Liebe Freunde des OSM,

dass ich ein ausgesprochenes Faible für Parallelweltengeschichten und die Zeit­reisethematik habe, ist für langjährige Leser meines Rezensions-Blogs nun wirk­lich nichts Neues. Schon recht früh habe ich dazu bereits einschlägige Literatur rezensiert.1 Heute habe ich euch ein weiteres Schmankerl aus diesem Bereich herausgesucht, das ich schon vor fast 20 Jahren gelesen und rezensiert habe… und ich finde es immer noch höchst beeindruckend.

Das Schöne an Parallelweltengeschichten ist ja, dass man dazu nicht mal zwin­gend Historiker sein muss, um ihrer Faszination zu erliegen. Weil eben die menschliche Geschichte hier das zentrale Sujet ist und man üblicherweise nicht in unserer Welt leben kann, ohne auf diesem Sektor zumindest ein Mindestmaß an Kenntnissen quasi automatisch aufzusaugen, trifft selbst der Unbedarfte hier auf Geschichten, die ihn packen. Man mag sich nicht für Politik interessieren, Li­teratur oder die Geschichtswissenschaft im Detail… aber die „Was wäre, wenn…?“-Thematik berührt automatisch jeden Lebenskreis.

Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht irgendwann den Wunsch verspürt hätte, gewisse Entscheidungen in seinem Leben anders gefällt zu haben. Und genau in diese Kerbe schlägt die Parallelweltenthematik.

Was, wenn der Entscheidungsbaum einen anderen Weg eingeschlagen hätte?

Was, wenn Menschen länger gelebt hätten, als es in den Geschichtsbüchern stand? Was wäre mit der Geschichte passiert, wenn sie früher verstorben wä­ren? Wäre unsere Welt dann eine bessere? Eine schlechtere?

Herzlich willkommen also in einer neuen Folge der Wahrscheinlichkeitsmi­schung, in der die Karten des Schicksals von Wissenschaftlern, Historikern, Phantasten und Literaten, die sonst dem Phantastischen eher abhold sind, neu gemischt werden. Tretet ein und lasst euch verblüffen:

Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod

von Erik Simon (Hg.)

Heyne-TB 6311

München 2000, 432 Seiten

ISBN 3-453-14912-2

1931 drehte ein Taxichauffeur in New York auf der Suche nach nächtlichen Fahrgästen seine Runden. Es war eine kalte, dunkle Nacht, und als er nach Nor­den in die Fifth Avenue abbog, gewahrte er eine Gestalt, die zu warten schien, dass er endlich auf der fast leeren Avenue vorbeifuhr. In Eile, endlich einen Kun­den zu finden, ignorierte er seine instinktive Regung, zu bremsen, und gab statt­dessen Gas. Er überfuhr den ziemlich untersetzten Mann, der ihm, den Blick wohl in die falsche Richtung gewandt, vor den Wagen lief.

In ihrem Nachruf am Tag darauf sprach die New York Times von Winston Churchills Beitrag zur britischen Politik im Weltkrieg…“

Moooment, ruft jemand? Winston Churchill war doch während des Zweiten Weltkrieges Premierminister in England, und der fing bekanntermaßen erst 1939 an? Nun ja, das war auch in der Welt der Fall, die Williamson Murray spar­tanisch auf zwei Seiten skizziert. Nur dass die Nazis 1947 den Sieg davongetra­gen haben und sich im späten 20. Jahrhundert hier anschicken, Südamerika zum Hauptaufmarschgebiet gegen die eingekesselten Vereinigten Staaten von Amerika zu machen…

Williamson Murray bringt in seiner lapidaren Story „Eines Taxichauffeurs Werk“ eine erschreckende Version von „Was wäre, wenn“. Aber das ist nur ein Blick von vielen.

Erik Simons Anthologie „Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod“ spannt in der Nachfolge der 1931 erschienenen spekulativen Geschichtsverlauf-Antholo­gie „If It Had Happened Otherwise“ von Sir John C. Squire (erstmals deutsch nachgedruckt im Jahr 2000 als „Wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte“ (Heyne 6310), einen Geschichtsbogen vom Jahr 323 vor Christus bis 1995 nach Christus und skizziert anhand von ausgewählten Beiträgen verschiedenster Au­toren alternative Weltverläufe, die zum Teil skurrile Formen annehmen. Ausge­hend von so genannten „Wendepunkten“ der Weltgeschichte, die in erster Linie an großen Gestalten und deren Schicksalen, Kriegen und Erfindungen hängen, kommen faszinierende Versionen dessen zustande, was wir sonst landläufig aus den Geschichtsbüchern kennen.

Da der Platz nicht hinreichend ist und man die Faszination solcher Geschichten in einer Rezension ohnehin nur unzureichend wiederzugeben fähig ist, sollen hier nur ein paar kurze Andeutungen der meisten Geschichten gegeben wer­den:

– Der antike Autor Titus Livius überlegt sich in seinen realen historischen Texten kurz, was geschehen wäre, wenn sich Alexander der Große statt gegen Indien eher gegen Rom gewandt hätte. Nun, Livius ist Römer, sein Fazit ist vorausseh­bar.

