Wochen-Blog 190: Kreative Stimuli

Posted Oktober 24th, 2016 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

die Kreativität ist ein rätselhaftes Land mit ungewissen Gezeiten, die kommen und gehen, wie sie wollen. Oftmals sind große Geister in der Vergangenheit mit Zauberern verglichen worden, ganz gleich, welche Profession sie ausübten. Männer und Frauen, die aus schlichten, amorphen Farben auf einer Palette phantastische Bildlandschaften auf die Leinwand zauberten, wie man sie nie­mals zuvor gesehen hatte. Menschen, die Gestalten von beklemmender Reali­tätsnähe aus dem harten Stein meißelten, andere hingegen, die Buchstabenrei­hungen vornahmen und betörende, fesselnde Visionen zu Papier brachten. Schweigen wir von den Musikern, von Architekten und all den anderen klugen, unkontrollierbaren Geistern, die im Flow die erstaunlichsten Dinge erschufen.

Sie alle waren und sind Jünger und zugleich Teil des rätselhaften Pools der Krea­tivität, der wie eine gewitterschwangere Wolke über der Menschheit wabert, seit Jahrtausenden schon, wie ich schätze. Wahrscheinlich ist der Zugang zu die­sem Reservoir gebunden an eine gewisse Entwicklung der neuronalen Kapazitä­ten des menschlichen Verstandes, und wenn man mehrheitlich damit befasst ist, sich den Lebensunterhalt mühsam zu erarbeiten, dann sind einfach keine mentalen Freiräume für das Ausbauen und Entwickeln der Kreativität vorhan­den.

Womit aber mag ein Mensch, der in diesen Bereich eintritt, letzten Endes seine kreative Ader stimulieren? Das ist vermutlich von Person zu Person, von Land zu Land, sicherlich auch von Zeitalter zu Zeitalter unterschiedlich. Aber vielleicht pflichtet ihr mir bei, wenn ich sage, dass die Möglichkeit, seine kreativen Poten­tiale zu entdecken, niemals größer waren als in unserem aktuellen Zeitalter.

Woran liegt das und wie komme ich zu dieser Auffassung?

Nun, ich gehe da aus nahe liegenden Gründen von mir selbst aus. Als ich be­gann, meine kreativen Fertigkeiten auf dem Sektor des Schreibens und Illustrie­rens zu entwickeln, da befanden wir uns alle noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es existierte kein Internet, es gab nur drei Fernsehkanäle, der Zu­gang dorthin war ausgesprochen beschränkt durch elterliche Vorgaben. Ich will nicht leugnen, dass ich da interessante Dinge zu sehen bekam, etwa die Verfilmung des Musicals „My Fair Lady“ mit Audrey Hepburn oder auch die alten „Winnetou“-Verfilmungen mit Pierre Brice. Aber phantastische Stoffe lud ich mir dann doch eher mit Hilfe von Comics und Büchern in mein Hirn, die ich von Schulfreunden, Flohmärkten oder Büchereien organisierte.

Wie schon gesagt, die Möglichkeiten zur Stimulierung der Kreativität waren we­nigstens in meinem Fall eher beschränkt.

Für andere Jahrzehnte und Jahrhunderte gibt es weitere überlieferte Szenarien, die das inspirative Feuer entfachten – da gab es Menschen, die durch lebhafte Träume entflammt wurden. Oder die auf Reisen ganz extraordinäre Erfahrun­gen machten, die sie in ihre Erzählungen einwoben. Besonders Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wären hier zu nennen, ziemlich an der Spitze meiner Auffas­sung nach ein humorvoll-schrulliger Amerikaner namens Samuel Longhorne Clemens, der sich den Künstlernamen Mark Twain zulegte.

Selbstverständlich sind Reisen bis heute als Möglichkeit, Blicke über den Teller­rand des bisweilen engen Lebenshorizonts zu werfen, als inspirative Quellen für die Kreativität nicht auszublenden. Die Wirkung von Reisen auf meine Kreativi­tät schätze ich allerdings eher mäßig ein. Ich habe das jüngst erst wieder erlebt.

Vor ein paar Tagen, gemessen an dem Zeitpunkt, da ich diese Zeilen schreibe, war ich selbst auf Dienstreisen in den Süden Deutschlands und betrat ein paar interessante Ecken, in denen ich noch nie gewesen war – neben dem Frankfur­ter Hauptbahnhof war das insbesondere das idyllische, kleine Städtchen Idstein im Taunus und das bergige Koblenz, wo ich ein Archiv aufsuchte und Akten wälzte.

Für die meisten von euch ist das wohl eher eine Art von Strafe, aber nicht für mich. Ich liebe Archive und unbekanntes Aktenmaterial, und es war eine tolle Erfahrung… sie wurde indes klimatisch eingetrübt, denn ich bin nun wirklich – im Gegensatz zu meiner bewunderungswürdigen Prinzessin Christina von Zhiongar im Archipel – alles andere als gluthitzetauglich. Während Christina sol­che Witterung genießt und sie am liebsten schamlos splitternackt genießt und sich knusperbraun braten lässt (noch freudiger gibt sie sich in solcher Glut der Wonne der Liebe hin), würde ich vom bloßen Gedanken daran in den Kollaps getrieben werden. Ich funktioniere bei solcher Witterung mehr wie eine Kellerassel: geh in Schatten, geh in Deckung, auf dass du nicht vertrocknest.

Ich bin definitiv kein Tropenmensch, und drum setzen mir die aktuellen Tempe­raturen von über 30 Grad auch sehr zu.

