Rezensions-Blog 459: Die DifferenzMaschine

Posted Juni 5th, 2024 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

Steampunk ist eine Literaturspielart der Science Fiction, die man auch als eine Form von alternativer Retro-SF bezeichnen könnte. Sie wird häufig als dystopisch-archaischer Gegenent­wurf zu klassischen Dystopien gesehen und basiert in der Regel auf Technologien des 19. Jahrhunderts, gelegentlich auch mit magischen Zusätzen versehen. Nicht selten wird hier davon ausgegangen, dass die technologische Entwicklung früher als in unserer Zeitskala einen alternativen, vorzeitigen Weg einge­schlagen hat.

Da findet man dann beispielsweise mit Dampfmaschinen ange­triebene Verkehrssysteme schon Jahrzehnte vor ihrer regulären Einführung, was die Gesellschaften gründlich neuen technologi­schen Impulsen aussetzt. Mit der Konsequenz, dass auch be­kannte historische Persönlichkeiten ein anderes Profil bekom­men, Nationengrenzen sich verschieben, Kriege anders verlau­fen und so weiter und so fort.

Und was wäre, könnte man die klassische Alternativweltenfrage stellen, wenn der Computer nicht erst im 20. Jahrhundert seinen Siegeszug angetreten hätte, sondern gewissermaßen, unter Dampf stehend, bereits im 19. Jahrhundert? Es gab bekanntlich schon weit voraus denkende Techniker und Wissenschaftler, etwa Charles Babbage mit seiner DifferenzMaschine.

Und damit landen wir exakt in dem Kosmos des vorliegenden phantastischen Romans. Viel Spaß mit einem unter Dampf ste­henden England des 19. Jahrhunderts, das in den Rausch der Steampunk-Computer des Charles Babbage gerät:

Die DifferenzMaschine

(OT: The Difference Engine)

Von William Gibson und Bruce Sterling

Heyne 4860

576 Seiten, München 1992

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

ISBN 3-453-05380-X

London. Man schreibt den 15. Januar 1855. Die Welt ist eisig, und das Keuchen der dampfmaschinengetriebenen U-Bahnen, das Summen der Telegraphenleitungen und besonders die Ge­räusche der aktiven Dirne Sybil Gerard mischen sich ineinander. Sie wird, ohne es zu wissen, in ein Gespinst hineingezogen, in dem es um Macht, Reichtum und die Weltrevolution geht. Der Südstaaten-General Samuel Houston auf England-Tournee, der kleine Gauner Michael Radley, seine Gespielin Sybil und ein Rä­cher, der Engel von Goliad, sie alle spielen die Hauptrollen in diesem ersten, zum Ende hin blutigen Akt.

Die Welt, in der dieses Spiel beginnt, ist eine ungemein faszinie­rende: sie wird beherrscht von den Radikalen-Lords, den Tech­nokraten um Charles Babbage und Charles Darwin, der Adel hat weitestgehend ausgespielt. Dieses England hat den Iren in der Hungersnot der 1840er-Jahre geholfen und ist mit Frankreich verbündet. Wellington wurde von einer Attentäterbombe zerris­sen, und die Dampfmaschine hat, gesteuert durch Charles Bab­bages DifferenzMaschine, den Siegeszug in allen Bereichen des Lebens angetreten. Selbst der Geheimdienst bedient sich ge­waltiger, mit Lochkarten betriebener DifferenzMaschinen, um Jagd auf Verbrecher zu machen, Dossiers und ähnliches anzule­gen. Karl Marx ist aus Frankreich vertrieben worden und hat sein Exil in Manhattan gesucht, wo er eine kommunistische Re­gierung ausrief, die die Kapitalisten dort einen Kopf kürzer machte.

Von dort kommen nun kommunistisch-gesteuerte Agenten, um einen verheerenden Umsturz anzuzetteln, der in der Gluthitze des Londoner Sommers 1855 auch tatsächlich zu beginnen scheint. Doch dies wird in der zweiten und dritten Iteration (analog zu Kapiteln, deren es fünf in diesem Buch gibt) durch die Brille von Edward Mallory, Paläontologe und Entdecker des Brontosaurus, des so genannten „Land-Leviathan“, geschildert. Er stößt bei einem Motorrenn-Derby zufällig auf die Tochter des amtierenden Premierministers, Ada Byron, wo er sich mit zwei Schurken anlegt, in deren Gewalt Ada zu sein scheint. Er erhält von ihr einen Kasten, den er aufbewahren soll.

Dieser Kasten enthält Lochkartensätze. Um an sie zu gelangen, schrecken die Schurken vor nichts zurück. Sie beginnen Mallo­rys Ruf und den Zusammenhalt seiner Familie systematisch zu zerstören, bis dieser schließlich wutentbrannt in den glutheißen Sommertagen zurückschlägt.

Dies alles vermischt sich wiederum mit dem Geheimdienstchef Laurence Oliphant und seinen Aktivitäten. Oliphant, der von sei­nem Überwachungsstaat par excellence träumt und von Diffe­renzMaschinen und technokratischem „Schnickschnack“ weni­ger versteht, als ihm lieb ist, kommt schließlich in den Besitz der geheimnisvollen Lochkarten, ohne jedoch ihre Bedeutung zu verstehen.