– Der große britische Historiker Arnold Toynbee ist mit einem faszinierenden Es­say vertreten, der sich mit dem Gedanken befasst, was hätte geschehen kön­nen, wenn Alexander der Große weitergelebt hätte und nunmehr etwas maß­voller geworden wäre. Er überlebt hier die Krankheit, die ihn im Jahre 323 vor Christus in Babylon dahinrafft und stirbt stattdessen erst im Jahr 287 vor Chris­tus. Die Folgen sind atemberaubend, im wahrsten Sinne des Wortes, aber mit­unter so fachspezifisch, dass sich die feinsten Nuancen nur einem Althistoriker erschließen. Ein Zeichen, wie akribisch diese Vision ist. Ohne Frage ist Toynbees Essay es alleine schon wert, dieses Buch zu kaufen. Wer ein bisschen von anti­ker Geschichte versteht, wird 80 Seiten lang maßlos gefesselt sein.

– Felix Cornelius widmet sich in einem fiktiven Manuskript aus dem Jahre 634 dem grandiosen Sieg der Römer über die Germanen im Jahre 9 nach Christus in der Schlacht bei Kalkriese (allgemein die „Schlacht im Teutoburger Wald“ ge­nannt), um hier ein Loblied auf die Germanen zu singen. Wie das begründet wird, mag man selbst nachlesen.

– Wolfgang Jeschke bringt mit „Die Cusanische Acceleratio“ einen durchwachsen wirkenden Auszug aus einem bislang unveröffentlichten Roman. Doch so bril­lant auch die Grundidee ist – eine Zeitreisende wird in Köln im Jahre 1452 als Hexe verbrannt, und ihre Aufzeichnungen fallen dem Kardinal Cusanus in die Hände, um eine beispiellose Beschleunigung der technischen Entwicklung her­beizuführen – , so eher lieblos zusammengestoppelt kam mir die Ausführung vor. Wer außerdem „Der letzte Tag der Schöpfung“ von Jeschke gelesen hat, erkennt eine Menge Sujets wieder. Trotzdem: nicht reizlos.

– Bizarr kommt G. W. Inomerskis „Alte russische Uchronik“ daher, die mehrere fiktive Texte mit fiktiven Verfassern beinhaltet, die jedoch in unserer Welt reale Gegenstücke hatte (z. B. Alfred Rosenberg, der angeblich hier 1952 über die Krönung Gustav Adolfs von Schweden zum russischen Zaren reflektiert, nach­dem dieser bei der Schlacht von Lützen nur verletzt wurde – in unserer Welt starb er hier und veränderte dadurch die Geschichte des Dreißigjährigen Krie­ges). Hier machte sich ansonsten meine Schwäche bei russischer Geschichte ziemlich stark bemerkbar.

– Gundula Sell lässt Georg Büchner ebenfalls seinen Tod überleben. In „Georg Büchner: Die zweite Lebenshälfte“, getarnt als Auszug aus „Meyers Konversati­onslexikon Band 2, 1880“ findet man ganz erstaunliche und jedem Germanisten UNSERER Welt unbekannte Informationen über Büchners Leben bis zum Jahr 1871, inklusive Vermählung und Nachwuchs, Revolutionsallüren, Bekanntschaft mit Karl Marx und ähnlichen abenteuerlichen Auswüchsen.

– Carl Amery ist mit Auszügen aus seinem phantastischen und grotesken Paral­lelweltenroman „An den Feuern der Leyermark“ vertreten, in der eine zusam­men gewürfelte amerikanische Cowboy-Söldnertruppe mit modernen Feuer­waffen den deutsch-österreichischen Krieg zuungunsten Preußens verändert und eine Deutsche Rheinische Republik ausruft, die schließlich Preußen ent­machtet.

Dann kommt ein ganzer Block um das Thema, das Squire aus realgeschichtli­chen Gründen 1931 nicht bearbeiten konnte: Hitler, Stalin und der II. Weltkrieg.

Ob es darum geht, dass in Stuttgart ein Hitler-Häberle-Museum eingerichtet wird, erbaut von Albert Speer („Requiem für einen Stümper“) oder Hermann Göring schließlich in der Jeans-Industrie groß rauskommt („Vor langer Zeit ver­loren“) bzw. der Kriegsverlauf durch Churchills Tod vorzeitig verändert wird (Murray, siehe Anfang der Rezension), es ist reichlich Platz für bizarre Visionen.

Die Geschichte „Wenn Thälmann 1934 nicht Reichspräsident geworden wäre“, sorgte bei dem von mir im Rahmen der Nachbarschaftshilfe betreuten 97jähri­gen Herrn Klose für nicht geringe Verwirrung. „Der war doch Kommunist! Und Reichspräsident ist er nie gewesen!“ sagte er mir, worauf ich ihm zustimmte. Aber Erik Simon geht in dieser Geschichte der Frage nach, was geschehen wäre, wenn es eine Spaltung der NSDAP (eine unter Hitler, die andere unter Gregor Strasser) im Jahre 1931/32 gegeben hätte. Die sich daraus ergebenden Konfusionen sind… mit Verlaub… faszinierend.

