Rezensions-Blog 426: Verschwunden

Posted Oktober 17th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wir machen heute mal wieder eine Zeitreise. Sie führt uns in die jüngere Vergangenheit, ins Jahr 2014. Jenes Jahr, in dem Wladi­mir Putin die Krim-Halbinsel überfiel und besetzte, ganz genau … aber darum geht es nicht oder vielleicht nur so ganz am Ran­de.

Dieses Buch, das mir zufällig in die Hände fiel und das mich quasi vom Beginn an fesselte, weil es sich so beunruhigend wie ein realitätsnaher Thriller liest, erzählt eine unfassliche Ge­schichte. Das Problem damit ist: Es ist keine Geschichte. Es ist Realität.

Der Linienflug MH370 verschwand tatsächlich mit über 200 Per­sonen an Bord in einem der am stärksten kontrollierten Luft­raumgebiete im südostasiatischen Raum im Jahre 2014, und was folgte, ist eigentlich nicht mehr rational nachzuvollziehen. Ich glaube, ihr werdet es spüren, wenn ihr allein schon die Re­zension lest. Es ist vermutlich auch nützlich, wenn man Skepsis angesichts der massiv propagierten offiziellen Theorie hegt, sich die dreiteilige Fernseh-Dokumentation zum Fall MH370 anzuse­hen, die de Changys Buch angestoßen hat. Sie kommt dort auch zu Wort, ebenso wie ihre Kritiker.

Tatsache ist aber zugleich auch: Restlosen Aufschluss gibt we­der die offizielle Theorie noch die Hypothese, die die französi­sche Autorin aufstellt oder die WIKIPEDIA-Seite zu dem Thema. Tatsächlich ist die Wahrheit immer noch ein Mysterium. Und deshalb – wie etwa die Identität von Jack the Ripper oder D. B. Cooper – etwas, was auch weiterhin die menschliche Phantasie beschäftigen wird.

Was auch immer damals geschah, es wird die Menschen weiter umtreiben, nicht allein die Angehörigen. Denn das Flugzeug und die Passagiere sind auch weiterhin verschollen. Wie es bei Akte X immer schon hieß – ich habe die Serie nie wirklich geschätzt, aber der Slogan war nicht übel – : „Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.“

Einen ersten Eindruck von den abenteuerlichen Geschehnissen erhaltet ihr hier. Lest einfach weiter.

Verschwunden

Was geschah wirklich mit Flug MH370?

(OT: The Disappearing Act – The Impossible Case of MH370)

Von Florence de Changy

Ullstein 06613

504 Seiten Seiten, TB

Berlin 2022

ISBN 978-3-548-06613-4

Preis: 16,99 Euro

Aus dem Englischen von Rita Gravert und Caroline Weißbach

Ungeheuerliches schleicht sich in der Regel völlig unvorhergese­hen in das Leben der Menschen ein, und von einem Moment zum nächsten kann es geschehen, dass die Normalität in einen nie für möglich gehaltenen Alptraum entgleist. So ist es oftmals, wenn beispielsweise unbescholtene Bürger scheinbar aus heite­rem Himmel bewaffnet aus dem Haus gehen und das Feuer auf Mitmenschen eröffnen. Oder wenn Personen kurzerhand ihre ei­gene Familie ermorden und sich danach selbst richten.

Oder wenn man ein Flugzeug besteigt, das niemals an seinem Bestimmungsort ankommt, obwohl es sich doch um einen rei­nen Routineflug handelt und rein gar nichts darauf hindeutet, dass es irgendwelche Komplikationen geben könnte.

Dies ist die Dimension des vorliegenden historischen Ereignis­ses … und doch ist nicht das Verschwinden an sich dieser Alp­traum, der bis heute andauert, sondern das, was direkt danach geschieht.

Aber fangen wir bei den Fakten an.

Freitag, 7. März 2014, kurz vor Mitternacht. Kuala Lumpur Inter­national Airport (KLIA).

