Rezensions-Blog 527: Das Kind von morgen

Posted September 24th, 2025 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

ich glaube, ich wiederhole mich, wenn ich betone, dass ich Ray Bradbury, der leider schon längst von uns gegangen ist, für ei­nen Großmeister der Kurzgeschichte halte. Wenn er gut über­setzt ist, zieht der magische Zauber seiner ersonnenen Welten und bisweilen bizarren Settings den Leser unvermeidlich in die Geschichten hinein, und oftmals ist man wirklich perplex, wor­um es da dann geht … das passiert auch in der vorliegenden Storysammlung, in der es um Zukunftstechnologien, Zeitreisen und vieles andere mehr geht.

Ich mag hier nicht zuviel vorwegnehmen, nur soviel noch für all jene unter euch, die mit Ray Bradbury noch keine Berührung gemacht haben: Dieser exzellent übersetzte, vielschichtige Kurzgeschichtenband legt verschiedenste Facetten seines Wer­kes frei, und ich bin – als bekennender Fan, eingestanden – der Ansicht, dass sich jede einzelne davon lohnt, genauer erkundet zu werden.

Schaut einfach einmal, was ihr davon halten mögt, Freunde:

Das Kind von morgen

(OT: I sing the Body Electric!)

von Ray Bradbury

Diogenes Verlag, Zürich 1984

Neu als detebe 21205

368 Seiten, TB

Aus dem Amerikanischen von Christa Hotz und Hans-Joachim Hartstein

ISBN 3-257-21205-4

Ray Bradbury unterscheidet sich von allen anderen Science-fic­tion-Autoren dadurch, dass er ein Dichter ist. Er hat Visionen. Es gibt Geschichten, bei denen könnte einen der Schlaf fliehen … aber wozu erzählen? Kauft! Es ist, als habe der Erfindungsreich­tum dieses Mannes keine Grenze.“

So rezensierte und kommentierte Richard Kirn einst Bradburys Geschichten in den 80er Jahren in der Frankfurter Neuen Presse, und fürwahr, wenn man sich diese Collection von kurzen und längeren Kurzgeschichten – 17 allein in diesem Band – ansieht, die zwischen 1948 und 1969 entstanden sind (1969 erschien die amerikanische Originalausgabe), so kommt man nicht um­hin, Kirns Urteil beizupflichten. Vielleicht sollte ich ein paar klei­ne, exemplarische Beispiele aus dem Buch bringen, ehe ich auf die Geschichten selbst eingehe … oder wenigstens auf einige herausragende davon. Es soll ja noch genügend Überraschun­gen für den Leser geben, und ich verspreche euch, davon gibt es wirklich reichlich!

Bradbury ist sowohl in der Vergangenheit daheim wie in der Ge­genwart und der Zukunft, auf der Erde wie auf fremden Gestir­nen, wobei er sich in der Regel aber nicht aus unserem Sonnen­system entfernt. Aber, ach, das ist auch überhaupt nicht nötig. Sehen wir uns zunächst die Vergangenheit an und genießen die unglaubliche Szene beim Frühstück anno 1932 in der Story Das Motel ‚Zum Erleuchteten Huhn’:

Denn jetzt hielt unsere Wirtin die Schachteln vor sich hin und öffnete den kleinen Deckel der ersten.

Und in der Schachtel …

Aber’, sagte Skip, ‚das ist ja nur ein Ei …’

Seht genau hin’, sagte sie.

Und wir sahen alle genau auf das frische weiße Ei, das auf ei­nem kleinen Polster aus der Watte eines Aspirinfläschchens lag.

Hey’, sagte Skip.

Oh, ja’, flüsterte ich, ‚hey.’

Denn dort in der Mitte des Eis, wie von rätselhafter Natur ange­knackst, ausgebeult und modelliert, hoben sich Schädel und Hörner eines Longhorn-Ochsen ab.

Es war so zart und wunderschön, als hätte ein Juwelier das Ei auf irgendeine geheimnisvolle Weise bearbeitet, damit der Kalk sich in gehorsamen Schichten aufbaute, um diesen Schädel und diese wunderbaren Hörner zu formen. Es war also ein Ei, das je­der Junge stolz an einem Bindfaden um den Hals getragen oder mit in die Schule genommen hätte, wo Freunde es atemlos be­gutachten konnten.

