätte erdacht sein kön­nen. Jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt.

In Richmond trifft Mason seinen vergötterten Literaten Edgar Allan Poe, lernt dessen frisch angetraute junge Braut Virginia kennen – und Poes wirre Träume von einer hohlen Erde. Ehe sich der Sechzehnjährige versieht, befindet er sich im nächsten Abenteuer, das ihn über den Südpol bis ins Innere der hohlen Erde führen soll, zu drachenartigen Ungetümen, schwebenden Wasserkugeln, dem Blumenvolk und den dort existierenden Göt­tern, die man die Großen Alten nennt …

Rudy Rucker, eigentlich designierter SF-Autor, hat diesmal eine wilde Crossover-Geschichte geschrieben. Zwar ist es nicht die Welt, die auf dem Titelbild zu sehen ist, die Szene ist völlig frei imaginiert, und es ist auch nicht eine Welt mit „Dampfschiffen statt Raumschiffen“, wie der Klappentext suggeriert (dann schon eher mit Luftschiffen statt Raumschiffen), und das Buch hat definitiv mehr von Fantasy an sich als von SF, aber … es ist eine sehr interessante Geschichte, die er hier erzählt.

Die Anleihen an Poe sind sehr intensiv, desselben die an Jules Verne. Die nächstliegenden Anleihen an die Hohlwelt-Theorie, der – den Legenden zufolge – auch Adolf Hitler anhing (Zweifel sind angebracht), machen dieses Werk im Verein mit dem histo­rischen Background, der verdammt an Tom Sawyer und Huckle­berry Finn erinnert, zu einem sehr lesenswerten Vergnügen. Was die Terminologie angeht, so entgleist Rucker spätestens, als er in der Hohlwelt selbst ankommt und führt damit seine Fik­tion, dies sei ein „authentischer Text“ aus dem Jahre 1850, den er nur entdeckt und in einen Verlag geschickt habe, ad absur­dum. Aber das spielt keine Rolle.

Eine einzige Warnung gilt es auszusprechen: obgleich einer der Hauptprotagonisten Edgar Allan Poe ist (und zwar, streng ge­nommen, in doppelter Ausführung), würde ich keinem Poe-Fan raten, dieses Buch zu lesen. Rucker geht arg respektlos mit ihm um und macht Poe zum durchaus nekrophilen, perversen Mör­der. Das muss man sich als Poe-Freund nicht antun.

Wer hingegen Vergnügen an wilden Ideen findet und diese Qua­si-Historizität schätzt, der mag das Buch mit Genuss lesen. Sti­listisch ist es jedenfalls sehr flüssig gelesen und saugt den Leser in den Roman hinein, was ich persönlich für ein Qualitätsmerk­mal halte.

Und da ich ja selbst in meiner 19. OSM-Ebene eine Hohlwelt als Handlungsschauplatz habe2, kann ich von diesem Buch noch ei­niges lernen …

© 2004 by Uwe Lammers

In der nächsten Woche schweife ich mal wieder ganz woanders hin ab und erzähle euch etwas über ein Märchenbuch … doch, kein Witz, Freunde. Aber Details lest ihr erst in sieben Tagen an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Falls wider Erwarten Rucker die Wahrheit im Nachwort gesprochen hätte, dass nämlich der zentrale Teil des Buches ein authentischer Reisebericht von Mason Reynolds sei, den er 1985 in einer Bibliothek entdeckt habe, mag man es mir verzeihen, wenn ich in der Rezension und in diesem Rezensions-Blog gleichwohl von Rucker als Autor ausge­he … aber die Lovecraft-Tradition kennt ja eine Menge strukturell analoger „authenti­scher“ Expeditionsberichte, die allesamt Lovecrafts eigener Phantasie entsprangen. Es handelt sich darum meiner Meinung nach auch in diesem Fall um eine Art von künstle­risch eingezogener Meta-Ebene.

2 Erläuterung für die Veröffentlichung im Rezensions-Blog anno 2022: Die Rede ist von der Hohlwelt QUANGOOR-8810 alias „Bearsons Creek“, die ich schon in der Blogarti­kelreihe „Legendäre Schauplätze“ thematisiert habe. Heutzutage könnte man an die­ser Stelle übrigens zu den prominenten Hohlwelten auch noch Hyoronghilaar rechnen, den Handlungsort von KONFLIKT 7 des Oki Stanwer Mythos (OSM) in der Serie „Oki Stanwer – Held der Hohlwelt“, die ich erst 2 Jahre nach Abfassung der obigen Rezensi­on entdeckt habe.

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