Die Nacht ist tropisch ruhig, die Läden auf dem Airport ge­schlossen, der Nachtflug der Malaysian Airlines, Flug MH370 nach Peking wird bereit gemacht für den Start, die letzten Pas­sagiere checken ein, die meisten von ihnen übermüdet, froh, während der paar Flugstunden noch etwas schlafen zu können. MH370, ein Boeing-Jet des Typs 777-200 ER, Liniennummer 404, ist seit Mai 2012 bei der Malaysia Airlines im Dienst. Alles sieht nach einem Routineflug aus, und 239 Menschen heben gegen 00.40 Uhr vom Airport ab. Der Steigflug dauert 20 Minuten, um 1.01 Uhr Ortszeit hat die Maschine eine Reiseflughöhe von 35.000 Fuß erreicht, die Flugbedingungen sind optimal. Die Flugzeit von Kuala Lumpur nach Peking beträgt rund 6 Stunden. Nach 40 Minuten verlässt MH370 den malaysischen Luftraum und meldet sich planmäßig ab. Nun sind die vietnamesischen Flugsicherungsbehörden für den Flug verantwortlich.

Um 1.19 Uhr verabschiedet sich der Pilot mit der Routinenach­richt „Gute Nacht, Malaysia drei sieben null.“ Um 1.20 Uhr er­reicht das Flugzeug den Wegpunkt IGARI, für den Singapur zu­ständig ist. Neunzig Sekunden danach verschwindet das Trans­pondersignal des Flugzeugs, und das Mysterium beginnt. Oder die Legenden. Oder beides.

Denn MH370 ist von diesem Moment an für die Welt spurlos verschwunden. Es dauert allerdings Stunden, bis das in voller Tragweite klar wird und umfangreiche Nachforschungen zu Luft und zu Wasser beginnen. Nachforschungen und Suchaktionen, die notwendig zunächst davon ausgehen, dass das Flugzeug aufgrund irgendeines Störfalls an Flughöhe verloren und notge­landet sein muss.

Dies passiert über einem Gebiet des Globus, das sollte hier viel­leicht schon einmal vorab erwähnt werden, das geostrategisch extrem sensibel ist. Hier befinden sich zahllose Militärstationen verschiedenster Staaten, das US-Militär ist mit Basen, Langstreckenradaren, Flugzeugen, Flottenpräsenzen und orbitalen Satelliten ständig auf dem Laufenden, was hier geschieht. China, Vietnam und andere Anrainerstaaten, die zum Teil angespannte diplomatische Beziehungen zueinander unterhalten, belauern einander. Internationale Seepiraterie ist gerade in den Gewässern um Indonesien und Malaysia hochproblematisch, was zahlreiche militärische und semimilitärische Manöver zur Folge hatte. Militärmanöver finden hier zahlreich statt, ganz zu schweigen von einem enormen Aufkommen touristischer und merkantiler Fahrzeuge, die hier permanent unterwegs sind.

Und in diesem Gebiet verschwindet eine voll besetzte Passa­gierflugmaschine, mit der mehrheitlich chinesische Staatsbür­ger transportiert werden, einfach spurlos von allen Radarschir­men? Schwieriger noch: Es finden sich weder irgendwelche Hin­weise auf Notrufe, keine Trümmer, keine Leichen, es gibt keine Bekennerschreiben terroristischer Organisationen?

Das klingt, vorsichtig gesprochen, kaum glaublich.

Selbst ich konnte das eigentlich nicht recht fassen, als ich da­mals im Frühjahr 2014 erstmals davon hörte. Denn natürlich, so ging ich fest davon aus, war das Flugzeug irgendwo im Südchi­nesischen Meer abgestürzt. Es würden sich ohne Frage binnen kürzester Zeit traurige Trümmerreste dieser Tragödie finden las­sen.

Stattdessen erfolgt auf einer Pressekonferenz eine Woche nach dem Verschwinden eine atemberaubende und vollständige Kor­rektur aller bisherigen Mutmaßungen: Ein Unternehmen namens Inmarsat war in die Untersuchung eingeschaltet worden und hatte Indizien, die für eine völlig andere Sicht der Geschehnisse sprachen.

Laut Inmarsat senden Linienflugzeuge auch dann noch, wenn der im Cockpit befindliche Transponder von Hand abgeschaltet werden sollte, durch ein so nicht zu beeinflussendes automati­sches System weiterhin regelmäßige Positionspings, die aufge­zeichnet worden seien. Nach den Inmarsat vorliegenden Infor­mationen, die die firmeneigenen Satelliten ermittelt hätten, be­fand sich MH370 schon kurz nach dem letzten Funkkontakt nicht mehr auf dem ursprünglichen Kurs.

