Rezensions-Blog 140: Harry Potter und der Stein der Weisen (1)

Posted November 29th, 2017 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

es gibt Bücher und Rezensionen, deren Neulektüre mir immer wieder ein Schmunzeln aufs Gesicht zaubert. Die unten wiedergegebene Rezension, die auch schon ein Dutzend Jahre (!) auf dem Buckel hat, gehört dazu. Ich mag kaum glauben, wie lange das schon her ist, dass ich Harrys Abenteuern gefolgt bin… was natürlich zweifellos daran liegt, dass ich die Verfilmungen z. T. deut­lich später ansah. Das verzerrt dann die Zeitwahrnehmung. Einen analogen Ef­fekt nehme ich derzeit gerade wahr im Fall Diana Gabaldon und der Verfilmung ihrer Romane in Form der „Outlander“-Serie.

Zu Harry Potter und seiner Welt gibt es inzwischen zweifelsohne ganze Regale voll Literatur, und nach wie vor ist der Hype um den Zauberlehrling, seine Freunde und die Zaubererschule von Hogwarts, um das bizarre Spiel Quidditch, das man mit fliegenden Bällen und auf Hexenbesen reitend spielt, nicht abge­ebbt… das liegt natürlich auch daran, dass Rowling, die meines Wissens inzwi­schen wenigstens eine Milliarde Dollar schwer ist, mit neuen Abenteuern in die­se Welt zurückgekehrt ist.

Soweit ich es gehört habe, soll „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ der Auftakt eines Film-Fünfteilers sein, der uns dann zweifellos bis ins Jahr 2024 in Atem halten wird, wenn nicht noch länger. Wer aber wissen möchte – und dies aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen oder absurden Vorurteilen heraus bislang nicht geschafft hat – , wie das alles anfing, nämlich mit einer Ge­schichte, die die Autorin in spe abends ihren Kindern am Bett erzählte, der soll­te dieses Buch zur Hand nehmen und einfach mal anfangen zu lesen.

Es war einmal, könnte man sagen, ein kleiner Waisenjunge, der auf der Stirn eine blitzförmige Narbe besaß… und alles andere ist Geschichte. Sie beginnt ge­nau hier:

Harry Potter und der Stein der Weisen

(OT: Harry Potter and the Philosopher’s Stone)

von Joanne K. Rowling

Carlsen-Verlag, 1998

336 Seiten, TB

Übersetzt von Klaus Fritz

Ach, wenn doch die Muggel nur wüssten…

Aber die Muggel wissen natürlich nicht, und die Zauberer, insbesondere jene von der Zauberschule Hogwarts, kümmern sich gut darum, dass es so bleibt: dass also die Muggel nicht davon erfahren, dass es sie und Dinge gibt, die sie um die Seelenruhe bringen könnten. Geister etwa. Zauberei. Hexen. Alles, was in drittklassigen Boulevardblättern breitgetreten, worüber gekichert wird, wor­über man sich lustig macht.

Und dann gibt es jene Muggel… ach ja, Muggel ist der Ausdruck der magisch Begabten für die Menschen, das sollte vielleicht noch erwähnt werden, um das immerwährende Stirnrunzeln des Lesers zu glätten…, jene Muggel also, die zwar davon WISSEN, aber nichts wissen WOLLEN. Weil solche Zauberer zu ihrer eigenen Familie gehören.

Solch eine Familie wohnt unter dem Schild „Dursley“ im Ligusterweg 4. Mr. und Mrs. Dursley mit ihrem kleinen Sohn Dudley sind ausgesprochen spießige Zeit­genossen, die von abnormen Leuten wie beispielsweise Zauberern und Hexen gar nichts wissen wollen – unter anderem, weil Lily, die Schwester von Mrs. Dursley, eine Hexe ist. Oder war, muss man sagen – denn eines Morgens entde­cken die Dursleys auf ihrer Türschwelle einen Korb mit einem kleinen Jungen, der sich als Lilys Kind entpuppt, der Neffe Harry Potter. Auf eine Weise, von der Harry erst viele Jahre später die wahre Version erfahren wird, Vollwaise gewor­den, ist er nun der Willkür der Dursleys ausgesetzt, die ihn in einem Schrank un­ter der Treppe hausen und jede nur denkbare Abneigung spüren lassen. Am liebsten wäre es den Dursleys, wenn es Harry überhaupt nicht gäbe, aber leider ist er nun einmal da. Also muss man sich auch um ihn kümmern.

