Rezensions-Blog 447: Projekt Chimera (Sigma Force 10)

Posted März 13th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

wenn man als Romanautor, der sich ein serielles Sujet – im Falle von James Rollins die sinistre „Gilde“ – gesucht und dieses bis zum Zentrum abgearbeitet hat, tritt üblicherweise ein Phäno­men auf, das allgemein vertraut ist: Man steht als Autor unter einem gewissen Erfolgsdruck, ein Thema im nächsten Buch zu bringen, das mindestens diesen erreichten Standard hält, denn daran wird man nun mal von Verleger- wie Leserseite gemes­sen.

Traditionell gelingt das eher nicht, und so fällt denn auch dieser 10. Sigma Force-Roman ein wenig inhaltlich gegen die bisheri­gen neun vorherigen Bände ab. Dass ich hier mit der Berichter­stattung der Serie – von denen nach meiner Kenntnis inzwi­schen 16 Bände vorliegen – erst mal pausieren möchte, hat aber weniger mit Lesemüdigkeit zu tun als vielmehr damit, dass mir die Folgebände noch nicht alle vorliegen und hier der aktu­elle Lesehorizont erreicht ist. Beizeiten werde ich auch auf die kommenden Romane zu sprechen kommen.

Vor uns liegt ein durchweg wieder spannend komponierter Ro­man, der Historie und Gegenwart, technisch-biochemische Zu­kunft, Thriller, Wissenschaft und damit durchaus reale histori­sche und wissenschaftliche Details mit fiktionalen Elementen und extremen Hochrechnungen verknüpft.

Wir bewegen uns von amerikanischen Schutzgebieten bis in die Tiefen der Antarktis, medizinische Notfälle, Seuchen und Terror­anschläge werden zu einer packenden Melange fusioniert, die dann indes ein paar Schwächen aufweist, was die letztendliche Umsetzung angeht. Das hat mir ein kleines bisschen das Lese­vergnügen geschmälert … aber ihr kennt das ja von mir: Viel­leicht bin ich da zu kritisch. Wer den Roman einfach unter dem Aspekt des spannenden Abenteuerromans liest und gewisse Plausibilitäten gering schätzt, wird hier hervorragend unterhal­ten.

Schauen wir uns die Geschichte mal genauer an:

Projekt Chimera

(OT: The 6th Extinction)

Von James Rollins

Blanvalet 0511

576 Seiten, TB, 2018

Übersetzt von Norbert Stöbe

ISBN 978-3-7341-0511-1

Moderne Genetik fasziniert viele Menschen aus sehr begreifli­chen und nahe liegenden Gründen – ob es sich um Gentechnik oder Gentherapie handelt, um Manipulation von Pflanzen zur Wachstumssteigerung, der Behandlung von Tieren und Men­schen mit dem letztendlichen Ziel, Krankheiten an der Basis ihres Entstehens zu fassen zu bekommen und final zu besiegen … moderne Genetik spielt in der Gegenwart eigentlich in nahe­zu alle Lebensfelder mit hinein. Das gilt dann ebenfalls für ihre dunkle Seite: Bioterrorismus und die Gefahr von verheerenden Seuchen, die von Menschen maßgeschneidert werden könnten aufgrund der modernen technischen Möglichkeiten. Die es ge­wissermaßen möglich machen, dass biochemische Massenver­nichtungswaffen in Garagen und Hinterhoflaboren zusammen­gebraut werden und verheerende Auswirkungen erlangen.

Zum zweiten thematisiert der vorliegende Roman, wie der Titel schon aussagt, das Thema von globalen Umweltkatastrophen und Artensterben. Die Auslöschung der Dinosaurier vor rund 65 Millionen Jahren wird als 5. Auslöschungsereignis bezeichnet, und das gegenwärtige globale Massensterben, das ganz we­sentlich – wenn nicht sogar ausschließlich, aber das ist umstrit­ten – auf den Menschen und seine wuchernde Ausbreitung auf dem Globus zurückzuführen ist, das dem auf schreckliche Weise nicht nachsteht, wird als das 6. Auslöschungsereignis bezeich­net. Wogegen – mit vollkommenem Recht – zahllose Umwelt­schützer weltweit angehen.