Aber wo dann?

Die Daten legten nahe, wurde kommuniziert, dass MH370 kurze Zeit danach einen U-Turn in Richtung Westsüdwest vollzogen hätte, um dann über Malaysia hinweg hinüber in den Indischen Ozean zu fliegen, wo sich das Pingsignal Stunden später verlor. Dies ist heutzutage die gültige offizielle Theorie.1

Die französische Journalistin Florence de Changy, die seit 30 Jahren in Hongkong lebt und Asien-Pazifik-Korrespondentin für Le Monde und andere Tageszeitungen ist, die am gleichen Tag von dem Vorkommnis erfuhr und von ihrer Zeitung darauf ange­setzt wurde, direkt aus Kuala Lumpur zu ermitteln und zu be­richten, fielen sehr bald eigenartige Dinge im Zusammenhang mit dem Unglück auf. Und je länger das Verschwinden andauer­te, je stärker der Druck der Angehörigen auf die malaysische Regierung wurde, desto bizarrer entwickelte sich die Geschich­te.

Es gab Meldungen von Sichtungen über Ölteppiche über dem Südchinesischen Meer. Es wurden von Flugzeugen aus Trüm­merstücke gesichtet. Angeblich existierte sogar ein Film von vi­etnamesischen Journalisten, die zeigten, wie Trümmer eines Flugzeugs, das eindeutig dem passenden Flugzeugtyp zuzuord­nen war und die Farben der malaysischen Airline besaß, vor der vietnamesischen Küste geborgen wurden (das Video ver­schwand später indes spurlos). Fischer gaben zu Protokoll, einen Feuerball gesehen zu haben, auch ein australischer Angestellter auf einer Bohrinsel berichtete unabhängig von einem solchen Vorkommnis in der Unglücksnacht (er wurde wenig später ent­lassen und, wie de Changy nach einem Besuch in Australien Jahre später entdecken konnte, massiv verfolgt und einge­schüchtert).

Es kamen eigenartige Theorien auf, die die Journalistin alsbald als Standardstrategien von Firmen und Regierungen identifizie­ren konnte, um eigenes Versagen von sich zu weisen: Der Pilot Zaharie Ahmed Shah wurde beispielsweise bezichtigt, auf spek­takuläre Weise Selbstmord begangen zu haben, indem er das Flugzeug zum Absturz brachte (aber wo war dann das Flugzeug geblieben?). Dummerweise überzeugte das kaum jemanden, schon gar nicht die direkten Angehörigen des Piloten, mit denen de Changy sprach und die ein völlig anderes moralisches und psychisches Bild von dem Piloten zeichneten.

War es verdächtig, dass er einen Flugsimulator daheim hatte, auf dem er – bequemerweise – einen Flug eingegeben hatte, der augenscheinlich dem entsprach, der über dem Indischen Ozean endete? Hatte er womöglich einen Terroranschlag auf eine amerikanische Geheimbasis auf der Insel Diego Garcia ge­plant, die südlich der Malediven lag?

War vielleicht der Copilot, Fariq Abdul Hamid, für den Absturz verantwortlich, der sich im letzten Teil seiner Ausbildung be­fand? Hatte er den Flug aufgrund irgendeines Problems an Bord zum Airport Kuala Lumpur zurücksteuern wollen, und war dabei irgendetwas schief gegangen?

De Changy bemühte sich, an die Unterlagen über Bordpersonal, Passagiere und Frachtpapiere zu gelangen. Denn wie man schon bei Sherlock Holmes nachlesen kann: Irgendwo in den vorhan­denen Fakten ist die Lösung, man muss sie nur finden. Und Fak­ten gab es geradezu unendlich viele, auch sehr viele aus frag­würdigen Quellen, unzählige, die sich in abstruse Verschwö­rungstheorien verstrickten. Wie sollte man da die Spreu der Ver­rücktheiten von den Körnchen der Wahrheit scheiden? Eine wahre Sisyphus-Aufgabe!