In Harrys Gegenwart geschehen mitunter… nun, seltsame Dinge. Und der krö­nende Höhepunkt ist erreicht, als er am 11. Geburtstag bei seinem ersten Aus­flug in den Zoo die Glaswand eines Geheges, in dem eine Boa constrictor gefan­gengehalten wird, spurlos verschwinden lässt (ohne zu wissen, wie). Unmittel­bar darauf werden die Dursleys von identischen Briefen überflutet, die alle an Harry gerichtet sind. Trotz vehementer, fast hysterischer Versuche, der Briefflut auszuweichen, erreicht Harry die Nachricht schließlich doch: die Einladung, zu Beginn des neuen Schuljahres die Zaubererschule Hogwarts zu besuchen.

Denn Harry ist ein Zauberer, und an der Seite des hünenhaften Wildhüters Hagrid beginnt für ihn ein neuer, abenteuerlicher und lebensgefährlicher Ab­schnitt seines Lebens.

Binnen kürzester Zeit entdeckt er gewissermaßen den „doppelten Boden“ der Wirklichkeit. Die Winkelgasse beispielsweise, oder die Koboldbank Gringotts, wo für ihn ein großes elterliches Vermögen aufbewahrt wird… und etwas, das Hagrid aus einer sicheren Geheimkammer mit nach Hogwarts bringt.

Harry sitzt bald darauf im Hogwarts-Express, der von Gleis neundreiviertel im Bahnhof King’s Cross abgeht. Und hier macht er schicksalhafte Begegnungen: er trifft auf den tolpatschigen Neville Longbottom, den rotschopfigen, todunglück­lichen Ronald Weasley, der bald zu seinem besten Freund wird, und er macht die Bekanntschaft mit einer unangenehmen Streberin namens Hermine Gran­ger, die vielleicht deshalb so unleidlich ist, weil sie… nun… ein Muggel ist, der zufälligerweise zaubern kann. Alle anderen sind mehr oder weniger ausschließ­lich Zaubererkinder, wenn auch nicht in der wenig beneidenswerten Lage, unter ignoranten Muggeln aufwachsen zu müssen – wie es Harrys Schicksal ist.

Und Harry muss noch etwas anderes entdecken: er ist nämlich eine Berühmt­heit, und dank einer blitzförmigen Narbe an seiner Stirn ist er sofort als derjeni­ge zu erkennen, der er ist, Harry Potter. Denn James und Lily Potters Schicksal rund zehn Jahre zuvor hat Hogwarts und die Zauberwelt insgesamt vor einer unheimlichen Gefahr bewahrt. Damals beherrschte der finstere und rücksichts­lose Lord Voldemort Hogwarts, Angst und Schrecken regierten, und wer Volde­mort in die Quere kam, starb eines grausamen Todes.

Die letzte Schreckenstat Voldemorts war der Angriff auf Harrys Eltern – und auf ihn selbst. Doch während seine Eltern starben, blieb Harry weitgehend un­verletzt… und Voldemort verschwand spurlos.

Manche glauben, er sei tot, doch die Handlung des Romans wird bezeugen, dass er alles andere als das ist. Er ist noch immer „irgendwo da draußen“ und wartet auf eine Gelegenheit, zurückzukehren. Er hat noch immer Anhänger, und als Hagrid das kostbar behütete Geheimnis aus der Tresorkammer von Grin­gotts mit zur Zaubererschule Hogwarts bringt, kommt die Zeit, da sich Volde­mort anschickt, zurückzukehren und sein Ziel endgültig zu erreichen: die Macht zu erlangen und Harry Potter zu vernichten…

Man mag über Harry Potter und den damit verbundenen wahnsinnigen Medien- und Merchandising-Rummel denken, was man möchte, in jedem Fall lohnt es sich einmal, einen Blick hineinzuwerfen. Und wenn man dann, wie in meinem Fall, das Buch innerhalb von nicht einmal drei Tagen ausgelesen hat, ausgiebig kichern konnte und die Figuren ins Herz geschlossen hat, dann ist ei­gentlich nur noch zu konstatieren: Rowling hat solide Arbeit geleistet und ein Buch verfasst, das man gerne liest, und dabei ist es relativ unabhängig, welches Alter man besitzt.