Dieses Ei’, sagte unsere Vermieterin, ‚ist, mit dieser Zeichnung, vor genau drei Tagen gelegt worden …’“

Magisch und zum Staunen für die jugendlichen Zuschauer und Leser gleichermaßen, und die Gegenwart ist es nicht minder. Das kann man dann erleben in der ersten Geschichte des Ban­des, Das Kilimandscharo-Projekt (ich komme auf sie noch weiter unten zurück), wo es an einer frühen Stelle heißt:

„‚Sie waren schon oben am Grab?’, fragte mich der Jäger, als wüsste er, dass ich mit Ja antworten würde.

Nein’, sagte ich.

Das überraschte ihn wirklich. Er versuchte, es nicht zu zeigen.

Sie gehen alle hinauf zum Grab’, erklärte er.

Dieser hier nicht.’

Er durchforschte sein Gehirn nach einer höflichen Möglichkeit zu fragen.

Ich meine …’, begann er, ‚warum nicht?’

Weil es das falsche Grab ist.’

Genau betrachtet ist jedes Grab das falsche Grab’, sagte er.

Nein’, erklärte ich. ‚Es gibt richtige Gräber und falsche, genau­so wie es gute und schlechte Zeiten gibt, um zu sterben.’

Er nickte zustimmend. Ich hatte etwas zur Sprache gebracht, das er kannte oder von dem er wenigstens spürte, dass es zu­traf.

Aber was kann man gegen falsche Gräber tun?’, fragte er.

Sie so behandeln, als existierten sie nicht’, erklärte ich. „Viel­leicht verschwinden sie dann wieder, wie ein böser Traum.’

Der Jäger lachte auf, eine Art hilfloser Schrei. ‚Gott, Sie sind ver­rückt. Aber ich höre verrückten Leuten gern zu. Machen Sie nur weiter.’

Das ist alles’, sagte ich.

Sind Sie die Auferstehung und das Leben?’, fragte der Jäger.

Nein.’

Rufen Sie: Lazarus, komm heraus?’

Nein.’

Was dann?’

…“

Wer den Rest kennen möchte, der wirklich lesenswert ist, der lese in der Geschichte weiter. Sie lohnt sich und ist in ihrer Aus­sage wirklich reine Magie, höchst beeindruckend.

Und dann springen wir ans Ende der Anthologie, zu der Ge­schichte Die verschwundene Marsstadt, wo wir auf folgende Passage stoßen:

Die Stadt war wirklich eine Stadt und bis zu einem gewissen Punkt selbsterhaltend. Aber schließlich sanken die seltensten Schmetterlinge aus metallenem Filigran, gasförmigem Öl und feurigem Traum zu Boden, die Maschinen, die Maschinen repa­rierten, die die Maschinen reparierten, wurden alt, krank und beschädigten sich selbst. Hier also war die Tier-Werkstatt, der verschlafene Elefanten-Friedhof, wo die Aluminiumdrachen her­umkrochen und ihre Seelen herausrosteten, auf ein lebendes Wesen hoffend, das zwischen soviel aktivem, aber totem Metall übrig geblieben war, und dieses Wesen sollte die Dinge wieder in Ordnung bringen. Ein Gott der Maschinen, der sagen sollte: Du, Lazarus-Lastenheber, steh auf! Du, Hovercraft, werde wie­dergeboren! Und der sie mit Leviathan-Öl einschmieren, mit ei­nem magischen Schraubenschlüssel auf sie klopfen und sie in ein beinahe ewiges Leben in und auf der Luft und über die Quecksilberpfade schicken sollte …“

Genug der stilistischen Preziosen, die den Mund der Neugieri­gen hinreichend wässrig gemacht haben sollten (und ich versi­chere euch, dies ist nur ein klitzekleiner Eindruck herrlicher wei­terer Wortlandschaften und Metaphernfelder, die Bradbury über die Seiten verteilt, so, wie ein großzügiger Künstler Farbe auf mächtigen Bahnen Leinwand ausbreitet und sie so komponiert, dass ein Meisterwerk daraus wird. Sagen wir stattdessen noch ein wenig zu den Geschichten selbst, zu einigen Appetithappen, wie angekündigt:

Die vielleicht raffinierteste Geschichte (definitiv geschrieben nach 1961, aber wohl nicht sehr viel später!), kommt gleich ganz zu Beginn. Das Kilimandscharo-Projekt erfordert Kenntnis, das zielsichere Zugreifen auf biografische Daten: ein junger Mann fährt mit einem Lkw nach Ketchum in Idaho, wo auf einem Hügel ein Grab liegt. Der Lkw ist eine Zeitmaschine, und der Fahrer fährt solange in der Zeit zurück, bis das Grab verschwin­det und er am Straßenrand auf einen alten Mann stößt, den er mitnehmen möchte – zum 10. Januar 1954, zum Kilimandscha­ro. Der Mann, aber das wird nirgendwo erwähnt, ich sagte ja, man muss es erschließen, heißt Ernest Hemingway. Am 10. Ja­nuar 1954 stürzte er bei einer Afrikasafari nahe dem Kiliman­dscharo ab, überlebte jedoch. Und am 2. Juli 1961 erschoss er sich aus Depressionen in seiner Heimat in Idaho … doch dann kommt ein junger Mann mit einem zeitreisenden Lkw vorbei …

Die schreckliche Feuersbrunst drüben im Landhaus ist eine furchtbar absurde Geschichte, die gerade wegen ihrer Mensch­lichkeit und Absurdität so herausragt aus den anderen: in Irland findet am 24. April 1916, aufgestachelt von deutschen Ge­heimagenten, ein nationalistischer Aufstand statt, der als „Os­teraufstand“ in die Geschichte eingehen soll und am 30. April 1916 scheitert. Aber darum geht es hier nicht. Es geht nur um die eine Nacht, als eine Gruppe von irischen Hitzköpfen sich ein­findet, um das Anwesen von Lord Kilgotten niederzubrennen. Als erstes vergessen sie die Streichhölzer und beschließen, sich von ihrem Opfer welche zu borgen … und dann lassen sie sich auf Diskussionen ein, die zu einer Hausbesichtigung und zu im­mer größerer Verlegenheit führen. Keine phantastische Ge­schichte, aber wegen ihres Verlaufs gerade umso phantasti­scher …1

Das Kind von morgen hätte eigentlich ein ganz normales Kind sein können … aber dummerweise kommt es bei der Geburt zu Komplikationen, und so wird es in die vierte Dimension hinein­geboren, und das, was der erwartungsfrohe Vater nach der Ent­bindung zu sehen bekommt und der frischgebackenen Mutter Verzweiflungsschreie entlockt, ist eine blaue Pyramide. Da ist guter Rat wirklich teuer, aber die Ärzte und Wissenschaftler ar­beiten mit Hochdruck daran …

Anruf nachts, R-Gespräch spielt nicht auf der Erde, sondern auf dem Mars, wie so viele Bradbury-Geschichten. Der greise Bar­ton ist der letzte Mann auf dem Mars anno 2097. Auf der Erde hat 2037 der Nuklearkrieg begonnen, die Raumfahrt ist einge­stellt, und nur Barton ist noch dort … bis er angerufen wird. Am Telefon ist sein jüngeres Ich, das ihn aus dem Jahr 2037 heraus anruft… oder wenigstens scheint es so, bis sich Barton erinnert, was das alles tatsächlich bedeutet – und ein Alptraum seinen grässlichen Lauf nimmt …

Ich singe den Leib, den elektrischen!, und wie! Timothy, Agatha und Tom verlieren als kleine Kinder ihre Mutter, und ihr Vater steht nun vor der verzweifelten Aufgabe, eine Identifikationsfi­gur zu finden, die einerseits die Mutter ersetzt, andererseits aber auch die schwer verwundeten Kinderseelen heilen kann und allseitig akzeptiert wird. Schwierige Kinder. Eine schier un­lösbare Aufgabe … ja, vielleicht. Aber dann entdecken sie die Fantoccini GmbH, spezialisiert auf elektrische Großmütter, und nach einem Besuch in der altehrwürdigen Firma erhalten sie tat­sächlich einen stählernen Sarkophag der Zukunft zugestellt, in der sie liegt und zum Leben erweckt wird – ihre elektrische Großmutter …

Der Mann im Rorschach-Hemd hingegen ist wieder ein ganz diesseitiges Wesen, ein Psychiater, der von einem Tag zum nächsten spurlos aus seiner Praxis verschwunden ist, Dr. Bro­kaw, ein blendendes Genie, dessen Verschwinden unter Studen­ten und Kollegen Rätselraten auslöste, weil es gar so unver­ständlich und unerklärlich blieb. Und dann, eines Tages und zehn Jahre später, stolpert der frühere Student Simon Wincelaus über ein papageiengleiches, wildes, tänzerisches Wesen in ei­nem kalifornischen Bus, gewandet in ein Hemd mit psychedeli­schen Ornamenten und Verzierungen – es ist Dr. Brokaw, und was er zu erzählen hat, ist zugleich eine sarkastische Abrech­nung mit dem Wesen der amerikanischen Psychologenzunft (mit der Bradbury möglicherweise negative Erfahrungen gemacht hat) …

Es wimmelt in diesen Geschichten von seltsamen Menschen, von absonderlichen Wesen jenseits des normalen Mainstreams, und wann immer Bradbury auch autobiografische Details einflie­ßen lässt, verfremdet er sie doch gleich wieder – die Geschichte mit dem Motel Zum Erleuchteten Huhn ist so ein Fall.