Weitere Theorien begannen wild in den Medien und im Internet zu kursieren. Wenn die Piloten als Verantwortliche ausschieden (die immer bequeme Schuldige sind, zumal sie sich als Tote nicht mehr verteidigen können)2 und die Inmarsat-Daten auch andere Interpretationen zuließen, dann konnten vielleicht Passa­giere für eine Entführung verantwortlich sein! Immerhin waren mehrere Russen an Bord, außerdem scheinbar zwei Ukrainer (und 2014 annektierte Wladimir Putin die Krim) … warum sollte das Flugzeug also nicht vielleicht nach Kasachstan entführt wor­den sein?

Das klang dann doch für mich ziemlich arg weit hergeholt.

Auch realistischere Optionen wurden erwogen. Insbesondere die – unvollständig – veröffentlichte Frachtliste ließ jede Menge Fra­gen offen. Da gab es beispielsweise eine große Menge Lithium-Akkus, die erwiesenermaßen zu spontaner Selbstentzündung neigten und in wenigstens einem weiteren Fall zu einem Flug­zeugabsturz geführt hatten. Angeblich war eine große Menge von Mangostan-Früchten an Bord … doch diese Früchte hatten weder Saison, noch gab es auf dem Absendeflughafen irgendei­ne Art von Möglichkeit, dass sie überhaupt von dort aufgegeben worden sein könnten … es lag also nahe, dass „Mangostan-Früchte“ eher eine Chiffre für Schmuggelware irgendwelcher Art sein mochte, vielleicht für Elfenbein oder andere Substanzen, die illegal nach China eingeführt werden sollten. Für solche Aktionen wäre ein routinemäßiger Passagierjet zu mitternächtlicher Zeit höchst geeignet.

Außerdem gab es da noch rätselhafte elektronische Fracht in ei­ner erstaunlichen Menge, die völlig ohne jede sonst übliche Kon­trolle an Bord gebracht worden war. De Changy ermittelte im Laufe der folgenden Jahre, in denen sie weltweit zahllosen wei­teren Fährten nachging und zahlreiche Legenden und auch amt­liche Verlautbarungen entkräften konnte (ich deute hier nur ein paar wenige davon an, das Buch ist voll von weiteren haarsträu­benden Fakten), dass gerade diese Lieferung unter ungewöhn­lich hohem Polizeischutz zum Flughafen gebracht und verladen wurde.

Gemäß der offiziellen These wurden die Suchaktionen zunächst rings um den Wegpunkt IGARI konzentriert, der vor der Küste von Malaysia liegt, doch schon eine Woche später verlagerte er sich notwendig in den Indischen Ozean und schließlich vor die australische Küste, wofür zig Millionen Dollar wochenlang eine internationale Suchmannschaft unter australischer Leitung die Meeresoberfläche und schließlich auch den Meeresgrund auf der Suche nach den Black Boxes des Flugzeugs durchkämmte. Zehntausende von Quadratkilometern … erfolglos. Es wurde nicht ein einziges Trümmerstück entdeckt.

Das spricht, vorsichtig gesagt, nicht eben dafür, dass die offizi­elle Theorie äußerst realistisch ist. Wenn kein einziges Indiz zu entdecken ist … dennoch wurde diese Theorie hartnäckig als einzig mögliche Lösung in den Medien verfolgt.

Wen kümmerte es da schon, wenn Zeugen aus dem Norden von Malaysia erzählten, sie hätten in der Unglücksnacht Lärm ge­hört und ein Flugzeug „im Tiefflug in ungewöhnlicher Richtung“ gesehen? Wen kümmerte es, dass das Internetportal Tomnod vor der südvietnamesischen Küste ein Trümmerfeld gesichtet hatte3, das leider sehr gut mit der Sichtung des Bohrinsel-Mitar­beiters Mike McKay in der Nacht vom 8. März 2014 zusammen­passte, der in Richtung der vietnamesischen Küste Feuerschein wie von einem explodierenden Flugzeug gesehen hatte? Auch als wenig später vor südlich vom Wegpunkt IGARI von chinesi­schen Satelliten driftende Trümmer gesichtet wurden, brachte kaum jemand das mit dem verschwundenen Flugzeug in Verbin­dung.