Zwei weitere Geschichten beschäftigen sich mit Stalin, Hitler und der Kernphy­sik („Stalins Trumpf“) beziehungsweise mit der Frage, was hätte geschehen kön­nen, wenn das Wetter Hitlers Blitzkrieg in die Quere gekommen wäre („Der Sturm“).

– Und zu guter Letzt muss es natürlich auch noch Geschichten über die jüngste Vergangenheit geben, über die deutsche Wiedervereinigung. Ein bisschen Ost­algie gefällig? Dann sollte man sich „Herrliche Zeiten“ von Karsten Kruschel aus der DDR auf der Zunge zergehen lassen. Die Geschichte um das „Mansfelder Gold“ ist einfach köstlich und eines SF-Fans würdig. Handelt es sich doch schließlich um den „unautorisierten Mitschnitt einer Rede auf dem EUROCON 1996 in Bitterfeld, nach Liechtenstein geschmuggelt“, worin der Redner über den schlechtesten SF-Roman aller Zeiten herzieht, nämlich ein Werk namens „Die Wende“, in dem die DDR der BRD 1990 beigetreten sei und die Ostdeut­sche Goldmark nicht die weltweite Leitwährung geworden ist. Absurde Vorstel­lung natürlich, nicht wahr…?

– für „Die BayernKrise“ aus der Vereinigte BergRepublik, geschrieben von Iris Monke, braucht man fast schon einen Dolmetscher. Aber kurios ist sie allemal.

Ergebnis dieser Zusammenstellung ist ein bemerkenswerter, den Geist heraus­fordernder Ideenbogen, der uns zeigen sollte, dass das, was man gerne und vorschnell als trockene Geschichte abtut, in Wahrheit ein Feld von interessan­ten Möglichkeiten ist, die es nur zu entdecken gilt. Wer dazu neigt, solche Ge­schichten gering zu schätzen, offenbart vielleicht nur stupides Desinteresse. Wer aber im Gegenteil von diesen Werken fasziniert wird, schärft hierdurch sein Auge auch für die Tatsache, dass sein eigenes Leben, das Leben von jedem von uns jeden Moment eine einzige Kette von Wendepunkten darstellt. Meistens nur für uns und einige wenige. Aber manchmal eben auch für viele, für Natio­nen oder die ganze Welt.

Stellen wir uns vor, Kennedy hätte 1961 in der Kuba-Krise die Nerven verloren. Oder Chruschtschow. Was wäre gewesen, hätte Saddam Hussein tatsächlich über einsatzfähige Nuklearwaffen verfügt (wie der Roman „Die Faust Gottes“ von Frederick Forsyth übrigens spannenderweise unterstellt)? Nehmen wir an, Luther wäre an einer Kinderkrankheit gestorben. Oder wenn Mohammed nicht nach Medina geflohen wäre… die Welt sähe gewiss vollkommen anders aus. All dies und noch viel mehr sind Geschichten, die noch zu schreiben sind.

Parallelweltgeschichten wie diese hier sind Geschichten, die vielleicht wirklich nur von historisch gut gebildeten Menschen hinreichend gewürdigt werden können. Gut. Aber auf der anderen Seite sind solche Geschichten auch der schlagende Beweis dafür, dass sich Geschichte, also das Interesse für die Ver­gangenheit, und Science Fiction, demzufolge für die Zukunft, gut vereinbaren lassen.

Wer Geschichte mag oder das, was daraus hätte entstehen können, der sollte sich mit wachem Verstand und leuchtenden Augen auf diese alternativen Wel­ten einlassen. Sie sind selbst für Nicht-Phantasten äußerst anregend.

© 2000 by Uwe Lammers

Ihr merkt schon… wiewohl diese inzwischen vergriffene Kurzgeschichtensamm­lung schon ziemlich angestaubt wirken mag, wenn man sich allein auf das Er­scheinungsjahr kapriziert, ist das doch sehr weit von der Wahrheit und dem es­sentiellen inneren Wert des Buches entfernt. Faktum ist, dass diese Geschich­ten sich auch schätzungsweise in zwanzig Jahren noch faszinierend lesen lassen – und es gibt, wie oben angedeutet, eine geradezu unüberschaubar große Zahl an möglichen weiteren Ideenkeimen für kontrafaktische Geschichten.

Nächstes Mal reisen wir ins alte Ägypten… oder jedenfalls gewissermaßen. Ich kichere jetzt schon bei dem Gedanken an das vorzustellende Buch. Nächste Wo­che versteht ihr mich besser.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. etwa Rezensions-Blog 2: „Die Gehäuse der Zeit“, 8. April 2015, oder auch Rezensions-Blog 10: „Fleisch und Blut“, 3. Juni 2015.

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