Liebe Freunde des OSM,

vor neun Wochen stellte ich euch im Rahmen dieser Beitragsrei­he „Langzeitprojekte“ ein weiteres Werk aus dem tropischen Ar­chipel vor. Dieses Mal landen wir gewissermaßen am entgegen­gesetzten Spektrumrand, nämlich beim Oki Stanwer Mythos, und idyllisch geht es hier ganz und gar nicht zu. Wem der Titel schon unbehagliche Assoziationen einflößt, der sollte vielleicht nicht weiter lesen, denn es wird noch deutlich unangenehmer … auf der einen Seite.

Auf der anderen Seite erfahrt ihr hier aber auch etwas über die geheimnisvollen GRALSJÄGER, jene nur teilweise biologischen Wesenheiten von jenseits des RANDES, die über Milliarden von Jahren zurückgeschickt werden, um Wissen zu bergen oder noch weit problematischere Missionen zu erfüllen.

Es ist nicht völlig klar, in welchem Universum des OSM diese Geschichte spielt, die ich am 20. September 2003 begonnen habe zu schreiben. Im Laufe der zurückliegenden zwanzig Real­jahre habe ich eine recht genaue Vorstellung davon gewonnen, was ich hier eigentlich niederschreiben soll, aber allzu weit ge­diehen bin ich damit, offen gestanden, noch nicht. Deshalb hat das Fragment auch gerade mal 25 Textseiten.

Schauen wir uns am besten mal die technischen Rahmendaten an, ehe ich in die Handlungsdetails gehe:

Wir befinden uns auf einer Welt namens Alcaarion im Jahre 9065 lokaler Zeitrechnung. Es handelt sich um einen Planeten mit eher mäßiger technologischer Entwicklung, wo schon eine Kut­sche als neumodische Erfindung beargwöhnt wird und eine feu­dalistische Gesellschaft etabliert ist. Sehr stark tabuisiert sind solche Dinge wie Obduktionen, die nach Vorstellung der hiesi­gen Inquisition an die Heiligkeit des Leibes rühren. Was die hart gesottenen kaiserlichen Offiziere dennoch nicht davon abbringt, bei Verbrechen zu derartigen Methoden zu greifen.

Aber dann passiert unglücklicherweise Folgendes:

Junshiir hatte so etwas niemals für möglich gehalten, und dabei dachte er doch als langjähriger Noss-Hüter inzwischen, alle Parasiten zu kennen, die es gab. Aber offensichtlich hielt die Natur immer noch Überraschungen für ihn parat.

In diesem Fall eher unangenehme.

Als sich die rasselnde Horde der Noss über die Weidehügel auf den Hüter zube­wegte und ihn nervös umringte, um eindringlich darauf aufmerksam zu machen, dass es etwas gab, das ihnen Unbehagen bereitete, da konnte der alte Noss-Hü­ter nicht wissen, dass er noch exakt dreieinhalb Minuten zu leben hatte.

Durch das dunkle Borstenfell der Riesenwürmer glitzerten undeutliche, aber unübersehbare rötliche Punkte, zweifellos ein Parasitenbefall. Und sie schienen den Tieren durchweg Schmerzen zuzufügen.

Der greise Junshiir verfluchte die Tatsache, dass er so schlecht sehen konnte. Und dass es schon so spät am Tage war. Bei Tageslicht war es natürlich recht leicht, die peinigenden Parasiten aus dem Borstenfell herauszuklauben, aber bei den Lichtverhältnissen jetzt in der hereinbrechenden Dämmerung fürchtete er, seine Tiere zu verletzen, wenn er durch ihr Fell krallte. Es war nicht anzunehmen, dass sie das verstehen würden. Noss waren genügsame, nicht sonderlich kluge Wesen. Deshalb ließen sie sich ja auch so bereitwillig hüten und waren letztlich brav zu nennendes Schlachtvieh.