Das war doch bekanntlich nach der offiziellen Theorie im südin­dischen Ozean abgestürzt, nicht wahr? Dort mussten also die Trümmer sein, woanders konnten sie ja überhaupt nicht auftau­chen.

Doch ein ganzes Jahr lang kam es in der Ermittlung des MH370-Unglücks zu keinerlei neuen Entwicklungen … und dann wurde am 29. Juli 2015 ein Trümmerteil angeschwemmt – ein Flaperon, also ein Teil einer Flugzeugtragfläche. Wo war es gefunden wor­den? Auf La Réunion vor der Küste von Madagaskar! Also ein eindeutiges Indiz für den Absturz im Indischen Ozean und die offizielle Theorie … wenigstens dachte auch ich das anno 2015.4

Inzwischen war es halb und halb Gewissheit in der Öffentlich­keit, dass es an Bord ein Unglück gegeben haben musste, die Fakten schienen ja auch gut dazu zu passen: Wenn beispielswei­se der Flugzeugrumpf aus irgendeinem technischen Grund nach und nach seine Atemluft verloren hätte, wären die Piloten durch Hypoxie ohnmächtig geworden. In dem letzten Versuch, einen bekannten Flughafen in Malaysia anzusteuern, hätten sie das Flugzeug gedreht und auf Autopilot geschaltet, ehe sie bewusst­los wurden. Und MH370 sei ins Blaue hineingeflogen, mit toter Besatzung, und schließlich durch Treibstoffmangel ins Meer ge­stürzt.

Auch ich nahm das notwendig an.

Florence de Changy begnügte sich mit diesem gedanklichen Kurzschluss nicht. Sie besorgte sich Unterlagen über das Flape­ron und stellte rasch fest, dass mit dem Trümmerstück etwas nicht in Ordnung war. Es stammte ohne Frage von einer Boeing 777, das war schnell klar. Aber es wies ein Detail auf, das in kei­ner der Pressemeldungen hervorgehoben wurde: Jedes solche Bauteil besitzt eine klar nachverfolgbare Plakette, die auch Meerwasser nicht ablösen kann. An diesem Flaperon war diese Plakette vor dem Fund entfernt worden.

Der Journalistin kam das komisch vor, und sie fragte Experten, die ihr eine Antwort gaben, mit der sie nicht gerechnet hätte: Das Entfernen solcher Plaketten sei ein routinemäßiges Verfahren. Das werde immer dann angewendet, wenn ein Flugzeug verschrottet würde. Und es würden ständig aus den Airlines Flugzeuge ausgemustert, entsprechend ihre Bauteile unkenntlich gemacht und dann recycelt.

Sie schloss daraus – in meinen Augen durchaus nahe liegend – , dass das Flaperon von La Réunion durchaus nicht als Beweis taugte, MH370 sei im Indischen Ozean abgestürzt. Stattdessen schuf Florence de Changy, indem sie zahllose, für sich genom­men unauffällige Mosaikbausteine der internationalen Politik, widersprüchliche Informationen, Zeugenaussagen und Indizien zu einem immer dichteren Netzwerk verwob, eine alternative Theorie, die ich hier nicht en detail vorwegnehmen möchte. Sie sagt selbst, dass das kein Beweis dafür ist, dass das, was sie als Szenario entwickelt hat, „die Wahrheit“ sei … aber die vielfach ermittelten Indizien passen allesamt auf beunruhigende Weise zu jenem Ablauf, wie es sich wahrscheinlich in der Nacht vom 8. März 2014 womöglich wahrhaftig zugetragen haben könnte.

In ihren Augen ist das realistischste Szenario eines, das ohne ir­ritierende Inmarsat-Pings (deren notorische Präzisionsschwäche heutzutage als erwiesen gilt) auskommen kann. Eines, das zu­dem belegt, dass diverse Funksprüche von US-Militäreinheiten, die Präsenz von AWACS-Aufklärungsflugzeugen, ein verstüm­melter Notruf, den ein vietnamesischer Pilot in der Unglücks­nacht auffing und zahlreiche weitere Details eine völlig andere Deutung der Abläufe dieser Nacht nahe legen.

