Liebe Freunde des OSM,
seit dem Tod von Clive Cussler vor ein paar Jahren hat es den Anschein, als würden sich die von ihm ersonnenen Figuren nach und nach emanzipieren und ein munteres Eigenleben zu ent-wickeln beginnen. Wir kennen das, beispielsweise, von Jason Bourne, einer zentralen Figur der Romane des ebenfalls schon lange verstorbenen Robert Ludlum, der inzwischen schon in 15 Romanen durch die Weltgeschichte geistert. Das hätte sich der ursprüngliche Erfinder kaum träumen lassen.
In gewisser Weise ist das ein literarisches Phänomen, das nicht ohne Vorbild ist. Hier könnte man auch auf Sherlock Holmes verweisen, das sich von Arthur Conan Doyle gründlich emanzipiert hat … aber dabei bedauerlicherweise an einen sehr kleinen Zeitabschnitt festgetackert ist.
Bei den Romanfiguren von Clive Cussler ist das deutlich anders, und das merkt man besonders nachdrücklich an diesem experimentellen Roman. Die Autorin Robin Burcell verbindet hierbei nämlich den Romankosmos um den Detektiv Isaac Bell, der üblicherweise Anfang des 20. Jahrhunderts ermittelt, mit dem des Schatzsucher-Ehepaars Sam und Remi Fargo. Das ist ein Experiment, das ich überaus reizvoll und sehr phantasiereich erzählt fand.
Noch etwas fiel mir als langjährigem Leser der Cussler-Romane deutlich auf: Robin Burcell kennt ihren Cussler-„Kanon“ auch sehr gut, denn um die Geschichte abzurunden, griff sie zu einem mir wohlvertrauten Kniff der tiefen Vergangenheit. Wer am Ende des Buches wissen möchte, wovon ich rede, dem rate ich dazu, ein Buch von Clive Cussler wiederholt zu schmökern, das er 1976 veröffentlicht hat.
Nein, mehr sei hier nicht verraten. Jetzt werfe ich euch mal mit großem Vergnügen mitten hinein ins wilde Abenteuer und schicke euch auf die Jagd nach dem „grauen Phantom“:
Das graue Phantom
(OT: The Gray Ghost)
Von Clive Cussler & Robin Burcell
Blanvalet 0780; 2019, 11.00 Euro
576 Seiten, TB
Übersetzt von Michael Kubiak
ISBN 978-3-7341-0780-1
Die verwickelte Geschichte, die sich auf zwei Handlungsebenen über mehr als hundert Jahre ausdehnt, beginnt im März 1906 in Manchester, England. Die Automobilfabrikanten Charles Rolls und Henry Royce sind dabei, als Pioniere der Automobilisierung ein Fahrzeug zu erbauen, das die Fahrtechnik revolutionieren soll, den 40/50hp. Um ihn pünktlich für eine Motor-Show fertig zu stellen, benötigen sie aber noch einige Teile, die mit dem Zug angeliefert werden sollen. In diesen Prozess sind der junge Jonathon Payton, 5th Viscount Wellswick und sein Cousin Reginald Oren mit involviert.
Doch die Teile kommen nie an: Der Zug wird überfallen, der zugleich auch eine andere geldwerte Fracht beförderte. Ebenso wie diese Fracht werden die Motorteile gestohlen. Dabei kommen zwei Bahnbedienstete ums Leben und schließlich auch noch ein engagierter Detektiv, der den Bahndiebstahl aufklären soll. Und schließlich verschwindet auch noch der Fahrzeugprototyp, der so genannte „Gray Ghost“.
Daraufhin schaltet sich ein amerikanischer Privatdetektiv der Van Dorn-Agency ein, Isaac Bell.
Da beginnt der Leser schon zu stutzen: Ist Isaac Bell nicht eigentlich der Protagonist einer alternativen Romanreihe von Clive Cussler? Was sucht er in einem Roman von Robin Burcell, die doch recht eigentlich inzwischen den Staffelstab für die Abenteuer des Schatzsucher-Ehepaars Sam und Remi Fargo übernommen hat?