Junshiir wünschte sich, der junge Vaashed wäre jetzt hier gewesen, aber er hatte sich schon vor einer guten Stunde verabschiedet, um sein Mädchen aufzu­suchen. Und das hatte natürlich Vorrang, das musste man einfach verstehen. Mädchen waren so wankelmütig darin, wenn sie ihre Gunst verschenkten, um ihre Herzen musste man sich wieder und immer wieder bemühen. Vaashed war jung, und Junshiir konnte den Jungen gut verstehen. Schmiede das Eisen, solange es heiß ist, pflegte auch sein Vater einst zu sagen.

Dennoch … also, dennoch wäre es wirklich schön gewesen, Vaashed jetzt bei sich zu haben. Seine Augen waren unglaublich scharf, so wie Junshiirs eigene in der Jugend geblickt hatten. Ach, lange war das her, so lange …

„Ho, schön ruhig, hoohoo … ist ja schon gut, Wunsh, ist ja schon in Ordnung“, beschwichtigte er das heftig knarrende Leittier, das offensichtlich ernste Qualen litt und sich wild an seinen vier stämmigen Beinen rieb. „Nicht so eifrig. Komm hier ins Licht, da kann ich besser sehen, was dich plagt … na komm schon.“

Der Hirte aus dem Volk der Alwesser betrat die staubige Lichtung mit ihrem Kreis aus Feuersteinen im Zentrum, wo das muntere kleine Feuer knisterte, das ihn nächtens auf der windgepeitschten Hochgebirgsheide wärmte. Doch diesmal kam er nicht mehr dazu, sich darüber zu freuen, dass ihm wärmer wurde.

Die Laute seiner Noss gingen in ein qualvolles Knarzen über, manche von ih­nen krampften sich zusammen, als litten sie regelrecht unter epileptischen Anfäl­len, andere sprangen ganz unnatürlich und gleichsam zwanghaft in die Lüfte, als versuchten sie auf diese Weise, ihre Peiniger abzuschütteln.

Und auf ihren Rücken glühte etwas!

„Beim Heiligen Stanwer …“, entfuhr es Junshiir ungläubig. So etwas hatte er noch niemals gesehen.

Acht der Noss drehten sich auf gespenstische Weise synchron zu ihm. Die glü­henden Flecken in ihrem Borstenfell strahlten heller, und der schreckliche Ge­stank nach versengten Schuppenpanzern und schwelenden Haaren hing in der Luft. Die Tiere gaben gequälte Töne von sich.

Junshiir stand stocksteif da und bekam kein Wort mehr heraus. Was er hier er­lebte, das war einfach … nun … vollkommen ausgeschlossen. Das war … also, das war … ihm blieben die Worte im Halse stecken.

Er sah, wie sich etwas auf den Rücken seiner treuen Gefährten bildete, die sich völlig untypisch für Noss-Würmer benahmen. Etwas, das sich vergrößerte, an­schwoll und dann sogar so etwas wie Augen annahm …

Junshiir wollte gerade aufschreien, doch in dem Moment traf ihn buchstäblich der Blitz.

Und dann war er tot.

Alcaarion hat, vorsichtig gesprochen, ein Problem. Es ist erstens nicht von dieser Welt, zweitens ist es letzten Endes eine globale Katastrophe … und drittens hat die Person, die hier nun in Er­scheinung tritt und sich einmischt, schon die Zukunft gesehen und ist nun bemüht, daran etwas fundamental zu ändern.

Und das ist nicht so simpel, wie es auf den ersten Blick scheint, denn der Späher aus der Zukunft, der sich als Forensiker aus­gibt und prompt mit den Behörden aneinander gerät, ist alles andere als normal, und leben in dem Sinne, wie die Bewohner von Alcaarion sich das üblicherweise vorstellen, das tut er ei­gentlich auch nicht. Ganz zu schweigen von seinen eigenwilli­gen Fähigkeiten, die er gern verbirgt.

Aber ein paar Schritte gingen wir dann doch gemeinsam – bis zum Eingang des vierstöckigen Fachwerkbaues am Postplatz nämlich, der die Gastwirtschaft barg. Zweifellos ein altehrwürdiger Familienbetrieb.