Doch zurück zum Thema: Ich sagte, einstmals wurde ich (mäßig) von einem ein­geschränkt zugänglichen Fernsehprogramm stimuliert, stärker dann von Litera­tur und Comics. Ab den späten 70er Jahren kamen Heftromane hinzu, dann An­fang der 80er Kinofilme, und schließlich im neuen Jahrtausend dann Internet­quellen, Streaming und dergleichen.

Meiner Ansicht nach ist es immer noch so, dass ich mental-kreativ wie in mei­ner kreativen Frühzeit funktioniere, und das läuft etwa so: Es gibt so etwas wie einen kreativen Akku tief in meiner Seele, der stetig mit Informationen und in­teressanten Stoffen gefüttert werden möchte. Es ist dabei zunehmend gleich­gültig, welcher Art genau diese Stimuli sind… nur ist es soweit klar, dass dieser Akku oder kreative Dynamo eine gewisse Kapazitätsgrenze besitzt. Wenn sie er­reicht wird, empfinde ich Neulektüre, Filme und ähnliches als fad, während un­terbewusst mein sensibles, kreatives Bewusstsein mit einem aktiven Misch- und Rekombinationsprozess begonnen hat.

Dann kommt der Moment der kreativen Entladung. Bilderströme suchen mich heim und drängen nach Realisierung. Dabei kann es gut passieren, dass in weni­gen Tagen Geschichten von vierzig oder fünfzig Seiten gewissermaßen wie von selbst aufs Papier kondensieren (bzw. heute: auf den Bildschirm). Es ist ein biss­chen gleich einem Sturm im Hirn, der unaufhaltsam ist und sich nur bedingt verzögern lässt. Ein Neurologe würde vielleicht eine gewisse Parallele mit einem „Anfall“ herzustellen suchen, doch wäre das ein pathologischer Vergleich.

Meines Erachtens hat ein kreativer Flow mit Pathologie nichts zu tun. Es han­delt sich dabei um eine Gabe, um etwas, was ich grundsätzlich positiv konnotie­re, so unkontrollierbar es auch im Detail sein mag. Manchmal war ich früher so tief versunken, dass ich, wenn ich wieder „in der Realität“ auftauchte, voller Verwunderung und Staunen auf das schaute, was ich geschrieben hatte und es nur schwer einzuordnen wusste.

Überrascht es, dass ich in den 80er und frühen 90er Jahren gelegentlich die Auffassung in Diskussionen vertrat, es handele sich um „Eingaben“, Informati­onsblenden aus dem Irgendwo oder Irgendwann? In Anbetracht der angedeute­ten Umstände kann das vermutlich nicht verwundern.

Heutzutage bin ich ein wenig kühler in der Einschätzung. Aber das Mysterium der kreativen Stimuli und ihrer Resultate bleibt nach wie vor schwer zugänglich. Ich hege inzwischen die Überzeugung, dass ich ein mentales Gleichgewicht brauche und mich einseitige Orientierung aus eben jenem Gleichgewicht herauskatapul­tiert, was sich in Fahrigkeit, Nervosität, Unkonzentriertheit und ähnlichen Sym­ptomen äußert. Will also heißen: es bedarf einer gewissen Balance zwischen der beruflichen Beanspruchung einerseits und der kreativen Entfaltung ande­rerseits, damit ich im mentalen Gleichgewicht bleiben kann. Das Bild eines Seil­tänzers, dessen Balancierstange auf einmal unkalkulierbar einseitig belastet wird, wodurch er aus dem Takt gerät und in Absturzgefahr, ist hier vermutlich angebracht. Recht ähnlich empfinde ich das auch.

Vielleicht liegt der tiefere Grund für diese Neigung zum Ausbalancieren, zum Gleichgewicht in meinem Sternzeichen, wiewohl ich definitiv nicht an Astrologie „glaube“. Aber eine gewisse Präferenz für das Gleichgewicht ist natürlich in mei­nem Sternzeichen „Waage“ angelegt.

Die kreativen Stimuli kümmert das eher nicht, sie sind überschießend und lei­denschaftlich wie eh und je, und das ist grundsätzlich auch sehr gut. Mögen sich manche kreativen Geister nur zu ihren Höhenflügen aufschwingen können, wenn sie sich mit Reisen, angenehmer Gesellschaft, leidenschaftlichen Affären, einem gewissen Pegel an Alkohol oder anderen Giften stimulieren… ich be­schränke mich dann doch lieber schmunzelnd auf meine bescheidenen Haus­mittel.

Hausmittel, damit ist eben das gemeint, was ich oben andeutete: Lektüre, Fil­me, Ruhe daheim. Flankiert gelegentlich von inspirativer Musik und schmack­haftem Tee, Gesprächen mit guten Freunden und der einen oder anderen ge­meinsamen Unternehmung. Mehr bedarf es wirklich nicht… wenigstens kann ich das rückblickend für die vergangenen 50 Jahre meines Lebens sagen. Wie es sich hingegen in der Zukunft entwickeln wird, vermag ich nicht zu beurteilen. Aktuell schätze ich, wird es so ähnlich weitergehen wie im Gestern.

Und da uns zweifelsohne das Thema der Kreativität in der einen oder anderen Weise noch in vielen weiteren Blogartikeln beschäftigen wird, möge die heutige kleine „Meditation“ zum Thema der kreativen Stimuli für den Moment genü­gen.

In der kommenden Woche nehme ich euch mit in die Kreativbilanz des Monats Juli 2016.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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