Rezensions-Blog 145: Jagd nach dem Golde

Posted Januar 3rd, 2018 by Uwe Lammers

Liebe Freunde des OSM,

immer wieder in den vergangenen rund zwanzig Realjahren habe ich das Ver­gnügen gehabt, in historischen, großzügig bebilderten Jugendbüchern faszinie­rende, kurzweilige und gelegentlich sehr amüsante Lektüre zu haben. Beispiele dafür habe ich in meinem Rezensions-Blog schon seit langem immer wieder mal eingestreut. Sei es, dass es mich in die griechische Antike verschlug1, dass ich eine Stippvisite im Reich der Azteken einlegte2 oder die alten Ägypter aufsuch­te3.

Und nun wird der Spieß ein wenig umgedreht – ich besuche mit dem vorliegen­den Buch, das ich euch heute ans Herz legen möchte, nicht eine bestimmte Epoche, sondern vollführe, orientiert an einem magischen Metall, dem Gold, eine tour de force durch Raum und Zeit. Lasst euch versichern: das lohnt sich. Wer es nicht glauben mag, der lese bitte weiter und lasse sich verführen…

Jagd nach dem Gold

(OT: Gold – a treasure hunt through time)

von Meredith Hooper (Text) und Stephen Biesty (Illustrationen)

Gerstenberg-Verlag, Hildesheim 2002, 52 Seiten, geb.

ISBN 3-8067-4966-3

Aus dem Englischen von Cornelia Panzacchi

Wie oft haben wir uns das gewünscht – ein einziges Mal nur den Weg eines Ge­genstandes durch die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verfolgen zu können, zumal eines solchen Objektes, das ständig sein Äußeres wandelt und wie ein In­sekt in immer neuen Verpuppungen und Häutungen erscheint? Üblicherweise ist das nicht möglich, sei es, weil Menschenleben einfach zu kurz dafür sind, sei es, weil die Überlieferungslage dürftig ist oder Dinge einfach nicht mehr wiederzuerkennen sind und man ihre Pfade nur noch über wackelige Mutmaßungen erschließen kann.

Diesmal können wir es. Wenn wir dieses Buch lesen.

Das Universum, vor rund fünf Milliarden Jahren – in den Tiefen des Raumes ex­plodiert ein Stern und schleudert die schweren Elemente seines Herzens in den kosmischen Raum hinaus. Sie vermischen sich mit den Stoffen einer Staubwol­ke, die zum Geburtsort eines neuen Sonnensystems wird – unseres eigenen. Das molekulare Zeichen jenes Elements, dessen Weg wir verfolgen, ist „Au“, der Kürzel für Aurum – Gold.

Sternengold, eine mystische Substanz, die schon seit alters her von Königen als göttlicher Stoff in Dienst genommen wird. Das Gold, dessen Pfad wir folgen, wird etwa im 15. Jahrhundert vor Christus in der nubischen Wüste von pharao­nischen Arbeitern gewonnen und bald darauf zum Bestandteil einer Totenmas­ke.

Der Herrscher stirbt etwa um 1438 vor Christus, und nun dringen bald danach Grabräuber in die Gruft ein und rauben die Goldmaske, den Ausgangspunkt der dramatischen Jagd durch die Jahrhunderte. Denn die Maske erleidet das typi­sche Schicksal so vieler Schätze: sie wird eingeschmolzen und zu einem kostba­ren Lotoskelch geformt, der – Ironie des Schicksals! – in einem ägyptischen Tempel jahrhundertelang seine Dienste versieht.

Von dort aus geht der Kelch aus Gold in die Hände der Römer über, sieht Rom, dann wandert er im Jahre 86 nach Christus nach Dakien (heute Rumänien), der Kelch wird erbeutet und landet während weiterer Kriegszügen unter Karl dem Großen schließlich in einem Wald, als er bei einem Transport unter Laub gerät. Hier wird er vergessen, und das dämmrige Tuch der Geschichte deckt ihn zu wie die Erde. Ein Wald wächst über seinem Versteck.

Erst im Jahre 1465 kommt der größte Teil des Kelches auf einem Acker nahe dem Rhein wieder zum Vorschein. Da er alt, zerbeult und unvollständig ist (der Fuß ist abgebrochen und ruht weiterhin in der Erde), wird er zu einem Schmuckkästchen und einem Ring umgeschmolzen. Ein Teil des Goldes wird zu Blattgold und ziert um 1480 ein Stundenbuch.

Weitere Stationen des transformierten und sich immer weiter verändernden Goldes sind England unter Königin Elisabeth I., eine Geldfälscherwerkstatt in London, ein Korsarenschiff im Jahre 1586, Oxford, das vorrevolutionäre Paris, Australien und schließlich New York.

In welcher Gestalt das Gold dort ankommt? Nein, das soll nicht verraten wer­den, nur soviel: die Zeit ist die Gegenwart, das frühe 21. Jahrhundert.

