Rezensions-Blog 427: Das Messias-Gen

Posted Oktober 24th, 2023 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

dass auch versierte Bestseller-Autoren mal schwache Tage ha­ben können, ist, glaube ich, weder eine Überraschung noch eine Schande. Das habe ich schon bei Clive Cussler und diversen Au­torinnen der Erotik-Romance-Branche erlebt, und hier ist es eben James Rollins, der bei einem ausgesprochen schwachen Moment erwischt wird.

Wie ich damals in meiner Rezension schrieb, schätze ich den Autor durchaus, und die ersten vier Romane seiner Sigma Force-Reihe wussten sehr zu gefallen. Aber hier kommt so ein bisschen der Faktor ins Spiel, der sich anderweitig auch ausbrei­tet. Ich nenne nur mal zwei Beispiele:

Als „Jäger des verlorenen Schatzes“ zu so einem Kinoerfolg wurde, drehte Steven Spielberg gleich einen zweiten Teil … der in Indien spielt, mit einer blutgierigen Geheimsekte zu tun hat und unter anderem einem Bergwerk, in dem Kindersklaven ge­halten werden. Dennoch blieb „Indiana Jones und der Tem­pel des Todes“ weit hinter den Erwartungen des ersten Teils zurück. Weswegen Spielberg im dritten Indiana Jones-Film dann wieder auf die beliebten Nazis als Schurken setzte (und auf Sean Connery, natürlich), wodurch die Popularitätskurve wieder anstieg.

Ähnlich, wenn auch inhaltlich ganz anders, war es bei der Film­serie „Fast & Furious“, die im Teil „Tokyo Drift“ komplett auf Vin Diesel und die bisherige Crew verzichtete … und daraufhin ebenfalls floppte. Worauf sie Diesel hastig reaktivierten und weiter beibehielten. Die Kassenergebnisse gaben ihnen recht.

Was hat das mit dem vorliegenden Roman zu tun? Nun, das ist ganz simpel: Die ersten Sigma Force-Romane ziehen wesentlich ihre Faszination aus dem Geheimbund der „Gilde“, die der Sig­ma Force vielfach an Raffinesse, Manpower und weit gestreck­ten Plänen lange voraus ist. Das hat sie mit den besseren Villains bei James Bond oder bei Clive Cussler durchaus gemein.

Im vorliegenden Roman versuchte Rollins, einen bösartigen rus­sischen Potentaten aufzubauen – wie beim zweiten Indiana Jo­nes zeigt sich hier aber, dass er nicht annähernd das Format be­sitzt, um den bisherigen Feindmaßstab zu erreichen. Er reißt die Latte, um im Sportjargon zu bleiben, und das Ergebnis ist eher ernüchternd.

Es empfiehlt sich darum, an den vorliegenden Sigma Force-Ro­man mit deutlich herabgeschraubten Erwartungen heranzuge­hen. Und das ist es, was Rollins diesmal bietet:

Das Messias-Gen

(OT: The last Oracle)

Von James Rollins

Blanvalet 2010

580 Seiten, geb.

Übersetzt von Norbert Stöbe

ISBN 978-3-7645-0262-1

Orakel waren für die Römer stets unheimlich – und in dem Mo­ment, in dem sie den eigenen Untergang weissagten und zu­dem noch nicht in Italien angesiedelt waren, sondern in Grie­chenland, ergriffen sie radikale Maßnahmen, um vermeintlich göttliches Verderben aufzuhalten. Im Jahre 398 nach Christus etwa unternahmen sie einen Feldzug, um das Orakel von Delphi ein für allemal aus der Weltgeschichte zu löschen. Ein Feldzug, der Erfolg hatte … vordergründig zumindest. Aber die Legende vom Orakel von Delphi lebte weiter.

März 1959: In den Karpaten sind russische Eliteeinheiten unter­wegs, um einen obskuren Auftrag auszuführen. Sie sollen eine scheinbar völlig bedeutungslose Gruppe von Roma ausfindig machen – und sie allesamt töten. Bis auf die Kinder, die von ih­nen entführt werden. Federführend ist Major Juri Raew und die Geheimdienstoffizierin Sawina Martowa. Sie machen den Clan tatsächlich ausfindig und entführen die Kinder, während alle an­deren niedergemetzelt werden. Vordergründig eine bizarre, nutzlose Operation, aber scheinbar gibt es keine Zeugen mehr dafür. Scheinbar …

In der Gegenwart, rund zwei Monate nach dem Ende des vorhe­rigen Romans „Der Judas-Code“, herrscht bei der Sigma Force in Washington, dem militärischen Arm der DARPA des amerika­nischen Geheimdienstes, eine ausgeprägte Katerstimmung – bekanntlich haben sie zwar eine globale Epidemie verhindert, die sich damals aus Fernost auszubreiten begann. Aber Com­mander Grayson Pierce hat auch seinen besten Freund Monk Kokkalis verloren, und die Agentin Kat Bryant auf diese Weise zugleich damit ihren Mann und Vater der gemeinsamen kleinen Tochter. Und zwei Monate sind einfach zu kurz, um diesen Schmerz zu verdauen.