Themen wie Alter und Tod und Verfall sind oft zentral, und unter den arabesken Mustern und Verschnörkelungen seiner phantas­tisch einfallsreichen Sprache treten immer wieder gewisse Strukturen zutage, die alltagskritisch Themen durchleuchten: ob es die Frage des würdigen Sterbens ist, ob es die amerikanische Gesellschaft ist, ob es die hierarchischen Stereotypen und die Unbekümmertheit und Oberflächlichkeit vieler Menschen (na­mentlich natürlich seiner amerikanischen Mitbürger) sind …

Stets steht der Mensch im Zentrum der Geschichten. Weniger die einsamen, an der Gesellschaft verzweifelnden Kämpfer der Dick’schen Phantastik, mehr die schlichten, von ihrer Rolle im Lebensplan absorbierten Personen, die jene Rolle spielen, die Bradbury ihnen gleich Schauspielern auf den Leib geschneidert hat … und dann doch eben wieder nicht. Figuren, die Bradbury mit einer solchen warmen Herzlichkeit und Natürlichkeit schil­dert und skizziert, dass man sich vorstellen könnte, sie im nächsten Straßencafé zu treffen oder in Nachbars Garten.

Dass Geschichten in der Aporie – oder der Hoffnung jenseits des privaten Desasters – enden, ist auch durchaus nicht unüblich. Auf diese Weise trifft auch den Kern, was der Rezensent Helmut Winter in der FAZ zu Bradburys Werken schrieb: „Der Geist als Widersacher der Technik – das ist eine typische Bradbury-Kon­stellation. Bradbury hat die Science Fiction intellektualisiert, die technische Utopie romantisiert und der Horrorgeschichte eine sozialkritische Beimischung gegeben.“

Wahrhaftig, daran ist viel Richtiges. Aber das, was Bradbury wirklich auch jenseits davon noch höchst lesenswert macht (wenn er – wie hier – gut übersetzt wurde), das ist seine zeitlose Formulierungskunst, die sich aus beinahe lyrischen Satzpalästen nährt. Man könnte sagen, um im Bradbury-Kosmos zu bleiben, wenn dereinst der heute hoch betagte Bradbury einmal nicht mehr unter uns weilt, dann werden wir uns auf die Suche nach der Essenz seines Lebens und seines Schreibens begeben, in­dem wir sein Gesamtwerk von neuem in uns aufsaugen und durchleben … ganz so, wie er seine Protagonisten auf die Suche nach der sterbenden und versunkenen Marskultur aussandte, die langen Kanäle entlang, eine Ruinenstadt nach der nächsten durchquerend, immer auf der Suche nach der verlorenen Marss­tadt.2

Und wer weiß, wer dieses Buch gelesen hat und auf den Ge­schmack gekommen ist, der hat sie vielleicht sogar gefunden. Langeweile kommt hierbei bestimmt nicht auf.

© 2010 by Uwe Lammers

In der kommenden Woche werden wir wieder deutlich entspann­ter, dann wird der Stil einfacher, schlichter, auch das Sujet des erotischen Romans verlangt dann keine signifikante anspruchs­volle Denkleistung.

Warum ich den Roman dennoch rezensiere? Nun, lasst euch mal überraschen.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

1 Leider weiß ich zu wenig über den Osteraufstand. Anderenfalls könnte es ja durchaus sein, dass es den nämlichen Brand tatsächlich gegeben hat und Bradbury hier mit der historischen Zeit ebenso spielt wie bei der Kili­mandscharo-Geschichte … ich kann es einfach nicht sagen.

2 Anmerkung vom 19. Januar 2025: Ihr merkt, dass ich diese Rezension noch zu Lebzeiten Bradburys geschrieben habe. Leider ist der oben noch hypothetische Fall seines Ablebens inzwischen unwiderrufliche Realität.

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