Nun, damit haben wir dann die zweite Handlungsebene vor uns, die im 21. Jahrhundert spielt – denn hier tauchen Sam und Remi Fargo tatsächlich auf. Sie werden von Sams Mutter Eunice „Libby“ Fargo kontaktiert. Sie sollten entfernten Verwandten aus England helfen, die in Schwierigkeiten geraten sind. Die Fargos, die von diesen Verwandten noch nie gehört haben, sind verständlicherweise reserviert – sie sind sehr wohlhabend, und wie üblich tauchen gerade bei solchen Menschen gelegentlich schnorrende Zeitgenossen mit abenteuerlichsten Geschichten auf und bitten in der Regel um finanzielle Zuwendung.
Hier verhält es sich aber anders.
Die beiden Verwandten sind der schon teilweise demente Albert Payton, 7th Viscount Wellswick und sein Neffe Oliver Payton. Auf etwas rätselhafte Weise sind sie in arge finanzielle Schieflage geraten und wollen nun schweren Herzens einen Oldtimer veräußern, nichts Geringeres als den „Gray Ghost“, der nach 1945 in einer Scheune auf dem Gelände der Paytons wieder gefunden worden ist. Durch den Verkauf soll der Besitz der Paytons gerettet werden und deren Bedienstete.
Doch seltsamerweise werden die Paytons auf einer Motorshow in Amerika, wo sie die Fargos treffen, beobachtet und verfolgt. Das macht das Ehepaar verständlicherweise argwöhnisch, und sie entschließen sich, doch mal einen Blick auf das wunderliche Fahrzeug zu werfen, das sich natürlich noch in England befindet.
Das gelingt ihnen im Rahmen einer Autoausstellung, wo es der Öffentlichkeit präsentiert wird … aber ehe sie es genauer in Augenschein nehmen können, wird es gestohlen. Und dieselben Männer, die schon in Kalifornien die Paytons ausspionierten, sind darin auf sehr manifeste Weise involviert.
Nun wird endgültig klar, dass die englischen Verwandten ernsthafte Opfer einer kriminellen Verschwörung sind – aber die Frage ist, was ist eigentlich der Hintergrund? Geht es nur um das Auto, oder gibt es da noch einen anderen Grund? Die baldigen Recherchen der Fargos, die umso eindringlicher werden, als man ihnen rasch nach dem Leben trachtet und sie beinahe erschießt bzw. in einer Werkstatt einzuäschern sucht, bringen interessante Details ans Licht.
Die Beute aus dem Bahnüberfall von 1906 ist offensichtlich damals nur teilweise sichergestellt worden. Der heutige Gegenwert des Geraubten liegt in Millionenbereich. Und es hat den Anschein, als wäre einst am oder im „Ghost“ ein Hinweis auf das Schatzversteck hinterlassen worden. Die heutigen Diebe scheinen darüber bestens im Bilde zu sein. Denn sie geben sich jede erdenkliche Mühe, des Wagens habhaft zu werden.
Dummerweise werden sie von einer dritten Fraktion ebenfalls beraubt, und der Wagen, der tatsächlich zum Phantom zu werden droht, verschwindet von neuem. Sowohl die ursprünglichen Diebe wie die Fargos nehmen die Fährte auf. Wie das auf einmal dazu führt, dass die Schatzsucher mittel- und kontaktlos in Italien stranden und sich auf abenteuerlichste Weise neue Geldmittel besorgen müssen, das ist in der Tat ein sehr vergnüglich zu lesendes Garn.