Sie behauptet nicht, das Geheimnis gelöst zu haben, wie eben erwähnt. Aber sie vermittelt dem Leser in dieser dramatischen, faktendichten, akribisch quellenbelegten Darstellung das beun­ruhigende Gefühl, dass in dieser Nacht des 8. März 2014 ein dramatisches Ereignis stattfand, das den Verantwortlichen auf desaströse Weise aus dem Ruder glitt und dazu führte, dass das daraus resultierende tödliche Versagen auf höchster politischer Ebene vertuscht werden musste.

Ihr Nachtrag zeigt, dass solche Vorkommnisse weder zum ers­ten Mal geschehen noch unrealistisch oder unplausibel sind. Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um die Deutung, die Florence de Changy präsentiert, für sehr wahr­scheinlich zu halten. Denn indem sie fundiert die vermeintlichen Indizien für die Standardtheorie Schritt für Schritt widerlegt und demontiert, zugleich aber auch aufzeigt, wie viele Informatio­nen von dieser Theorie einfach ignoriert oder kurzerhand ge­leugnet werden, die eben – leider – ihrem Szenario zunehmend Glaubwürdigkeit verleihen, macht sich die Journalistin gerade nicht mit spinnerten Verschwörungstheoretikern gemein.

Sie sucht seit über acht Jahren nach Indizien dafür, dass die offi­zielle Theorie nichts weiter darstellt als eine sehr bequeme Ab­lenkung von den tatsächlichen Ereignissen, und ich muss geste­hen, ihre Sicht hat mich zunehmend überzeugt – insbesondere deswegen, weil sie sehr differenziert zwischen Verschwörungs­theorien, offiziellen Verlautbarungen und plausiblen Tatsachen differenziert. De Changy begnügt sich nicht damit, irgendwel­chen obskuren Meldungen im Internet zu lauschen, sondern sucht im Laufe ihrer jahrelangen Ermittlungen das direkte und manchmal wiederholte Gespräch mit den Informanten und An­gehörigen, mit Militärs, Flugexperten, Verwaltungsfachleuten und Geschäftsleuten.

Sie durchleuchtet die Motivation der Personen, die sich in die MH370-Geschichte hineinsteigern. Geht auch seltsamsten Fähr­ten nach, recherchiert Flugplätze in der Region, wo man eine Boeing 777 hätte landen können … sie stellt kritische Fragen, warum Radarstationen, die sonst jedes Schmugglerflugzeug ausfindig machen könnten, MH370 angeblich nicht gesehen ha­ben. Fragt sich, warum Airlines wie Boeing und die malaysische Fluggesellschaft so widersprüchliche Aussagen vorbrachten. Warum die chinesische Regierung so auffälliges Desinteresse an den Ermittlungen hatte …

Wer dieses Buch liest, so ist letztlich zu konstatieren, erhält viel­leicht keine endgültigen Aussagen, „wie es gewesen ist“, wie der Historiker Leopold von Ranke schrieb, aber zumindest be­kommt man einen sehr fundierten und vielseitigen Einblick in alle Geschehnisse rund um den Flug MH370 … und hat hinter­her vielleicht einigen Grund zur Sorge, wenn er mal wieder ein Flugzeug besteigt oder sich in dieser Region bewegt. Denn falls de Changys Szenario der Wahrheit entsprechen könnte, kann niemand mit Gewissheit behaupten, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen.

Als ich vor sehr vielen Jahren in einem völlig anderen Zusam­menhang das Sachbuch „Der Baader Meinhof Komplex“ des deutschen Journalisten Stefan Aust las, schrieb ich in meiner Re­zension zu diesem im Grunde ausgezeichneten Buch, es habe einen fundamentalen Fehler aufgewiesen, der seinen histori­schen Wert vollkommen negierte: Dieses Buch wies wirklich kei­nerlei Anmerkungs- und Literaturapparat auf. Niemand konnte nach der Lektüre nachvollziehen, woher Aust seine Informatio­nen hatte. Für einen Historiker wie mich verliert ein Sachbuch dadurch vollständig an Bedeutung. Denn in einem Sachbuch sollten die referierten Fakten und Zitate nachprüfbar sein.