Eher beiläufig nahmen meine Fotorezeptoren in winzigen Augenblicken alle De­tails des zweihundertvier Jahre alten Holzfrieses auf, analysierten dabei die Blatt­goldüberzüge und glichen die spektrale Zusammensetzung des Blattgoldes ganz automatisch mit allen bekannten Goldvorkommen des Planeten ab, um dann ge­schwind zu dem Schluss zu kommen, dass der Erbauer des Hauses und der Deko­rateur sehr wohlhabend gewesen sein mussten: es wurde nämlich ausschließlich Gold aus den seit fast hundertzehn Planetarjahre aufgegebenen Minen der Ve­stran-Inselgruppe verwendet, die mehr als tausend Reisekilometer entfernt war. Vielleicht war der Erbauer ja Söldner in der Westarmee gewesen, die vor 198 Jah­ren auf die Vestran-Inseln eingefallen war und sie geplündert hatte …

Unwichtige Information.

All diese komplexen Datenscans dauerten nur Sekundenbruchteile. Eine Ewig­keit für meine Erfassungssysteme.

Leider war die Einschätzung meines Analysezentrums in Kern völlig korrekt.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit von den Ornamenten ab und wieder der Si­tuation zu. Das war in jederlei Hinsicht konstruktiver. Diese Welt bot unendlich viele Ablenkungsmöglichkeiten. Und, das fand ich sehr viel bestürzender, fast al­les davon war vergessen. Manchmal musste ich meine Emotions-Kontrollstellen auf höhere Stufe schalten, um nicht zu unsachlich und schroff auf die Umgebung zu reagieren.

Das wäre zu gefährlich gewesen, nicht nur für mich.

Indes blieb ich mir stets der Tatsache bewusst, dass diese Welt unendlich reich an Detailwissen war, das, wenn die Spur erhalten blieb, alsbald für immer ver­nichtet sein würde. Ich war hier, um wenigstens Schadensbegrenzung zu betrei­ben. Und wo es halt möglich war, sammelten meine Sensoren Informationen und speicherten sie für später.

Dabei behielt ich die Mission immer im Blick.

Es ging ja auch um diese arglosen Planetenbewohner, die allesamt in tödlicher Gefahr schwebten und davon keinen blassen Schimmer besaßen. Sie waren schlichte Gemüter, ein wenig wie Kinder, so kam es mir mitunter vor. Das galt selbst für ihre Regierungsoberhäupter. Selbstverständlich sprach ich davon auch zu niemandem. Man hätte es mir wenigstens als Arroganz ausgelegt oder mich zum Duell gefordert … beides konnte ich mir nicht leisten.

Und aus solchen Gründen hatten die politisch Verantwortlichen so überhaupt keine Vorstellung davon, in was für zutiefst paradiesischen Verhältnissen sie in ih­rer arglosen Ahnungslosigkeit existierten. Wie gut es ihnen – bei all ihrer Armut und all den Entbehrungen, die sie für existenziell hielten – doch letztlich ging.

Ich wusste es und durfte nichts sagen.

Manchmal empfand ich das als sehr belastend.

„Sicherlich ist es eine hinreißende Dame, die Ihr nicht warten lassen mögt, ver­ehrter Freund“, mutmaßte die attraktive Allifrau mit einem warmen, verständnis­vollen Zischen in der Stimme, ganz im Pheromonrausch und völlig auf Sex einge­stellt. Ihre geschlitzten, schwefelgelben Augen mit den funkelnden goldenen Ein­sprengseln musterten mich unverhohlen neugierig-taxierend.

Ich fühlte deutlich ihre brennende Neugierde, denn über das Geschlechtsleben von Schlichtern war wenig bekannt. Wer uns kannte, hätte gewusst, warum. Aber niemand kannte uns, und wir sorgten dafür, dass das auch so blieb. Es war zum Besten für die gesamte planetare Bevölkerung.

Und entschied in diesem Moment, das Klima brüsk etwas abzukühlen, um die notwendige Trennung von meinen Reisegefährten herbeizuführen. Die Reise war im Endeffekt Vergnügen und Müßiggang gewesen, jetzt begann bald der Ernst der Arbeit.