James Rollins´ neuer Roman verbindet diese beiden Gedanken­gänge zu einer dramatischen Thrillerhandlung, und dies kommt dabei heraus:

Der Prolog bringt uns rätselhafterweise nach Feuerland und ins Jahr 1832 an Bord der HMS Beagle: Charles Darwin gibt seiner Forscherneugierde leichtsinnig nach und macht zusammen mit der Schiffsbesatzung eine erschreckende Entdeckung, die sie alle aber tunlichst niemals mehr weiter verfolgen wollen. Dar­win hebt allerdings eine Karte in seinen Unterlagen auf, die spä­ter in seinem Nachlass wieder zutage tritt.

In der Gegenwart wird umgeblendet nach Kalifornien zum Mono Lake, einem natürlichen See ohne Abfluss, in dem sich besonde­re Mikrolebensformen entwickelt haben, deren Stoffwechsel auf Eisen und Arsen basiert. Hier in einem Naturschutzgebiet arbei­tet die Rangerin Jenna Beck mitsamt ihrem Hund Nikko, und al­les scheint in bester Ordnung zu sein – bis sie einen alarmieren­den Anruf bekommt und von einem Notruf erfährt, der von einer militärischen Geheimeinrichtung in den nahen Bergen gekom­men ist. Am Ende des Notrufes hieß es auf erschreckende Wei­se: „Tötet uns … tötet uns alle …!“

Jenna solle dort einmal schnell nach dem Rechten sehen, wird ihr befohlen. Das tut sie – und kommt beinahe ums Leben.

Denn die Einrichtung, deren Eingangstor offen steht, wird gera­dewegs vor ihren Augen gesprengt … und dann breitet sich auf erschreckende Weise eine mörderische Giftgaswolke aus, vor der sie verzweifelt in eine auf einem Hügel liegende Geister­stadt flüchten kann. Sie wird allerdings verfolgt von einem Hub­schrauber, der von der Einrichtung direkt nach der Explosion aufgestiegen ist, und dessen Insassen setzen nun alles daran, die Rangerin als Zeugin zu töten.

Ebenfalls in Kalifornien ist Direktor Painter Crowe von der Sigma Force kurz davor, seine Verlobte Lisa Cummings zu heiraten, als er von dem Zwischenfall erfährt. Notgedrungen muss er die Fei­erlichkeit verschieben und sich um diese Angelegenheit küm­mern. Doch während er noch versucht, Licht ins Dunkel zu brin­gen, woran in dieser Einrichtung genau geforscht wurde und was für einen Grund es haben kann, dass Dr. Kendall Hess´ Ein­richtung zerstört wurde, wird die Sigma Force-Zentrale in Wa­shington, D.C., angegriffen – von einem hochprofessionellen Söldnertrupp, der ganz offenkundig mit dem Zwischenfall in Ka­lifornien in Verbindung steht und alle Möglichkeiten ausschalten soll, dass man diesen durchleuchten kann.

Es gelingt dem Agenten Grayson Pierce glücklicherweise, den Anschlag teilweise zurückzuschlagen und die Angreifer zu dezi­mieren, die später als Söldner identifiziert werden können, die früher zu einer britischen Antiterroreinheit gehörten. Irgendwer hat sie offensichtlich angeheuert, um Verbrechen zu vertuschen – beispielsweise auch die Entführung von Dr. Hess in Kalifornien.

Was immer passiert ist, es ist noch nicht vorbei!

Während Jenna Beck um Haaresbreite gerettet werden kann, stellt sich heraus, dass in Kalifornien keine Entwarnung gegeben werden kann: Dr. Hess hat offenkundig an einem künstlich opti­mierten Mikroorganismus gearbeitet, der dem Labor entkom­men ist (warum klingt das nur in Corona-Zeiten so vertraut? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt … der Roman wurde 2014 ge­schrieben, also lange vor der gegenwärtigen Pandemie). Die Giftgaswolke, die zahllose Quadratkilometer Leben um die zer­störte Station abtötet, sollte den Mikroorganismus eindämmen und vernichten.