Als direkt in Grays Armen auf der National Mall von Washington ein Mann stirbt, der scheinbar ein Obdachloser war, hält er das zunächst für einen Anschlag, der ihm selbst galt, aber er täuscht sich gleich in mehrfacher Hinsicht. Der Sterbende hat ihm eine römische Silbermünze übergeben, auf der ein Tempel und der Buchstabe Epsilon zu sehen sind. Und der Tote ist kein obdachloser Nobody, sondern einer der Gründerväter von Sig­ma, Professor Archibald Polk. Wie es scheinbar der Zufall will, arbeitet seine Tochter Elizabeth direkt gegenüber dem Sigma-Hauptquartier im Museum für Naturgeschichte, und dort wird gerade eine Ausstellung zum Thema Delphi vorbereitet.

Und dann fängt die Geschichte an, höchst abenteuerlich zu wer­den – hochrangige russische und amerikanische Geheimdienst­kreise arbeiten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion an einem gemeinschaftlichen Projekt, das die Russen schon seit Jahrzehnten verfolgen. Es geht im Kern um die Optimierung ei­ner Gruppe sehr spezieller autistischer Savants, deren Begabungen ans Paranormale grenzen. Die einen vermögen extrem schnell logisch zu kombinieren, andere übertreffen selbst Rechner mit ihren Rechenfähigkeiten, die nächsten sind mächtige Empathen, und wieder andere verstehen es, gewisse Dinge vorherzusehen und über Hunderte von Kilometern mit Ihresgleichen mental zu kommunizieren. Eines dieser Kinder hat der Mörder Professor Polks, Major Juri Raew, mit nach Washington gebracht. Ein Mädchen, das seltsamerweise den Jungennamen Sascha trägt, was mir den ganzen Roman über nicht einleuch­ten wollte.

Die amerikanischen Geheimdienstler unter einem skrupellosen Mann namens Mapplethorpe spielen ein doppeltes Spiel und wollen unbedingt das Mädchen in ihre Gewalt bekommen … das aber ist derweil schon entführt worden, und zwar von einer Gruppe Roma, die es nun ihrerseits geradewegs zur Sigma Force lenken.

Außerdem wird nach Professor Polk auch dessen Tochter, die die Kuratorin der Delphi-Ausstellung ist, verfolgt und kann nur um Haaresbreite gerettet werden. Die Fährte, die sich von dort aus spannt, führt nach Indien zu Polks altem Kollegen Masterson – und geradewegs in die nächste Falle. Gray Pierce und sein klei­nes Team werden dort zunächst von amerikanischen Geheim­dienstlern beinahe getötet, bald darauf setzen sich mörderische russische Spezialkräfte an ihre Fährte.

Und in der Tat führen alle Spuren letztlich nach Russland. Hier hat der charismatische Politiker Nicolas Sokolow einen zweiteili­gen, mörderischen Plan ersonnen, um mit Hilfe der paranormal begabten Kinder und der nuklearen Altlasten der Sowjetunion die bestehende Welt in Brand zu stecken und aus der Asche als globaler Diktator wieder zu erstehen.

Er hat allerdings nicht mit der Zähigkeit und Kombinationsgabe der Sigma Force-Agenten um Direktor Painter Crowe und Gray­son Pierce gerechnet. Und ihnen zu Hilfe eilen die Kinder, die völlig andere Pläne verfolgen als Sokolow – aber selbst sie wä­ren wehrlos, wenn sie nicht rechtzeitig dafür gesorgt hätten, dass sie einen scheinbar hilflosen Beschützer haben: Einen Mann ohne Erinnerung, der nur noch eine Hand besitzt und beim besten Willen nicht weiß, warum er eine Schar Kinder mit­ten durch die Sümpfe des Ural führt, verfolgt von russischen Wachmannschaften, manipulierten Tigern und zunehmend durchseucht von radioaktiver Strahlung …

Ich mag James Rollins und seine Romane wirklich gern, und die ersten vier Romane um die Sigma Force haben mir auch ausge­zeichnet gefallen. Dieser fünfte Band aber weist dann doch sol­che Schwächen auf, dass ich ihn nur noch als mäßig bezeichnen kann. Sehen wir mal von dem vollständig abwegigen deutschen Titel ab, fällt sehr deutlich während der Lektüre auf, dass der Roman nahezu ausschließlich auf Geschwindigkeit geschrieben wurde. Er liest sich ohne Zweifel rasant, etwa wie Clive Cussler-Romane. Aber die gründliche Backgroundgeschichte kommt doch auf geradezu tragische Weise zu kurz. Vieles, insbesonde­re bezogen auf die Sowjetunion, ihr Nuklearprogramm und den Zusammenbruch ist zwar inhaltlich nicht falsch, aber man hat das dumme Gefühl als Leser, als würden hier mehrheitlich Kli­schees bedient.