In leicht verständlichen Texten, sehr sachverständig illustrierten, großformati­gen Seiten und einer sehr detailverliebten Darstellung der Epochen wird der ju­gendliche Leser dieses Kinder- und Jugendbuches an zahlreiche verschiedene Zeitalter der Menschheitsgeschichte herangeführt. Während er dem sich stän­dig wandelnden glimmenden Metall folgt, das mal roher Klumpen, mal Toten­maske, Kelch, Ring, Uhr, Westenknopf usw. ist, begreift der Leser, dass Ge­schichte ein komplexes Kontinuum ist und zahllose kleine Fäden hier zu­sammengeflochten sind. Von dieser Seite her muss das Buch als didaktisch aus­gesprochen gelungen bezeichnet werden. Niedlich ist zudem die Zusammen­schau zum Schluss, bei der noch einmal gezeigt wird, wo die einzelnen Stücke des weit verstreuten Goldes sich in der Handlungsgegenwart befinden. Man­ches davon ist, wie es im realen Leben auch wäre, sogar noch zu entdecken…

Noch interessanter sind zwei Anhänge des Werkes. In dem einen wird auf weni­gen Seiten der ganze Gang der Handlung noch einmal, illustriert, resümiert und ausdrücklich darauf verwiesen: „Diese Geschichte beruht zum großen Teil auf geschichtlichen Ereignissen und spielt an historischen Orten. Einige Personen sind erfunden, andere haben gelebt. Doch alles könnte sich genau so zugetra­gen haben.“

Die historische Akkuratesse zeugt von enormem Sachverstand und Liebe zur ge­schichtlichen Treue. Während viele historische Kinder- und Jugendbücher eher auf plakativer, banaler Darstellungsweise beruhen oder sich in Anekdoten und simplem Imitieren von Geschichte verlieren, ist hier Präzision höchster An­spruch. Sehr gelungen sind auch die Feststellungen zu den einzelnen Schritten der „historischen Metamorphose“ des Goldes. Zwei Beispiele dafür. Zum römi­schen Heerführer Cornelius Fuscus, der Besitzer des Kelches wird, heißt es etwa: „Cornelius Fuscus führte 86 n. Chr. Eine Armee von ungefähr 15.000 Sol­daten über die Donau nach Dakien (im heutigen Rumänien) und fiel in der Schlacht.“ Genau wie im Buch.

Zum Ring, der aus einem Teil des Goldes gegossen wird, wird erklärt: „Ringe, die so ähnlich aussehen wie die von Rosamunde, werden in Museen wie dem Victoria & Albert Museum in London ausgestellt…“ Auch hier: historische Detail­treue nach existenten Vorbildern ist die Intention. Da kann man nur den Hut ziehen.

Für Leser, die vielleicht etwas jünger sind als intendiert, wird sogar noch ein kurzes Glossar angefügt. Ich gestehe zwar, dass ich mir, als ich im Alter der Ziel­gruppe war – ca. 9 Jahre – Worte wie „einbalsamieren“ oder „entweihen“ nicht mehr erklären lassen musste, aber bekanntlich war ich ja auch als Leser recht frühreif und konnte lesen, bevor ich in die Schule kam (wobei ich mich mehr­heitlich an Dinosaurierbüchern und Werke über das alte Ägypten hielt, und zwar nicht nur an Kinderbücher – es sei denn, man möchte C. W. Cerams Klassi­ker „Götter, Gräber und Gelehrte“ dazu zählen, was doch schwerfällt).

Sieht man also einmal von dem etwas reißerischen Titel der deutschen Ausgabe ab, so hat man hier ein didaktisch und grafisch hervorragend gemachtes Werk vor sich, das man jedem geschichtsinteressierten Kind und dessen Eltern wärmstens empfehlen kann.

© 2007 by Uwe Lammers

Ich sagte ja, das ist eine interessante Lektüre – da habe ich wohl nicht zu viel versprochen. Auch in der kommenden Woche bleiben wir in der Vergangen­heit… allerdings offenkundig nicht in der Vergangenheit unserer Welt, auch wenn wir die 221b Baker Street besuchen werden. Sherlock Holmes ermittelt diesmal in unheimlichen Zeiten und gegen mysteriöse Kreaturen. Näheres er­fahrt ihr am kommenden Mittwoch an dieser Stelle.

Bis dann, mit

Oki Stanwers Gruß,

euer Uwe.

 

1 Vgl. dazu „Die griechische Zeitung“ im Rezensions-Blog 12 vom 17. Juni 2015.

2 Vgl. dazu „Die aztekische Zeitung“ im Rezensions-Blog 62 vom 1. Juni 2016.

3 Vgl. dazu „Die ägyptische Zeitung“ im Rezensions-Blog 112 vom 17. Mai 2017.

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