Die Mitglieder der Sigma Force müssen beklommen entdecken, dass das nicht funktioniert hat. Die Todeszone, die bis zu einem halben Meter Erdreich alles sterilisiert und in Rekordgeschwin­digkeit vernichtet, breitet sich immer weiter aus. Nicht einmal Feuer scheint in der Lage, das monströse Mikroleben zu vernich­ten. Und es drohen Gewitter mit Starkregen und heftigen Win­den, die den rätselhaften Erreger immer weiter verbreiten. Da nicht zuletzt auch der Rangerhund Nikko und Lisa Cummings´ Bruder Josh von dem feindlichen Mikroerreger betroffen sind und um ihr Leben kämpfen, tickt die Zeit erbarmungslos. Außer­dem ist ein hartleibiger Militär der Ansicht, er könne der Gefahr mit dem Einsatz einer Nuklearbombe beikommen. Das gilt es natürlich auch zu verhindern.

Grayson Pierce folgt alsbald einer Fährte, die ihn buchstäblich ans andere Ende der Welt führt – in die Antarktis, wo ein For­scher, der mit Hess zusammenarbeitete, weilt und hier unter dem Eis eine unglaubliche Entdeckung gemacht hat, die unmit­telbar zur gegenwärtigen Bedrohungslage führte. Doch Profes­sor Alex Harrington, der erwähnte Forscher, hat ganz offensicht­lich mächtige Feinde, die ihm sehr dicht auf den Fersen sind. Ehe Pierce mit seinem Kollegen Kowalski, der ihn begleitet, recht versteht, was los ist, muss er sich mit denselben briti­schen Elite-Söldnern herumschlagen, denen er auch bereits in Washington begegnet ist und die gnadenlos über Leichen ge­hen.

Als er schließlich endlich Professor Harrington begegnet, findet er sich in einer phantastischen, monströsen Unterwelt wieder, die von so genanntem „Schattenleben“ nur so wimmelt und die seit Millionen von Jahren von der Umwelt abgeschlossen war. Hier entbrennt alsbald ein erbarmungsloser Kampf auf Leben und Tod – zwischen Pierce, Harrington und den anderen Einge­schlossenen, den Männern von der X-Schwadron andererseits, und dann ist da auch noch das unheimliche, tödliche Schatten­leben ringsherum. Zeitweise kommt man sich tatsächlich vor wie in einer schattenhaften Form von Jurassic Park, und das ist sicherlich kein Zufall.

Die Fährte des entführten Wissenschaftlers führt derweil nach Südamerika, wo Dr. Hess endlich den Drahtzieher hinter dem ganzen Chaos zu sehen bekommt – und von der „dunklen Gene­sis“ erfährt, die das Ende der Menschheit einläuten soll, wie wir es kennen. Und er wird erpresst, zu kooperieren. Entweder er­fährt er, wie die sich wild ausbreitende mikrobielle Verwüstung in Kalifornien zu stoppen ist oder die Welt, wie er sie kennt, hört auf zu existieren. Dummerweise soll sie auch dann enden, wenn er kooperiert, dann aber auf viel schrecklichere Weise.

Da ist jetzt guter Rat teuer, und Direktor Painter Crowe, der als einziger noch handlungsfähig wäre, kommt beinahe zu spät für alles …

Zugegeben, der Roman liest sich – in meinem Fall – locker in zwei Tagen, und es ist auch nicht zu bezweifeln, dass er außer­ordentlich spannend und hochdramatisch ist. Vieles, was James Rollins speziell zum biologischen Hintergrund der Geschichte am Ende aufdröselt, ist dann tatsächlich geeignet, den Leser grausen zu lassen. Denn zahlreiche Fakten, die er in seinem Ro­man ins Extrem fortspinnt, sind alles andere als freie Fiktion.