Der Roman ist auch deshalb interessant experimentell, weil er auf nicht unintelligente Weise zwei Handlungsebenen miteinander verknüpft. Wir haben hier sowohl zum einen ein indirekt erzähltes Isaac Bell-Abenteuer (vermittelt über das Tagebuch von Jonathon Payton – das zwischenzeitlich auch verschwindet) als auch ein turbulentes Fargo-Adventure. Dabei ist es bisweilen schwierig, den Handlungspfaden zu folgen, eben weil so viele Fraktionen involviert sind. Es gibt nicht umsonst 4 Seiten Handlungspersonen (kritisch ist anzumerken, dass viele davon, auch wichtige, bedauernswert nur mit Vornamen geführt werden, was ich ein wenig armselig fand). Ebenfalls erschwerend kommt hinzu, dass die familiären Verwicklungen der Familienzweige Payton und Oren in Gegenwart wie Vergangenheit einigermaßen verfilzt sind. Wer sich mit solchen Gegebenheiten nicht auskennt, kommt leicht bei der Lektüre ins Schleudern. Selbst ich brauchte deshalb acht Tage, um mich durch die Geschichte zu schmökern.
Letztlich hat aber der Einfallsreichtum aller Seiten sehr dazu beigetragen, diese Schwächen der Geschichte zu kompensieren. Sowohl die Fargos als auch ihre Antagonisten sind nicht unintelligent. Natürlich hätte ich mir schon gewünscht, gerade zum Schluss, dass die Person des Colton Devereux besser konturiert wird, sie bleibt doch ziemlich schillernd. Auch fällt auf, dass Selma Wondrashs Assistenten Pete und Wendy zwar im Personenverzeichnis auftauchen, im Roman aber gar nicht … hier wäre etwas mehr Sorgfalt ebenfalls angebracht gewesen.
Und ein wenig holprig ist dann gegen Ende die indirekte Isaac Bell-Spur. Hier werden immer wieder Lektüre-Kapitel eingeflochten, um die Jonathon Payton-Geschichte abschnittsweise zu erzählen. In den Fargo-Kapiteln wird dagegen ständig davon gesprochen, das Tagebuch sei „mehrmals gelesen“ worden … da gerät der schriftstellerische Trick mit dem Tagebuch doch so arg an seine physischen Grenzen.
Gleichwohl hat mir diese faszinierende Jagd nach dem „Gray Ghost“ über die Kontinente absolut gefallen, eben weil es ständig neue Wendungen gibt, unerwartete Hindernisse und einfallsreiche Kompensationsstrategien. In gewisser Weise hat man hier also ein Two-in-One-Adventure vorliegen. Es erfordert natürlich von beiden Lesergruppen – den Isaac Bell-Lesern wie den Fargo-Lesern – ein wenig Akzeptanz, und erstere sind sicherlich mit Recht eher enttäuscht als letztere. Doch die Kombination hat ihren unleugbaren Reiz. Später wird diese Art des Erzählens von Jack du Brul in seinem Roman „Die TITANIC-Verschwörung“ tendenziell wiederholt.
Alles in allem ein lesenswerter und zu empfehlender Roman.
© 2024 by Uwe Lammers
Ich würde sogar sagen, dass ich am Ende der Rezension im Frühjahr 2024 ziemlich tief gestapelt habe. Der schöne, dicke Wälzer ist ein verdammtes Lesevergnügen und absolut nicht nur was für Autofans (für die natürlich besonders, klar). Es hat ein bisschen was von „Warten auf Godot“ an sich, denn den weitaus größten Teil der Geschichte bleibt der „Ghost“ genau das, was der Name sagt – ein Phantom, unsichtbar, verschoben von einer Stelle an die nächste … und das gilt dann erst recht für den damit in Zusammenhang stehenden Schatz. Hier kann man mit Fug und Recht sagen: Der Weg ist das Ziel.
In der kommenden Woche setze ich die Achterbahnfahrt der Themen fort. Dann schauen wir uns mal einen wirklich uralten SF-Roman an, den vermutlich kaum mehr jemand kennt.
Bis dann, mit
Oki Stanwers Gruß
euer Uwe.