Dasselbe gilt für die Gegner der Sigma Force, die diesmal defini­tiv kein Format haben. Sokolow und seine Handlanger kommen als monomanische, größenwahnsinnige Fanatiker herüber, die sich mit nicht minder dumpfem Personal umgeben und eigent­lich ständig nur Pannen produzieren. Selbst die amerikanischen CIA-Gegner der Sigma Force lassen sich letztlich auf geradezu alberne Weise übertölpeln. Zahlreiche Wendungen im Roman sind so durchsichtig und vorhersehbar, dass die Lektüre nur be-dingt Vergnügen machte.

Am meisten genervt hat mich allerdings der unendlich kaugum­miartig in die Länge gezogene Handlungsstrang um Monk Kok­kalis und die Kinder, die er in Sicherheit bringen soll. Leider ver­sucht Rollins, aus den Kindern kleine, neunmalkluge Erwachse­ne zu machen – was handlungsnotwendig ist, weil er in diesem Handlungsstrang eben auf geradezu peinliche Weise niemanden hat, der irgendwelche Informationen einführen kann. Monk hat keine Erinnerung, die Kinder sind im Grunde aus ihrem unterir­dischen Versteck nie herausgekommen … die Glaubwürdigkeit erleidet hier irreparable Schäden, ganz zu schweigen von der Strahlungs-Geschichte.

Auch wird beim Sascha-Handlungsstrang deutlich gesagt, dass das Mädchen durch den Einsatz der eigenen Gaben immer ra­scher körperlich verfällt und zudem abhängig von sehr speziel­len Medikamenten ist. Warum sollte das bei den anderen Kin­dern, die Monk in die Freiheit führt, anders sein? Und was soll­ten sie in dieser verstrahlten Umgebung an Nahrung zu sich nehmen? Das wirkt alles hastig improvisiert, leider über Hun­derte von Seiten verstreut, so dass es schlussendlich doch sehr zu nerven beginnt.

So interessant und historisch ziemlich plausibel herbeigeführt zwar die Verbindungslinie der Roma von Indien über Griechen­land nach Russland auch sein mag, irgendwie vermag die Ge­schichte insgesamt kaum zu überzeugen. Hier hat sich James Rollins verleiten lassen, auf einem Sektor tätig zu sein, der nicht halbwegs glaubwürdig vermittelt wurde. Wenn der Plan darin bestand, Monk auf abenteuerliche Weise zurück in die Haupt­handlung zu führen, ist das zwar schon gelungen, aber der Weg, der dafür eingeschlagen wurde, ist an Peinlichkeit und Künst­lichkeit nur schwer zu überbieten.

Besonders bedauerlich fand ich, dass gerade Kinder auf so wi­derwärtige Weise vielfach instrumentalisiert worden sind. Das mag bei einzelnen Individuen vielleicht noch gerade angehen, aber hier waren es dann schließlich sehr viele, die fast wie Schlachtvieh behandelt wurden – was in der Quintessenz dann ihre Individualität völlig nivelliert hat und sich bedauernswert rasch abnutzte. Auch hier viele Klischees, für die unter anderem Dr. Mengele von Auschwitz bemüht werden musste. Unschön.

Ich denke darum, dass es sich um einen hastig heruntergekur­belten Roman handelt, der unter hohem Zeitdruck geschrieben wurde. Man kann ihn daher allenfalls eingefleischten Rollins-Fans empfehlen, und ich hoffe doch sehr, dass sein kommender Roman wieder besser wird.

© 2019 by Uwe Lammers

Ja, ihr merkt schon, hier habe ich mich nicht gerade euphorisch überschlagen … auch solche Sachen muss es geben, wenn man Romanreihen bespricht. Ich sagte ja verschiedentlich, dass das hier kein Schönwetterblog ist und hier nur Lobhudelei betrieben wird. Wenn ich mir so die sehr guten Zugriffszahlen auf meine Homepage anschauen, möchte ich vermuten, dass es das ist, was ihr nicht zuletzt an meinen Rezensionsberichten schätzt.

Ihr könnt sicher sein, dass die Berichterstattung auch weiterhin schön durchwachsen sein wird. Nicht nur, was die verschieden­artigen Genres angeht, zu deren Produkten ich etwas erzählen werde, sondern auch hinsichtlich der qualitativen Eignung. Aus­gesprochene „Verrisse“ werden auch weiterhin selten sein … und die zurückhaltenden Kommentare werden stets von ausge­sprochenen Empfehlungen und Sahnestücken kontrastiert wer­den.

In der kommenden Woche kehren wir zurück nach Edinburgh in den Kosmos von Samantha Young. Da wird es dann deutlich un­aufgeregter als dieses Mal, versprochen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>