Ja, es gibt gentechnisch veränderte Organismen. Es existiert so­gar die nicht auf DNS oder RNS, sondern auf exotischer XNS ba­sierende Form von Leben. Die Fortschritte der Biotechnologie und die leichte Verfügbarkeit von Maschinen zur Manipulation des genetischen Codes sind leider durchaus Realität. Ähnliches gilt auch für zahlreiche der historischen Fakten, die er in die Ge­schichte einwebt. Die Polarexpedition von Robert Byrd hat es tatsächlich gegeben. Die Existenz versteinerter Vegetation am Pol ist verifiziert. Die abgebildeten Karten im Roman sind auch keine Fiktion, desselben die Fraktionierung von Umweltschutz­gruppen, von denen die meisten höchst ehrenwerte Ziele verfol­gen … manche aber auch zu den Extremisten zählen.

Herausgekommen ist also ein definitiv packender, mahnender Roman über die Gefahren menschlicher Hybris und über fehlge­leiteten Idealismus, der buchstäblich über Leichen geht. Was ich an manchen Stellen allerdings vermisste, waren ein paar logi­sche Hintergründe. Wie kommt der Drahtzieher etwa an das vie­le Geld, das er unübersehbar für seine Ziele einsetzt? Wie moti­viert er seine „Selbstmordtruppen“, die sich lieber selbst um­bringen statt in Gefangenschaft zu geraten? Und fügt er seine Familie nur in die Geschichte ein, um einen eher dürftigen Be­zug zum „Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling zu bringen? An diesen Stellen, fand ich, wurde die Geschichte dann doch ein wenig schludrig (vielleicht auch nur nachlässig übersetzt, das ist schwer zu entscheiden). Ebenfalls ist es definitiv von Nach­teil, dass das gesamte Handlungsgeschehen in nicht weniger als 3 Tage gepresst wird. Der daraus entstehende Druck ist doch so enorm, dass er mitunter die Plausibilität vermissen lässt. Ich hätte mir hier gelegentlich ein etwas entspannteres Erzählen gewünscht.

Man merkt jedenfalls durchaus, dass Rollins nach dem finalen Ausschalten der „Gilde“ im 8. Sigma Force-Roman noch nicht recht zu einer neuen Erzählstruktur gefunden hat. Das ist ein bisschen so wie bei James Bond, nachdem im Anschluss an „Diamantenfieber“ (lange) nicht mehr von SPECTRE zu spre­chen war.

Doch dessen ungeachtet ist Rollins mit dieser Geschichte immer noch ein interessanter, spannender und nachdenklich stimmen­der Roman gelungen, der sogar gewisser phantastischer Ele­mente nicht entbehrt, selbst wenn man die Vorbilder z. T. recht klar erkennen kann und sie mitunter selbst benannt werden („Die vergessene Welt“ von Arthur Conan Doyle etwa oder das „Dschungelbuch“). Also gebe ich mit den obigen Einschränkun­gen definitiv eine Leseempfehlung.

© 2022 by Uwe Lammers

Wie gesagt, für den Moment lasse ich es bei der Sigma Force bei den ersten zehn Bänden bewenden. Alsbald, denke ich, wer­de ich die Serie weiterlesen, und dann entstehen unzweifelhaft weitere Rezensionen, das kann ich schon sicher versprechen.

Stattdessen werde ich mich nächstens mal wieder einem alten Bekannten zuwenden, von dem auch zahlreiche rezensierte Ro­mane noch vorliegen, die ich hier noch nicht thematisieren konnte. Die Rede ist von Clive Cussler und seinen Epigonen. Wenn ich es recht gezählt habe, liegen mir hier noch dreizehn ungelesene Werke vor … also, da erwartet euch alsbald noch ei­niges mehr.

In der kommenden Woche kühlen wir uns aber erst mal mit ei­nem erotischen Einzelroman wieder herunter, den ich vor Jahren las. Schaut einfach mal, ob euch diese Lektüre ebenso zusagt wie der obige rasante Thriller.

Bis nächste Woche, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

Leave a Reply

XHTML: You can use these tags: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>