Bei Florence de Changy machen diese Angaben mehr als 20 Seiten aus, in denen unzählige Quellen bis hin zur Internetseite und dem Tagesdatum genannt werden. Das bedeutet: Man kann ihre Fakten nachprüfen, jedes einzelne. Sie gibt sich Mühe, ihre Rechercheergebnisse offen und kontrollierbar darzulegen. Das disqualifiziert meiner Ansicht nach billige Stimmen, die viel­leicht auftauchen könnten, um ihr krude Verschwörungstheorien zu unterstellen.5

Das Buch liest sich wie ein Thriller, und man fiebert unweiger­lich mit, was denn wohl als nächstes Ungeheuerliches (und zu­gleich reales Faktum!) auf der nächsten Seite den Leser erwar­ten mag … dennoch ist man auf sehr vieles einfach nicht ge­fasst, manches kann ich immer noch nicht recht glauben.

Ich denke: Wer immer sich ein umfassendes Bild über den Un­glücksflug MH370 machen möchte, sollte sich nicht auf die offi­zielle Sichtweise beschränken, die im genannten WIKIPEDIA-Ar­tikel ausführlich referiert wird. Man sollte sich ausdrücklich auch mit de Changys Buch befassen und die darin dargestellten Standpunkte einer kritischen Analyse unterziehen. Und sich dann entscheiden, was von beidem glaubwürdiger ist.

Ich fürchte, ich habe mein Urteil schon gefällt.

Mein Fazit: Ein höchst lesenswertes, den Horizont erweiterndes Buch!

© 2022 by Uwe Lammers

Ja, das Fazit wird vermutlich vielen Leuten nicht gefallen, die sich ihre Meinung schon gebildet haben. Aber schaut euch nur das Werk im Detail an, dann gerät so manche feste Überzeu­gung leicht ins Wanken.

In der kommenden Woche präsentiere ich harmlosere Kost, dann geht es wieder um ein Sigma Force-Abenteuer von James Rollins.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Man vergleiche dazu den sehr ausführlichen WIKIPEDIA-Artikel „MH370“, der allerdings – in meinen Augen ein interessantes Faktum – ungeachtet der Aktualität das de Changy-Buch nicht mit einer einzigen Silbe erwähnt.

2 Man beachte bei de Changy hierzu den über 30 Seiten langen Nachtrag, wo sie zahlrei­che Flugzeugunglücke der vergangenen Jahrzehnte, die dazu vorgebrachten Theorien, tatsächlichen Absturzursachen sowie die oftmals kriminellen Handlungen von Regierun­gen und Flugzeugbauern akribisch belegt, mit denen die wahren Absturzursachen ver­tuscht werden sollten.

3 Das Unternehmen setzte dann auf die Hilfe von Freiwilligen, die im Internet die Satelli­tenbilder sichteten … aber nachdem dort tatsächlich Trümmerstücke gesichtet und ge­meldet worden waren, änderte Tomnod seltsamerweise die Algorithmen der geografi­schen Lokalisierung der Suchraster, und die Trümmerbilder waren anschließend seltsa­merweise verschwunden … es gab noch eigenartigere Details in dieser Beziehung, aber das sollte man im Buch nachlesen, das kann hier nur angedeutet werden.

4 De Changy erwähnt allerdings auch Auskünfte von Experten für Driftbewegungen im nämlichen Ozeanbereich, die sämtlich sagen, dass Trümmerstücke aus dieser Region ei­gentlich gar nicht auf La Réunion angespült werden können … was weitere interessante Theorien befeuert, die hier auch thematisiert werden.

5 Und genau dies ist, wie ich in der dreiteiligen Fernsehdokumentation „MH370 – Das ver­schwundene Flugzeug“ entdecken musste, tatsächlich im dritten Teil passiert. Dabei wer­den die Kritiker so ausfallend, dass klar wird: Sie haben das Buch nicht gelesen und wer­fen de Changy mit Spinnern in einen Topf, die beispielsweise denken, UFOs hätten das Flugzeug entführt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit de Changys Quellen findet hier nicht statt, stattdessen wird ihre Interpretation kurzerhand totgeschlagen, weil man daran kein gutes Haar finden kann … ernsthafte, fundierte Kritik sieht für mich grundlegend anders aus. So demontieren sich nur die Befürworter der offiziellen Theorie als obrigkeitshörige Kleingeister. Sorry, das musste mal gesagt werden.

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