Rezensions-Blog 371: Mutant 59: Der Plastikfresser

Posted September 27th, 2022 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

manchmal überholt die Wirklichkeit die Phantastik, und mitunter geschieht das sogar dann, wenn man damit überhaupt nicht rechnet. Als ich im Jahre 2018 den unten rezensierten Roman das zweite Mal las und immer noch höchst beeindruckt und be­unruhigt von seiner Zeitlosigkeit war, konnte ich mir wirklich nicht vorstellen, wie schnell unsere Realität von einem sehr analogen Verhängnis heimgesucht werden sollte.

Was meine ich damit? Ich zitiere nur mal spaßeshalber einen Satz meiner damaligen Rezension, und ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass ihr sofort im Bilde seid. Damals formulier­te ich Folgendes: „Tatsache ist, dass dieser Roman nach wie vor zeigt, wie schrecklich anfällig unsere Gesellschaft für diese win­zigen Organismen aus der Urzeit ist.“

Gemeint sind Mikroorganismen.

Und dann denken wir mal realchronologisch anderthalb Jahre über den Abfassungszeitpunkt der Rezension hinaus und landen wo? Bei der Corona-Pandemie und COVID-19 … einem Mikroor­ganismus, der bis heute die Welt komplett auf den Kopf stellt.

Vielleicht sollte man sich heute mehr denn je den Anfang der 70er Jahre (!) geschriebenen Roman mal zu Gemüte führen und gruselnd begreifen, dass damals zwei echt weitblickende Visio­näre am Werk waren. Die beiden Autoren ersannen nicht ein­fach eine spinnerte, verrückte Story, die niemals Realität wer­den kann, sondern sie legten peinigend unangenehm den Dau­men auf ein ungelöstes Problem der modernen Gesellschaft, ex­trapolierten ein wenig und ließen die Geschichte dann entglei­sen.

Wie das aussah? Desaströs. Aber auch bestürzend unterhalts­am, wie es die meisten plausiblen Apokalypsen sind. Stürzt euch mal wie ich damals in dieses Abenteuer und ihr werdet eine extrem spannende und immer noch sehr wichtige Ge­schichte vorfinden, die auch heutzutage alles andere als abwe­gig ist:

Mutant 59: Der Plastikfresser

(OT: Mutant 59: The Plastic Eater)

Von Kit Pedler & Gerry Davis

Heyne-Bibliothek der SF-Literatur, Band 60

256 Seiten, TB (1971)

Aus dem Englischen von Rolf Palm

ISBN 3-453-31289-9

Eine der am meisten drängenden Fragen der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts ist eigentlich die Schattenseite einer grundsätzlich segensreichen Entwicklung. So, wie es mit vielen Erfindungen der Menschheit ging, die man sowohl zum Nutzen wie zum Schaden einsetzen kann, sah es hier zunächst sehr da­nach aus, als würde ausschließlich der Vorteil dominieren.

Die Erfindung von Kunststoffen auf der Basis von Erdöl ist eine Entwicklung, die das 20. Jahrhundert von Grund auf umgekrem­pelt hat. Das beschönigen zu wollen, ist müßig. Man kann wohl mit Fug und Recht annehmen, dass es heute in den hochzivilisa­torischen Zentren der Welt keinen Lebensbereich mehr gibt, in dem Kunststoffe keine prägende Rolle spielen.

Ob es sich dabei um den Bereich der Textilien handelt, der Ver­packungsmaterialien, der Alltagsgeräte, der Baustoffe oder des Transportwesens, Plastikmaterialien verschiedenster Arten sind ubiquitär einsetzbar und werden entsprechend eingesetzt. Sie haben zumeist Vorteile gegenüber klassischen Werkstoffen – sie sind leichter, in großer Stückzahl schnell herzustellen, sie lassen sich durch diverse Prozesse schnell recyceln, senken Transport­kosten, erhöhen in bestimmten Bereichen die Stabilität von Kon­struktionen … auch die Vorzüge dieser Materialien sind vielfältig wie sie selbst.

Die Nachteile gehen damit indes einher. Einer, der früher gern als Vorteil verkauft wurde, nämlich die unbestreitbare Langle­bigkeit der Materialien, ist inzwischen als massives Manko er­kannt worden. Langkettige Kunststoffmolekülketten kommen in der Natur nicht vor, folgerichtig gibt es auch kaum eine Möglich­keit, diese Stoffe durch den natürlichen Zerfall vor Ablauf eini­ger Jahrhunderte abzubauen. Schlimmer noch: durch erosive Prozesse werden Kunststoffmaterialien in immer kleinere Einhei­ten zerrieben, wodurch sie quasi unsichtbar werden … was aller­dings nicht dazu führt, dass sie dadurch rascher zerfallen oder ihr Problempotenzial geringer wird. Diese klein geraspelten Kunststoffteile (Mikroplastik) reichern sich vielmehr in natürli­chen Stoffkreisläufen an, bilden in den Ozeanen gigantische Teppiche aus nahezu unzersetzbarem Treibgut und bilden so zu­nehmend eine Belastung für die Ökosysteme.