Und Ada Byron, eine zwanghafte Glücksspielerin, die immerzu auf der Suche nach dem „Modus“ ist, jener Rechenroutine, die jedwede mathematische Operation zu lösen imstande ist, sie spielt ebenfalls eine gewichtige Rolle in dem komplexen, sich entwickelnden Drama.

Anfangs scheinen all diese Details eingebettet zu sein in eine kuriose, faszinierend fremdartige Welt, und insgesamt zusam­menhanglos. Doch je weiter man kommt, desto mehr wird klar, welche Rolle beispielsweise Florence Bartlett spielt und wieso es sich empfiehlt, die Plakate, die von halbautomatischen Plaka­tiermaschinen angekleistert werden, genau zu lesen …

William Gibson und Bruce Sterling, DIE zwei Spitzenautoren des Cyberpunk, haben hier ein Werk vorgelegt, das umso überra­schender ist, als es sich in einer Zeit bewegt, die der, in der sie normalerweise zuhause sind, kaum ähnelt (heutzutage würden wir von Steampunk reden, doch ich glaube, dieser Terminus war damals noch nicht en vogue). Sie postulieren in dieser Parallel­welt eine Entwicklung zu einem dampfgetriebenen Informati­onszeitalter, das lange vor unserer Zeit sehr ähnliche Proble­men entwickelt: Ätzender Smog in den Großstädten, allmächti­ge Kontrolle der Geheimdienste und der Regierung über die ein­zelnen Menschen, die gleichsam zu Zahlen und Lochkarten in den gewaltigen Getrieben der DifferenzMaschinen werden, die unablässig rattern und Schicksal spielen. Hierin moderne techni­zistische Gottheiten gleich den antiken Nornen zu sehen, die das Schicksal nach dem Glauben der damaligen Menschen lenk­ten, ist vielleicht keine völlig abwegige Analogie.

Der Verweis von Michael Nagula im Nachwort auf Franz Kafka ist auch so falsch nicht. In der Tat verschwinden in Sterlings und Gibsons Werk die Menschen allmählich aus den Getrieben der Welt bzw. sie werden zu Handlangern einerseits, zu Störfaktoren des Fortschritts andererseits. Die Fehleranfälligkeit der Maschi­nen soll nun durch möglichste Vermeidung des Einsatzes menschlicher Hilfskräfte erreicht werden. Rationalisierung, könnte man auch sagen – also das Ausschalten jener unsicheren Variablen der Gleichung, die besonders Fehler produziert. Die Parallelen dieser Welt zu der unsrigen und die diffizile Technik­kritik, die dort die Euphorie manchmal deutlich eintrübt, beides wirkt seltsam vertraut und beängstigend zugleich.

Doch darüber hinaus brilliert dieser Roman durch die Macht der Worte, durch zum Teil sehr subtilen, aber dennoch äußerst tref­fenden Humor und eine große Reihe von absurden Gestalten. Ob es sich dabei um Disraeli handelt, einen populären Schrift­steller, der es NICHT zum Politiker gebracht hat, sondern statt­dessen Liebesromane schreibt und als Ghostwriter beispielswei­se für Mallorys Memoiren zuständig ist (und zum Frühstück in Gin gebratene Makrele isst!); ob es sich um Hetty handelt, eine Dirne, die Freundin von Sybil ist und äußerst kalkulierend für alle Dienstleistungen, die sie bringt und für alles, was ihre Wir­tin ihr und ihren Freiern gibt, noch kleine Beträge ausbedingt; ob es sich um eine Giftmischerin handelt, die als Kommunistin und Hure „freie Liebe“ und das Ende der Ehe propagiert … all diese lebendigen Details und Personen machen den Roman „Die DifferenzMaschine“ zu einem äußerst kurzweiligen Ver­gnügen trotz seines Umfanges. Ich wünschte mir am Ende wahrlich, er wäre noch weitergegangen.

Das ist denn wohl die beste Eigenschaft von Parallelweltenro­mane auf einen aufgeschlossenen und kreativen Geist. Sie las­sen ihn nicht mehr in Ruhe, selbst wenn man sie verlassen hat, sondern sie bohren sich ideell unerbittlich immer tiefer hinein in das Selbst und verlangen geradewegs danach, weitergespon­nen zu werden. Als Fan von Parallelweltgeschichten, von denen ich wirklich eine Menge kenne, muss ich sagen, ist das hier mit Abstand eine der besten und am klügsten durchdachten. Ein Schmuckstück zeitgenössischer Science Fiction, das man wirk­lich kennen sollte.

© 1998 / 2023 by Uwe Lammers

tja, und dennoch möchte ich betonen, dass sowohl diese Re­zension im Berg meiner zahllosen Werke vergessen war, ehe ich sie kürzlich wieder ausgrub und abschrieb. Und ob der Roman selbst heutzutage noch bekannt ist, darf man bezweifeln, ob­gleich er so gut ist.

Ich bleibe dabei: Er lohnt definitiv eine Wiederentdeckung!

In der nächsten Woche wechseln wir das Jahrhundert und reisen in die Prohibitionszeit der Vereinigten Staaten, zurück zum Van Dorn-Ermittler Isaac Bell.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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