Gewiss gibt es ignorante Muggel wie meinen Arbeitskollegen Marcus, der die Nase über meine Lektüre rümpfte und auf die Frage hin, ob er das Buch denn kenne, ignorant antwortete: „Aus dem Alter bin ich ja wohl raus“ beziehungs­weise „Man kann nicht alles lesen“, aber das ist dann eine reichlich phantasielo­se und vorurteilsgetrübte Aussage. Nun, soll ihm der Spaß entgehen, den man mit diesem Roman hat. Wenn man selbst klüger ist…

Das Werk hat, bei allen Vorteilen hinsichtlich der Lesbarkeit und ausgesproche­nen Kurzweiligkeit, natürlich einige Nachteile. Der erste ist die sehr akzentuierte Darstellung der Charaktere, die anfangs sehr den Eindruck macht, als sollten Kli­schees bestätigt werden. Im Verlauf des Buches merkt man dann indes, dass durchaus nicht alles so ist, wie es scheint, und selbst für aufmerksame Leser ge­lingt es Rowling (fast), ganz zum Schluss eine überraschende Wendung einzu­bauen. Fast, sage ich, weil ich die Wendung eine Seite vorher ahnte. Natürlich ist diese klare Charaktereinstufung für Kinder gedacht, damit sie sich die Perso­nen besser merken können. Für ältere Leser wirkt das gelegentlich ein wenig aufdringlich.

Der zweite Nachteil ist verbunden mit der Kürze des Stoffes. Man lernt die Leu­te kennen, ja, aber leider ist das Lesevergnügen sehr schnell vorbei, so dass das Gefühl zurückbleibt, es handele sich um eine Form von Einleitung. Das ist zwei­fellos der Fall. Schon in diesem Roman sieht man deutlich den Entwicklungscha­rakter der Handlung, und man darf sehr gespannt sein, wie die „nächste Runde“ der Geschichte sein wird, an der ich schon lese (Vergnügen ist pro­grammiert!). In dieser Hinsicht muss ich meiner Brieffreundin Angelika Walter Recht geben, wenn sie Rowling fast in eine Reihe mit den Werken von Diana Ga­baldon rückt. Wobei auch ich Gabaldon von der Tiefe und der Lebensechtheit der Charaktere deutlich den Vorzug geben würde. Aber Gabaldon schreibt ja auch keine Kinderbücher.

Und Rowling hatte Harry für Höheres vorgesehen, was dann auch gleich einer self-fulfilling prophecy tatsächlich eintrat. Nachzulesen auf Seite 19 des Buches, noch vor Harrys Auftauchen: „…es würde mich nicht wundern, wenn der heuti­ge Tag in Zukunft Harry-Potter-Tag heißt – ganze Bücher wird man über Harry schreiben – jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen!“ Nun, was bleibt dem hinzuzufügen? So ist es gekommen.

Vielleicht ist nur das eine noch zu ergänzen zu dem Kritikpunkt, es sei ein Kin­derbuch – in demselben „Kinderbuch“ findet sich weit hinten folgendes weitere Zitat, was man jedem Menschen, ungeachtet des Alters, ins Stammbuch schrei­ben könnte: „Schließlich ist der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer.“

Immer noch der Meinung, dies sei nur ein Buch für Kinder?

Bleibt dabei. Und lasst die Leute, die klüger sind als ihr, Harry Potter lesen. Es lohnt sich.

© 2005 by Uwe Lammers

Wie schon erwähnt – verlasst euch nicht darauf, dass vermeintlich gut in­formierte Zeitgenossen der Auffassung sind, etwas sei nichts für sie. Es ist so einfach, in den Sumpf der dumpfen Vorurteile abzutauchen und sich auf diese Weise um ein möglicherweise sehr interessantes Leseabenteuer zu bringen, um nicht zu sagen, um ein Lesevergnügen, dass man das solchen Mitmenschen nicht überlassen sollte. Bildet euch besser selbst eine Meinung.

Jüngst habe ich derlei Vorurteilsbildung angesichts von E. R. James´ „Shades of Grey“ erlebt… und nein, ich gebe hier nicht wieder, was für abstruse Bemerkun­gen da kursierten. Aber ich gebe zu Protokoll, dass diese Vorurteile dann auf Ausschnitten aus dem ersten Film fußten, eine Kenntnis der Romane selbst exis­tierte nicht. Und bitte, wenn das dann keine verzerrte Wahrnehmung ist – jeder von uns weiß, dass eine Romanverfilmung üblicherweise sehr autonom von der Buchfassung steht, und das gilt nicht erst seit dem „Hobbit“, nicht wahr? – , dann habe ich noch keine zu Gesicht bekommen. Auch im Fall Harry Potter gibt es ohne Frage solche Klischeebildung.

Wie gesagt: bildet euch selbst eine Meinung.

In der kommenden Woche kommen wir zu einem ganz anderen Thema. Es geht ab in den Orient, den heißblütigen, zu einem ungewöhnlich gestalteten Ro­manabenteuer, wie selbst ich es selten gesehen habe.

Neugierig geworden? Dann schaut nächste Woche wieder rein!

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

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