Gewiss, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts machten Mikrobio­logen die Entdeckung, dass es Bakterien in der Natur gibt, die sich auf den Abbau von Kohlenwasserstoffverbindungen spezia­lisiert haben. Diese so genannten hydrocarbonoklastischen (also „Kohlenstoff zerbrechenden“) Bakterien führen aber ein Randdasein, und sie werden verstärkt erst seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts erforscht. Man kann darum sagen, dass diese Forschungen definitiv erst am Anfang stehen.

Wie so oft war die Science Fiction auch in diesem Bereich sehr viel früher und sehr viel innovativer, und damit nähern wir uns dem vorliegenden Roman.

Im Jahre 1971, als das amerikanische Apollo-Programm noch As­tronauten zum Mond schickte und Gedanken über erste Mars­sonden zur Entwicklung entsprechender Gefährte führten, ver­fassten die Autoren Kit Pedler und Gerry Davis einen visionären Roman dystopischen Zuschnitts, der 1986 in der Heyne-Reihe der „Bibliothek der Science Fiction Literatur“ neu aufgelegt wur­de. Ungeachtet der Tatsache, dass er mehrere fiktionale Voraus­setzungen schafft, legt er einen Finger auf eine Wunde, die heu­te mehr denn je geeignet ist, Furcht und Schrecken im Leser zu induzieren. Deshalb hat er an Bedeutung bis heute nichts einge­büßt.

Es geht um Kunststoffe.

Es geht um menschliche Hybris.

Es geht um Mikroorganismen.

Heraus kommt ein Alptraum. Und so sieht er aus:

In einem nicht genannten Jahr (der eingesetzten Technologie nach zu urteilen aber spätestens Mitte der 70er Jahre) entwi­ckelt Dr. Simon Ainslie in Kensington bei London in seiner Frei­zeit einen Mikroorganismus, weil er damit das eingangs skizzier­te Menschheitsproblem, die Mülllawine aus schier unzersetzba­ren Kunststoffen, lösen möchte. Er stellt sich vor, dass dieser Mikroorganismus segensreich für die Menschheit sein könnte. Lange Zeit ist er erfolglos, aber die Mutation 59 erweist sich als tauglich, sie löst tatsächlich Kunststoffe auf. Aber ehe Ainslie diese Entdeckung bekannt machen kann, stirbt er eines natürli­chen Todes, und seine Erfindung wird in den Abfluss hinabge­spült und verschwindet aus dem Blickfeld.

Bald darauf kommt es anderwärts zu zwei wichtigen innovati­ven Entwicklungen: ein Forscherkonsortium um Dr. Arnold Kra­mer entwickelt erst einen sehr kostengünstigen Kunststoff, der auf Aminosäurebasis erschaffen werden kann, das Aminostyren, das bald in Lizenz weltweit an allen möglichen Orten für die Fer­tigung eingesetzt wird. Es scheint sich um einen perfekten Kunststoff zu handeln.

Die zweite Entwicklung ist noch folgenreicher: Kramers Team er­schafft einen sich selbst zersetzenden, lichtempfindlichen Kunststoff. Er wird vorrangig in der Kunststoffflaschenbranche eingesetzt, wo der Formungsprozess nun unter Abschluss von Helligkeit erfolgt. Die Flaschen werden mit einem weiteren Kunststoff bedampft und dann befüllt. Wenn man die Flaschen indes später am Hals aufreißt – der Inhalt ist sofort in andere Behältnisse umzufüllen – , kann man geradewegs zusehen, wie die Flasche in harmloses Granulat zerfällt. Der Werkstoff wird Degron genannt und bald durch millionenfache Produktion in Flaschenform zerbröselt und schließlich von den Käufern in die Kanalisation gespült.

Ebenso wie Aminostyren ist Degron ein gewaltiger Verkaufs­schlager und wird rasch weltweit in Lizenz verkauft. Offensicht­lich ist insbesondere Degron ein gutes Mittel, den stetig wach­senden Müllberg zu verringern.

Eine Verkettung dummer Zufälle bringt allerdings Degron und den Mutanten 59 in der Londoner Kanalisation zusammen. Und das, was so segensreich begonnen hat und aus den hehrsten Absichten heraus entwickelt wurde, gerät nun zu einem Alp­traum.

Mutant 59 findet sich im Paradies wieder – Kunststoffe, wo im­mer er „hinschaut“, könnte man sagen. Der immer noch unbe­kannte Mikroorganismus beginnt mit explosiver Vermehrung und mutiert dabei immer weiter. Sehr rasch erstreckt sich sein Heißhunger auch auf andere Kunststoffe. Auf alle Kunststoffe, wie es ausschaut.