„Ich bedaure, Eure Hoffnung enttäuschen zu müssen“, sagte ich bedächtig und wählte die Worte gemächlich und gezielt, „aber um genau zu sein … ich bin leider verabredet mit dem Lordkriminalinspektor Karnash von den Kaiserlichen. Ich bin Spurensucher von Beruf, und die, um die ich mich zu kümmern habe, sind schon eine Weile kalt.“

Das verschlug ihnen beinahe den Appetit.

Wie gesagt … der Tod und alles, was mit ihm zusammenhängt, ist hier stark rituell tabuisiert, und wer gegen diese Gebote ver­stößt, gerät sehr leicht in Gefahr.

Indem sich der Besucher als Schlichter Ghusch ausgibt und mit dem Lordkriminalinspektor eine übel zugerichtete Leiche unter­sucht, muss er mit seinen sehr speziellen Fähigkeiten schnell beunruhigt entdecken, dass er augenscheinlich zu spät gekom­men ist: Der Feind ist bereits irgendwo im Hochland des Plane­ten gelandet und hat mit seinen unklaren Plänen begonnen.

Die Parasiten, um die es sich handelt, sind zeitreisende Mikro­maschinen aus der fernen Zukunft, so genannte Kybernoiden … und die grausigen Bilder, die „Ghusch“ von Alcaarion in zukünf­tigen Archiven gesehen hat, zeigten eine schwarzmetallische, brodelnde Kruste, die den gesamten Planeten bedeckte … eher eine Art von maschinell-vulkanischer Globalmetastase, die alles Leben ausgelöscht hatte. Das scheint die unausweichliche Zu­kunft zu sein, und niemand in den Archiven hatte eine Ahnung, wie es dazu gekommen war.

Er ist hier, um das nach Möglichkeit zu verhindern. Aber er wird entdecken müssen, dass sein Briefing notwendig unvollständig war. Und eine Distanz von mehreren Milliarden Handlungsjahren zu diesem Ort hat eine Informationsverwässerung mit sich ge­bracht, mit der er nicht rechnen konnte.

Womit er aber erst recht nicht rechnet, ist das, was geschieht, als er sich dann tatsächlich auf den Weg zur Gefahr macht – die ach so rückständigen reptiloiden Allis, die so sehr in die Primiti­vität zurückgefallen sind, dass die höchste Bewaffnung in schar­fen Rapieren und Schießpulverwaffen besteht, erweisen sich als … ja, wie sagt man das am besten? Als störrisch. Uneinsichtig. Sie werden von seltsamen, archaischen Vorstellungen und ziem­lich schlichten Instinkten gelenkt, und für „Ghusch“ sind sie alle schon seit einer Ewigkeit tot und vergessen.

Dummerweise sind sie hier höchst lebendig, höchst irrational und unglaublich stur. Und weil das so ist, beginnt seine Mission immer schneller zu entgleisen …

Ach, ich sage euch, ich wünschte wirklich, ich wäre in den zu­rückliegenden zwanzig Jahren schon weiter vorangekommen mit dem Schreiben dieses Langzeitprojekts. Dummerweise weiß ich immer noch zu wenig über die an vielen Stellen des OSM auftauchenden Kybernoiden und wie ihr Zusammenhang mit dem Baumeister-EXIL HANKSTEYN und den AUTARCHEN sich ge­staltet. Das verzögert die Realisierung dieser Geschichte mas­siv, in der ich schon ein paar faszinierende Szenenblenden ent­deckt habe.

Aber die Grundidee an sich ist zu spannend, um sie aufzugeben, und so feile ich also auch in Zukunft zunehmend intensiver an dieser Geschichte weiter. Ich werde euch da weiter auf dem Laufenden halten.

In der kommenden Woche führe ich euch wieder in die Gegen­wart zurück zum Plan der Realisierung eines Autoren-Nach­lassarchivs, Teil 4.

Immer schön neugierig bleiben, Freunde!

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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