Und es gibt ja so viel davon: mit Kunststoff ummantelte Kabel. Kunstoffrohre, in denen Gasleitungen verlaufen. Schaltungen, die das Verkehrswesen kontrollieren. Flugzeuginnereien. Schal­ter in Raumkapseln. U-Bahnen. Automobile. Und da sich Mutant 59 mittels mikroskopischer Sporen vermehrt, den ahnungslose Zivilisten überall mit hinschleppen, fängt ein mikrobiologischer Krieg an, den die Menschheit offenbar nur verlieren KANN …

Es ist manchmal wirklich verblüffend, wie visionär und geradezu zeitlos phantastische Romane sind. Wenn man in diesem Buch einmal über die aus heutiger Sicht archaische Technik hinweg­sieht – es gibt eben weder Handys noch Internet, und selbst die Computertechnik funktioniert mehrheitlich via Magnetband – , so hat sich an dem hier plakativ behandelten Grundproblem nichts geändert.

Natürlich, viele neue Substanzen sind hinzugekommen, aber primär, würde ich sagen, ist die heutige Menschheit anfälliger denn je für den Mutant 59. Ich muss mich nur in meiner eigenen Wohnung umschauen: Teppiche mit Kunststofffasern? Allgemein verbreitet. Pflanzbehälter aus Kunststoff? Überall bei Pflanzen liebenden Heimbewohnern zu finden. Computergehäuse? Aus Kunststoff. Telefone? Aus Kunststoff. Wichtige Einrichtungsge­genstände in der Küche – nicht nur in Flugzeugen – aus Kunst­stoff. Kabelummantelungen? Nach wie vor primär aus Kunststoff …

Das Alptraumszenario einer sich buchstäblich auflösenden Kü­che, die einem Alptraum von Salvador Dalí entsprungen sein könnte und die Pedler und Davis sehr anschaulich darstellen – das würde sich heute, mehr als 45 Jahre nach der Abfassung des Romans, in vielen Haushalten bei Freisetzung eines solchen Mikroorganismus munter wiederholen. Und das wäre selbstver­ständlich erst der Anfang.

Ja, es gibt eine gewisse Form von „Happy End“, könnte man sa­gen, aber mit einem unangenehmen Wermutstropfen, den ich hier nicht vorwegnehmen möchte. Tatsache ist, dass dieser Ro­man nach wie vor zeigt, wie schrecklich anfällig unsere Gesell­schaft für diese winzigen Organismen aus der Urzeit ist. Das Szenario ist alles andere als gänzlich abwegig, heute wohl weni­ger denn je.

Vergnüglich fand ich übrigens eine Szene, in der Dr. Luke Ger­rard, eine der Hauptpersonen der Geschichte, in einem Kauf­haus einem „Amok laufenden“ Spielzeugroboter von Menschen­größe auszuweichen hatte. Warum war das so witzig? Weil Kit Pedler als Skriptautor der britischen Fernsehserie „Doctor Who“ zu dieser Zeit bereits die Cybermen entwickelt hatte, die bis heute in der Serie ihr Unwesen treiben. Sie stehen für diese Pas­sage eindeutig Vorbild. Wer also den Roman zum damaligen Zeitpunkt las, konnte sich diese Szene angesichts der filmischen Darstellung der Doctor Who-Serie lebhaft vorstellen.

Ich halte das Buch ungeachtet der Knappheit der Darstellung definitiv nach wie vor für einen der besten und tiefsinnigsten SF-Romane, den ich jemals gelesen habe. Er ist unbedingt eine Wiederentdeckung wert.

© 2018 by Uwe Lammers

Harter Stoff? Ja, unbedingt. Aber wer immer meint, Science Fic­tion als realitätsfremde Spinnerei abtun zu wollen, wird durch solche Romane eines Besseren belehrt. Ich finde nach wie vor, dass es eine eminent wichtige Bedeutung der SF ist, auf lang­fristige Probleme hinzuweisen und das entsprechende Bewusst­sein dafür zu schärfen – das schafft dieser Roman ganz eindeu­tig, und zwar seit mehr als 50 Jahren!

Kann es noch etwas Schlimmeres geben als das? Allerdings, ja, und darauf komme ich in der nächsten Woche zu sprechen. Diesmal verlagert sich das Geschehen allerdings in die allge­meine Phantastik und bekommt gewisse allegorische Züge.

Der Tod gehört zum Leben dazu, das ist gewissermaßen der „Preis“ für das Leben. Aber was, wenn sich das auf einmal fun­damental ändert? Wie sieht das aus?

Mehr dazu in der nächsten Woche.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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